Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
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Während der Predigt von Bruder Eberhart geschehen einige seltsame Dinge. Vor allem aber kommt der Abt selbst Theo seltsam bekannt vor.
Freitag, 25. März 1485, abends
Bruder Eberhart kommt mir irgendwie bekannt vor. Wenn ich bloß wüsste, warum!
Ich habe das deutliche Gefühl, ihm schon einmal irgendwo begegnet zu sein. Natürlich kann dieser Eindruck, der von einer mir völlig unerklärlichen Empfindung von Peinlichkeit begleitet wird, nur auf einer Verwechslung beruhen. Dennoch werde ich dieses seltsame Vertrautheitsgefühl einfach nicht los.
Hängt etwa irgendwo im Kloster ein Gemälde des Priors? Aber nein, das wäre mir aufgefallen. Oder habe ich vielleicht von ihm geträumt, nachdem Albertus ihn mir beschrieben hat? Nein, das kann auch nicht sein – die Beschreibung war viel zu ungenau!
Wahrscheinlich erinnert er mich an irgendeinen anderen Mönch, den ich irgendwann mal gesehen habe. Schließlich waren bei der Dunkelheit in der Kirche die Gesichter ja auch kaum zu erkennen. Da kann es leicht zu Verwechslungen kommen.
Außerdem war das Geschehen während der Predigt, die Bruder Eberhart auf der Kanzel hielt, für mich auch so fremd, dass ich mich kaum auf den Redner konzentrieren konnte. Wie hätte ich auch ahnen können, dass es hier neben dem Straßenstrich auch eine Art Kirchenstrich gibt! So jedenfalls deute ich das, was sich gegen Ende der Predigt ereignet hat.
Während Bruder Eberhart noch mitten in seiner Predigt war, ging eine Frau an dem Altar vorbei, die mit einem breiten gelben Band geschmückt war. Als sie etwa in der Mitte des Altars angelangt war, verlangsamte sie ihren Schritt und blickte kokett in Richtung der Holzbänke, wo sie sich der Aufmerksamkeit von uns Mönchen und der anderen Männer sicher sein konnte. Dann begab sie sich mit aufreizendem Hüftschwung zu einer in der Nähe der Kanzel stehenden Säule. Den Blick unverwandt auf die Holzbänke gerichtet, verweilte sie dort mit unter den Brüsten verschränkten Armen.
Genau in dem Augenblick gesellte sich Albertus zu mir, der seine Andacht an dem Privataltar seiner Familie mittlerweile beendet hatte. Interessiert sah er zu der freizügigen Dame herüber. Als ihre Blicke sich trafen, zwinkerte er ihr unternehmungslustig zu.
„Was für ein wackeres Weibsbild!“ flüsterte er mir ins Ohr. „Der würde ich gerne mal die Beichte abnehmen.“
Ich lächelte verlegen, sagte aber nichts. Auf keinen Fall wollte ich das Wohlwollen des Priors verspielen!
Als Bruder Eberhart den Segen erteilt hatte und sich die Besucher der Messe zerstreuten, begab ich mich mit Albertus nach vorne. Während wir unter der Kanzel auf den Prior warteten, sah ich, wie einer der Männer, die in der Bank hinter mir gesessen hatten, zu der Dame an der Säule ging. Nach einem kurzen Wortwechsel zogen die beiden miteinander ab.
Auch dem Prior war dies offenbar nicht entgangen. Meinen Blick kommentierend, begrüßte er mich mit den Worten: „Was wollt Ihr erwarten von Gottesdienstbesuchern, die im Grunde Gottesverächter sind? Sie folgen den Geboten Gottes doch nur aus Furcht und widersetzen sich seinem Geist, wo immer es geht.“
Da er sah, dass seine harschen Worte mich befremdeten, ergänzte er: „Wer immer die Wahrheit ausspricht, wird von diesen Menschen verfolgt – sogar Gott selbst haben sie ja verraten und ans Kreuz genagelt, als er ihnen erschienen ist!“
„Geht nicht zu hart mit ihnen ins Gericht, Bruder Eberhart“, bat Albertus ihn scheinheilig. „Ihr wisst ja: Wer ohne Sünde ist, …“
Sei es, dass der Prior den scherzhaften Unterton in Albertus‘ Stimme nicht wahrnahm, sei es, dass er diesen als unpassend empfand – jedenfalls handelte sich mein Begleiter mit seiner Bemerkung eine recht rüde Zurechtweisung ein. „Ich danke Euch für die freundliche Belehrung, Bruder Albertus“, entgegnete der Prior spöttisch. „Allerdings würde ich es für angemessener halten, wenn Ihr Euch mehr mit Eurer eigenen Person beschäftigtet. Wenn Ihr meint, der Herr würde einen Prediger mit weltlichem Schmuck einem einfachen Diener vorziehen, habt Ihr jedenfalls weder das Wort Gottes noch unsere Ordensregel verstanden.“
In der Tat hatte Albertus eigens für seine Predigt einen Habit mit versilberten, besonders weiten Ärmeln angelegt. Er zeigte sich jedoch von der Maßregelung in keiner Weise beeindruckt, sondern konterte diese seinerseits mit unverhohlenem Spott: „Ich gelobe Besserung, mein Prior! Aber wir sollten uns nun doch unserem Gast zuwenden – er möchte sonst wohl denken, wir seien in gar unchristlicher Entzweiung befangen.“
Bruder Eberhart blickte ihn resigniert an. Mir schien, dass ihn weniger die Verletzung der Ordensregel als vielmehr die Anmaßung störte, die sich Albertus als sein designierter Nachfolger erlaubte.
Er wandte sich zu mir und fragte, noch immer mit einem ironischen Unterton in der Stimme: „Ihr musstet also vor den Türken fliehen, habe ich gehört? Und ich dachte, die Türken wären schon seit über einem Jahr nicht mehr in der Nähe von Wien aufgetaucht.“
„Nun ja“, stammelte ich, „es muss sich wohl um so etwas wie ein Nachhutgefecht gehandelt haben.“
Mit demselben wissenden Lächeln, aber in viel milderem Ton versicherte er mir: „Seid unbesorgt – einem vorübergehenden Aufenthalt bei uns steht nichts im Wege. Gerne würde ich auch Eure Geschichte noch einmal aus Eurem eigenen Munde hören. Leider ist nun aber bald Essenzeit, und ich möchte mich nach der Messe noch ein wenig sammeln. Lasst uns deshalb unser Gespräch auf ein andermal vertagen.“
Es überraschte mich, dass er mich so ohne weiteres in dem Kloster wohnen ließ, obwohl er meine Lügengeschichte offensichtlich durchschaut hatte. Fast schien es mir, als hätte er ebenso wie ich irgendein Geheimnis zu verbergen – auch wenn mir unklar war, wie dieses mit seiner Nachsicht mir gegenüber zusammenhängen sollte. Für den Moment war ich allerdings nur froh, dass mir der befürchtete Rausschmiss erspart geblieben war.
Wenn ich nur wüsste, an wen er mich erinnert! Vielleicht hilft es mir ja, mir noch einmal den Wortlaut seiner Predigt ins Gedächtnis zu rufen. Glücklicherweise habe ich mir während der Messe ein paar Notizen gemacht, um mich später besser erinnern zu können!

English Version
Encounter with Brother Eberhart
During Brother Eberhart’s sermon, some strange things happen. But above all, the abbot himself seems strangely familiar to Theo.
Friday, March 25, 1485, in the evening
Brother Eberhart seems somehow familiar to me. If only I knew why!
I clearly feel that I have met him somewhere before. Of course, this impression, which is accompanied by a strange feeling of embarrassment, can only be due to a mix-up. Nevertheless, I simply cannot get rid of this curious feeling of familiarity.
Could there be a painting of the Prior hanging somewhere in the monastery? No, I don’t think so – I would have noticed it. Or did I perhaps dream of him after Albertus described him to me? No, that can’t be the case either – the description was far too inaccurate!
He probably reminds me of some other monk I once saw. After all, the faces were hardly recognisable in the darkness of the church. In such a situation, it’s easy to mix up faces.
Besides, what was happening during the sermon delivered in the pulpit seemed so strange to me that I could hardly concentrate on the preacher. But how could I have guessed that there was also a kind of church prostitution here in addition to the street prostitution? At least that is how I interpret what happened towards the end of the sermon.
While Brother Eberhart was still in the middle of his sermon, a woman walked past the altar, adorned with a broad yellow ribbon. When she was about in line with the altar, she slowed her step and looked coquettishly towards the wooden benches where she could be sure of the attention of us monks and the other men. Then, with a provocative sway of her hips, she made her way to a pillar standing near the pulpit. With her eyes fixed on the pews, she remained there with her arms folded under her breasts.
Just then, Albertus, who had meanwhile finished his service at his family’s private altar, joined me. Interested, he looked over at the permissive lady. When their eyes met, he winked at her adventurously.
„What a gorgeous lady!“ he whispered in my ear. „I’d really like to meet her in the confessional sometime.“
I smiled sheepishly but said nothing. Under no circumstances did I want to forfeit the Prior’s goodwill!
When Brother Eberhart had pronounced the blessing and the worshippers dispersed, I went to the pulpit with Albertus. While we were waiting there for the Prior, I saw one of the men who had been sitting behind me go to the lady at the pillar. After a brief exchange of words, the two went off together.
Apparently, this incident had not escaped the Prior’s attention either. Commenting on my look, he greeted me with the words: „What do you expect from worshippers who in the depths of their souls despise God? After all, they only follow God’s commandments out of fear and defy His Spirit wherever they can.“
Noticing that his harsh words astonished me, he added: „Whoever speaks the truth is persecuted by these people – in fact, they even betrayed God Himself and nailed Him to the cross when He appeared to them!“
„Don’t be too hard on them, Brother Eberhart,“ Albertus begged him hypocritically. „Just remember: He who is without sin …“
Maybe the prior didn’t notice the joking undertone in Albertus‘ voice, maybe he felt it was unseemly – in any case, my companion earned himself a rather rude rebuke with his remark. „Thank you for your kind instruction, Brother Albertus,“ the Prior replied mockingly. „However, I would consider it more appropriate if you were more concerned with your own person. If you think the Lord would prefer a preacher with worldly adornment to a simple servant, you certainly have failed to understand the Word of God as well as our Rule.“
In fact, Albertus had put on a habit with silver-plated, particularly wide sleeves especially for his sermon. He was not at all impressed by the reprimand, though, but countered it with blatant mockery: „I pledge to do better, my Prior! But we should now turn our attention to our guest – otherwise he might think that we are caught up in an unchristian quarrel.“
Brother Eberhart looked at him resignedly. It seemed to me that he was less bothered by the violation of the Order’s Rule than by the insolence that Albertus allowed himself as his designated successor.
He turned to me and asked, still with an ironic undertone in his voice: „So you had to flee from the Turks, I was told? And I thought the Turks hadn’t appeared near Vienna for over a year.“
„Well,“ I stammered, „it must have been something like a rearguard action.“
With the same knowing smile, but in a much milder tone, he assured me: „Don’t worry – nothing stands in the way of a temporary stay in our monastery. I would also like to hear your story again from your own mouth. Unfortunately, however, it will soon be time to eat, and I would like to collect myself a little after Mass. So let’s postpone our conversation for another time.“
I was surprised that he let me stay in the monastery without further ado, although he had obviously seen through my tall tale. It almost seemed to me that he also had some secret to hide – even though it was unclear to me how this could be connected with his indulgence towards me. For the moment, however, I was just glad that I had been spared the feared expulsion.
If only I knew who he reminds me of! Perhaps it will help me to recall the words of his sermon once again. Fortunately, I took some notes during the Mass to help me remember later!
Bilder / Images: Anthonie de Lorme (circa 1610 –1673): 1. Innenraum einer Kirche mit galanten Gestalten (1632); Wikimedia commons / Church interior with elegant figures (1632); Wikimedia Commons; 2. Anthonie Palamedesz: (1602 – 1673; Figuren): Innenraum einer Renaissancekirche mit Einzug eines galanten Paares (Wikiemedia commons) / Anthonie Palamedesz: (1602 – 1673; characters): Interior of a Renaissance-style church at night with an elegant couple making an entrance (Wikimedia Commons)
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