Zu Fritz Widmers Lied vom Sundig / On Fritz Widmer’s Lied vom Sundig (Song of Sunday)
In seinem Lied vom Sundig beschreibt der Schweizer Liedermacher Fritz Widmer ein typisches Sonntagsidyll. Dieses ist jedoch wie auf einem Vulkankegel von plötzlichen Gewalteruptionen bedroht.

Aare: in den Berner Alpen entspringender Fluss, der im Bezirk Zurzach im Kanton Aargau in den Rhein mündet
Fritz Widmer: Lied vom Sundig (berndeutscher Originaltext auf fritz-widmer.ch, PDF) nach einer Melodie des schwedischen Dichters und Komponisten Carl Michael Bellmann (1740 – 1795); aus: Abraham & Co (gemeinsames Album mit Jakob Stickelberger, 1973)
Cover-Version von Christoph Mächler (aus dem Fritz Widmer gewidmeten Album Türeschletze, 2008)
Lakonische Aneinanderreihung des Unvereinbaren
Ähnlich wie in Franz Josef Degenhardts Chanson Deutscher Sonntag [1] wird auch in Fritz Widmers Lied vom Sundig die Oberfläche sorgloser Sonntagsvergnügungen einem darunterliegenden Grauen gegenübergestellt.
Während die in ihrem Garten herumspazierende Großmutter, die auf der Straße spielenden Kinder und die Sonntagsausflügler das Bild eines ländlichen Idylls zeichnen, blitzt in der grundlosen Raserei eines Autofahrers die Aggressivität auf, die von diesem Idyll übertüncht wird. Das Ergebnis ist eine Frontalkollision, bei der die Insassen des anderen Autos ums Leben kommen.
Durch die lakonische Aneinanderreihung des Unvereinbaren macht Widmer deutlich, dass beides – Totschlag und vermeintliche Idylle – untrennbar miteinander zusammenhängt. Sein Lied erinnert damit an den vorherrschenden Schweizer Erzählstil der 1960er Jahre, dessen zentrales Charakteristikum ein betonter Lakonismus war.
Erzähler wie Peter Bichsel, Kurt Marti oder auch Jürg Federspiel haben auf diese Weise die emotionslose Hinnahme der Grausamkeiten, mit denen der Wohlstand in der bürgerlichen Gesellschaft erkauft wird, ebenso widergespiegelt wie die resignative Mutlosigkeit jener, die ein diffuses Ungenügen an den bestehenden Verhältnissen empfinden [2].
Max Frischs Psychogramm seiner Schweizer Landsleute
Widmers Lied vom Sundig lässt sich auch auf das Psychogramm beziehen, das Max Frisch in seinen Essays, Dramen und Romanen von seinen Schweizer Landsleuten entworfen hat.
In seinem Roman Stiller (1953/54) lässt Frisch seinen Protagonisten den Grundsatz der „kaufmännischen Vernünftigkeit“ als prägendes Element der Schweizer Gesellschaft herausstellen. Dieser zwinge seine Landsleute, „um des Handels willen (…) höflich zu sein mit den Mächtigen“ [3]. Daraus ergebe sich einerseits das selbstwertsteigernde Gefühl, mit Letzteren auf einer Stufe zu stehen – andererseits aber auch die Gefahr der Kumpanei mit den Verbrechen der Mächtigen.
In einer Rede aus dem Jahr 1974 veranschaulicht Frisch diese Gefahr mit dem Verweis auf die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Daneben erwähnt er auch die unrühmliche Rolle der Schweiz während des Militärputschs in Chile 1973, als „unsere Botschaft in Santiago de Chile (…) in entscheidenden Stunden und Tagen keine Betten hat[te] für Anhänger einer rechtmäßigen Regierung, die keine Betten such[t]en, sondern Schutz vor barbarischer Rechtlosigkeit und Exekution (mit Sturmgewehren schweizerischer Herkunft) oder Folter“ [4].
Wenn materieller Wohlstand die geistige Freiheit aushöhlt
Die Konzentration auf materiellen Wohlstand führt, wie Frisch bereits 1960 ausgeführt hat, nicht nur dazu, dass Moral und Menschenrechte für das Handeln der Regierung eine untergeordnete Rolle spielen. Das Ergebnis sei vielmehr ein vollständiger Verzicht auf Visionen. So werde „das Wort ‚Utopie‘ bei uns ausschließlich im negativen Sinn verwendet“. Dadurch würden den Menschen „nicht nur die Utopien, sondern überhaupt alle radikalen Wünsche sozusagen mit der Muttermilch abgewöhnt“ [5].
Als Konsequenz hieraus sei „die Angst vor der Zukunft geradezu das Grundgefühl der Schweizer Zeitgenossen“ [6]. In seinem Roman Stiller bezieht Frisch diese Gefühlslage auf die verbreitete Angst der Menschen in der Schweiz, „eines Tages vielleicht arm zu sein, ihre Angst vor dem Leben, ihre Angst, ohne Lebensversicherung sterben zu müssen, (…) ihre Angst davor, dass die Welt sich verwandeln könnte, ihre geradezu panische Angst vor dem geistigen Wagnis“ [7].
So führt die Angst vor der Veränderung, das phantasielose Beharren auf dem Status quo, zugleich zu einer geistigen Unfreiheit, welche die materielle Unabhängigkeit konterkariert. Dabei behindert die Angst, bei Letzterer Einbußen zu erleiden, auch allgemein die Entfaltung der menschlichen Freiheit, da diese sich im Kern als geistige Freiheit manifestiert.
Eben diese geistige Unfreiheit spricht auch aus Fritz Widmers Lied vom Sundig. Eben weil die Menschen sich darin ganz auf eine oberflächliche Form materieller Freiheit konzentrieren, büßen sie ihre geistige Freiheit ein und nehmen inhumane gesellschaftliche Tendenzen als unvermeidlichen Teil ihres Alltags hin.
Über Fritz Widmer
Fritz Widmer (1938 – 2010) trat nach einem Anglistik- und Germanistikstudium 1965 in den Schuldienst ein. Gleichzeitig schloss er sich den Berner Troubadours an, einer Gruppe von im berndeutschen Dialekt singenden Liedermachern, die in wechselnden Zusammensetzungen gemeinsam, aber auch allein auftraten.
Besonders eng war Widmers Zusammenarbeit mit Mani Matter, mit dem er außer gemeinsamen Liedern auch ein Krimi-Musical schrieb. Nachdem Matter bereits 1972 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, brachte Widmer das Musical gemeinsam mit Jacob Stickelberger, der ebenfalls daran mitgearbeitet hatte, erfolgreich zur Aufführung. Auch einige noch unveröffentlichte Chansons Matters spielte er mit Stickelberger ein.
Widmer trat auch als Übersetzer von Liedern aus anderen Sprachen in Erscheinung, etwa des schwedischen Dichters und Komponisten Carl Michael Bellmann (1740 – 1795). Zuweilen unterlegte er – wie für das Lied vom Sundig – auch eigene Texte mit Melodien Bellmanns. Daneben verfasste er, ebenfalls im Dialekt, Romane und widmete sich dem Werk Hermann Hesses, des Großvaters seiner Frau. Hinzu kamen zahlreiche Zeitungskolumnen.
Nach der anfänglichen Zusammenarbeit mit den Berner Troubadours trat Widmer später verstärkt mit seiner eigenen Band auf, in der auch seine beiden Töchter mitspielten.
Nachweise
[1] Vgl. den Beitrag Sonntägliche Gemütlichkeit auf den Kriegsgräbern. Zu Franz Josef Degenhardts Lied Deutscher Sonntag.
[2] Beispiele für diesen Erzählstil finden sich in RB: Alte und neue Perlen. Einladung zu einer Buchmesse in meinem Lesekabinett, PDF), Kapitel 5.
[3] Frisch, Max: Stiller. Roman (1953/54). In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931 – 1985, herausgegeben von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Band 3, S. 359 – 780, hier S. 547. Frankfurt/Main 1986: Suhrkamp.
[4] Frisch, Max:Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises (1974). In: Ebd., Bd. 6, S. 509 – 518, hier S. 517.
[5] Frisch, Max: Die Schweiz ist ein Land ohne Utopie. Essay für den Züricher Buchclub Ex Libris, als Antwort auf die Frage: „Ist der Schweizer Dichter ein Außenseiter?“ (1960). In: Ebd., Bd. 4, S. 258 f.
[6] Frisch, ebd.
[7] Frisch, Stiller(s. 3), S. 548.
Beitrag über das deutschsprachige Kabarett in der Schweiz auf rotherbaron:
Das Schweizer Kabarett-Karussell

English Version
The Horror behind the Idyll
On Fritz Widmer’s Lied vom Sundig (Song of Sunday)
In his Lied vom Sundig (Song of Sunday), the Swiss singer-songwriter Fritz Widmer describes a typical Sunday idyll. However, this is threatened by sudden violent eruptions, as if on a volcanic cone.

Aare: a river that rises in the Bernese Alps and flows into the Rhine in the district of Zurzach in the canton of Aargau
Bedřich Smetana (1824 – 1884): Czech composer, famous for a piece of music about the river Vltava/Moldau (as part of his six-part symphonic poem My Fatherland)
Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929): Austrian turn-of-the-century poet and dramatist whose literature is associated with Décadence and Symbolism
Zurich / Young Boys Bern: Swiss football (soccer) clubs
Fritz Widmer: Lied vom Sundig (original text in Bernese German on fritz widmer.ch, PDF) after a melody by the Swedish poet and composer Carl Michael Bellmann (1740 – 1795) from: Abraham & Co (joint album with Jakob Stickelberger, 1973)
Cover version by Christoph Mächler (from the album Türeschletze, dedicated to Fritz Widmer, 2008)
Laconic Concatenation of the Incommensurable
Similar to Franz Josef Degenhardt’s song Deutscher Sonntag (German Sunday; 1), Fritz Widmer’s Lied vom Sundig juxtaposes the surface of carefree Sunday pleasures with a horror hidden underneath.
While the grandmother strolling in her garden, the children playing in the street and the Sunday excursionists paint the picture of a rural idyll, the aggressiveness that is glossed over by this idyll flashes in the unprovoked speeding of a car driver. The result is a head-on collision in which the passengers of the other car are killed.
The laconic concatenation of the irreconcilable shows that both – manslaughter and supposed idyll – are inextricably linked. Widmer’s song is thus reminiscent of the predominant Swiss narrative style of the 1960s, whose central feature was a special kind of laconicism.
In this way, narrators such as Peter Bichsel, Kurt Marti or Jürg Federspiel reflected the dispassionate acceptance of the cruelties with which prosperity in bourgeois society is paid for, as well as the resigned discouragement of those who feel a vague dissatisfaction with the prevailing conditions [2].
Max Frisch’s Psychogram of his Swiss Compatriots
Widmer’s Song of Sunday can also be related to the psychogram that the Swiss writer Max Frisch drew of his Swiss compatriots in his essays, dramas and novels.
In his novel Stiller (1953/54), Frisch has his protagonist emphasise the principle of „commercial rationality“ as the defining element of Swiss society. According to Frisch, this principle compels his compatriots „to be polite with the powerful for the sake of commerce“ [3]. On the one hand, this would result in a feeling of increased self-esteem, of being on an equal footing with the latter – but on the other hand, also in the danger of complicity with the crimes of the economic and political leaders.
In a 1974 speech, Frisch illustrates this danger by referring to Switzerland’s restrictive refugee policy during the Second World War. Furthermore, he mentions Switzerland’s inglorious role during the military coup in Chile in 1973, when „our embassy in Santiago de Chile (…) had no beds in crucial hours and days for supporters of a legitimate government who in fact were not seeking beds but protection from barbaric lawlessness and execution (with assault rifles of Swiss origin) or torture“ [4].
When Material Prosperity Undermines Intellectual Freedom
The focus on material prosperity, as Frisch already pointed out in 1960, not only leads to morality and human rights playing a subordinate role in the government’s actions. Rather, the result is a complete renunciation of visions. Thus, „the word ‚utopia‘ is used exclusively in a negative sense in our country“. As a result, „not only utopias, but also all radical desires in general are, as it were, being weaned from people with their mother’s milk“ [5].
Consequently, „the fear of the future is virtually the basic feeling of Swiss contemporaries“ [6]. In his novel Stiller, Frisch relates this emotional state to the widespread fear of people in Switzerland „of perhaps one day being poor, their fear of life, their fear of having to die without life insurance, (…) their fear of a changing world, their almost panic-stricken fear of intellectual daring“ [7].
Thus the fear of change, the unimaginative insistence on the status quo, leads at the same time to a lack of freedom on an intellectual level, which counteracts material independence. The fear of losing the latter proves to be a general obstacle to the development of human freedom, since this is essentially manifested as freedom of thought.
It is precisely this lack of intellectual freedom that speaks of Fritz Widmer’s Song of Sunday. Precisely because people concentrate entirely on a superficial form of material freedom, they forfeit their spiritual freedom and accept inhumane social tendencies as an unavoidable part of their everyday lives.
About Fritz Widmer
Fritz Widmer (1938 – 2010) started working as a school teacher in 1965 after studying English and German. At the same time, he joined the Berner Troubadoure (Bernese Troubadours), a group of songwriters singing in the Bernese German dialect, who performed together in varying combinations, as well as on their own.
Widmer collaborated particularly closely with Mani Matter, with whom he not only wrote songs together but also a crime musical. After Matter had died in a traffic accident in 1972, Widmer successfully staged the musical with Jacob Stickelberger, who had also worked on it. In addition, he recorded some of Matter’s still unpublished songs with Stickelberger.
Widmer also appeared as a translator of songs from other languages, for example of works by the Swedish poet and composer Carl Michael Bellmann (1740 – 1795). Sometimes he also added Bellmann’s melodies to his own texts, as he did for the Song of Sunday. In addition, he wrote novels, also in dialect, and devoted himself to the work of the famous writer Hermann Hesse, his wife’s grandfather. Furthermore, he published numerous newspaper columns.
After the initial collaboration with the Bernese Troubadours, Widmer later increasingly performed with his own band, which also included his two daughters.
References
[1] Cf. the post Sunday Cosiness on War Graves. On Franz Josef Degenhardt’s Song Deutscher Sonntag (German Sunday).
[2] Examples of this narrative style can be found in RB: Alte und neue Perlen. Einladung zu einer Buchmesse in meinem Lesekabinett [Old and New Pearls. Invitation to a Book Fair in my Reading Room, PDF], chapter 5.
[3] Frisch, Max: Stiller. Roman (1953/54). In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931 – 1985 [Collected Works in Chronological Order 1931 – 1985], edited by Hans Mayer with the assistance of Walter Schmitz, vol. 3, pp. 359 – 780, here p. 547. Frankfurt/Main 1986: Suhrkamp.
[4] Frisch, Max:Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises [Switzerland as Home? Speech on the award of the Great Schiller Prize] (1974). In: Ibid, vol. 6, pp. 509 – 518, here p. 517.
[5] Frisch, Max: Die Schweiz ist ein Land ohne Utopie. Essay für den Züricher Buchclub Ex Libris, als Antwort auf die Frage: „Ist der Schweizer Dichter ein Außenseiter?“ [Switzerland is a Land without Utopia. Essay for the Zurich book club Ex Libris, in response to the question: „Is the Swiss poet an outsider?“] (1960). In: Ibid, vol. 4, p. 258 f.
[6] Frisch, ibid.
[7] Frisch, Stiller(s. 3), p. 548.
Bilder / Images: Otto Dix (1891 – 1969): Sonntagsspaziergang (1922); deutsche gegen Schweizer Fahne ausgetauscht; Hans Gerber: Max Frisch (1955); Bibliothek der ETH Zürich (Wikimedia commons); Berner Troubadours 1970 im Galerietheater Die Rampe in Bern (Bernhard Stirnemann, Markus Traber, Ruedi Krebs, Fritz Widmer, Mani Matter, Jacob Stickelberger) (Quelle: Mikiwiki.org) ;
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