Kriegsvorbereitungen / Preparations for War

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Recherchen von Schorsch stellen Theos Sicht auf seine neue „Heimat-Zeit“ in Frage. Offenbar ist sie doch nicht so friedlich, wie er angenommen hatte.

English Version

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Sonntag, 22. März 2521 (81/113), etwas später

Schorsch hat sich mal wieder auf die Bildschirmwand in meinem Appartement gezaubert. Er hat eine äußerst beunruhigende Entdeckung gemacht.
„Hast du schon die Nachrichten gesehen?“ fragte er mich zur Begrüßung.
„Was soll das heißen – die Nachrichten?“ echote ich. „Machst du Witze?“
Anstatt zu antworten, beugte sich Schorsch leicht nach vorn, wobei er offenbar ein bestimmtes Tool an seinem Bildschirm aktivierte. Es war deutlich zu merken, dass er sich mit der hiesigen Wohn- und Kommunikationskultur schon viel intensiver beschäftigt hatte als ich.
Der Bildschirm teilte sich nun in zwei Hälften. Auf der linken Seite war weiterhin Schorsch zu sehen, während in der rechten Bildschirmhälfte jemand in aufrechter Haltung auf einem von diesen intelligenten Möbelstücken saß und eine – dem getragenen Klang der Worte nach zu urteilen – feierliche Ansprache hielt.
Trotz des fremdartigen Aussehens, die Glatze, Gummianzug und fehlende Zähne ihm verliehen, kam mir der Mann irgendwie bekannt vor. Ein unbestimmtes Gefühl von Angst und Abwehr beschlich mich, als ich ihn sah, ohne dass ich mir erklären konnte, womit diese Empfindung zusammenhing.
Schorsch war sich der Wirkung, die das Bild auf mich ausüben würde, genau bewusst. Eine Zeit lang ließ er mich mit meinen Mutmaßungen allein, dann fragte er: „Er kommt dir bekannt vor, oder? – Pass auf, ich gebe dir einen Tipp: Er handelt mit Dingen, die man nicht festhalten kann. Aber wenn du diese Dinge kaufst, hält er dich fest.“
„Mein Gott: der Schattenhändler!“ entfuhr es mir. „Wie kommt der denn hierher?“
Schorsch grinste. „Er ist gar nicht hier!“ stellte er klar. „Meiner Meinung ist das nämlich nicht er selbst, sondern einer seiner Nachkommen. Bei den Habsburgern haben sich schließlich auch im Lauf der Jahrhunderte gewisse Eigentümlichkeiten herausgebildet, ohne dass einer der Wiedergänger des anderen gewesen wäre.“
Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. „Willst du etwa sagen, dass der Schattenhändler eine ganze Herrscherdynastie begründet hat?“
Schorsch zuckte mit den Achseln. „Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Oder meinst du etwa, diese Ähnlichkeit könnte Zufall sein?“
„Nein, das glaube ich auch nicht“, räumte ich ein. „Andererseits: Nur weil er auf dem Bildschirm zu sehen ist, muss er hier doch noch lange nicht der große Strippenzieher sein.“
Statt einer Antwort wies Schorsch mich auf die Schaubilder hin, von denen die Rede des Schattenhändler-Klons begleitet wurde. „Sieh dir doch mal die Computersimulationen näher an, die im Hintergrund eingespielt werden. Die wirken auf mich schon recht bedrohlich.“
Ich schaute genauer auf den Bildschirm. Um den Redner waren zahlreiche Kegel gruppiert – offenbar als Symbole für andere Kegelstädte. Die Kegel wiesen unterschiedliche Farben auf und wurden dadurch zu einzelnen Gruppen zusammengefasst, wodurch sich der Eindruck von Bündnissystemen und befeindeten Kegelverbänden ergab. Ein Kegel war rot markiert und wurde während der Rede immer wieder in Großaufnahme ins Bild gerückt. Zeitweise wurde er auch von oben gezeigt, wobei heransausende Pfeile einen Angriff auf das Filtersystem der feindlichen Kegelstadt andeuteten.
„Meinst du, er kündigt einen Krieg an?“ fragte ich zögernd.
Schorsch nickte. „Genauso sieht es für mich aus. Jedenfalls müsste – wenn das, was du mir über die Filteranlage erzählt hast, stimmt – schon die geringste Störung in diesem Bereich verheerende Folgen haben.“
Schorsch hatte Recht: Wem es gelang, das Filtersystem einer Kegelstadt zu beschädigen, der schnitt damit Tausende Menschen von der Sauerstoffzufuhr ab – und setzte sie dazu womöglich einer tödlichen Dosis von atomarer oder ultravioletter Strahlung aus. Das wäre dann ungefähr so, als würde man einem Taucher den Sauerstoff abstellen und gleichzeitig einen Schwall radioaktiv verseuchten Wassers auf ihn lenken.
Aber wer sollte so etwas tun? Was hätte es für einen Sinn, sich auf einen so gefährlichen Krieg einzulassen, wenn es doch – zumindest materiell – an nichts fehlt? Oder ist die Versorgungslage hier doch schlechter, als es den Anschein hat?
Meinen Eindruck, das Leben hier sei zwar ereignisärmer, dafür aber viel friedlicher als in meiner Heimat-Zeit, muss ich jedenfalls gründlich revidieren.

English Version

Preparations for War

Shorsh finds out some things that challenge Theo’s view of his new „home time“. Apparently it is not as peaceful as he had assumed.

Sunday, March 22, 2521 (81/113), a bit later

Shorsh has once again conjured himself onto the screen wall in my apartment. He has made a most disturbing discovery.
„Have you seen the news yet?“ he asked me as soon as I turned to face him.
„What do you mean – the news?“ I echoed. „Are you kidding?“
Instead of answering, Shorsh leaned forward slightly, apparently activating a certain tool on his screen. It was clearly noticeable that he was already much more familiar with the local living and communication culture than I was.
The screen now split into two halves. On the left side Shorsh could still be seen, while on the right half of the screen someone was sitting in an upright position on one of those intelligent pieces of furniture. Judging by the solemn sound of his words, he was delivering a momentous speech.
Despite the alien appearance that the bald head, the rubber suit and the missing teeth gave him, the man somehow looked familiar to me. A vague feeling of fear and repulsion came over me when I saw him, without me being able to explain what this sensation was related to.
Shorsh was well aware of the effect the picture would have on me. For a while he left me alone with my speculations, then he asked: „He looks familiar to you, doesn’t he? – Wait, I’ll give you a hint: he deals in things you can’t hold on to. But if you buy these things, he will hold on to you.“
„Oh my God: the shadow dealer!“ I eclaimed. „How the hell did he get here?“
Shorsh grinned. „He didn’t get here at all! In my opinion, this is not him, but one of his descendants. After all, many ruling families have developed certain peculiarities over the centuries without one being the revenant of the other.“
I felt the hairs on the back of my neck stand up. „Are you saying that the shadow dealer established an entire dynasty of rulers?“
Shorsh shrugged his shoulders. „I can’t think of any other explanation. Or do you think this resemblance could be mere coincidence?“
„No, I don’t think so either,“ I admitted. „On the other hand, the fact that he’s on the screen doesn’t necessarily mean he’s the big string-puller here.“
Instead of an answer, Shorsh pointed to the diagrams that accompanied the dealer clone’s speech. „Take a closer look at the computer simulations in the background. They look quite threatening to me.“
I watched the screen more attentively: Numerous cones were grouped around the speaker – apparently as symbols for other cone towns. The cones had different colours and were thus grouped into different clusters, which gave the impression of alliance systems and hostile cone federations. One cone was marked in red and repeatedly appeared in close-up during the speech. At times, it was also shown from above, with approaching arrows suggesting an attack on the filter system of the enemy cone town.
„Do you think he is announcing a war?“ I asked hesitantly.
Shorsh nodded. „That’s exactly what it looks like to me. In any case, if what you told me about the filter system is true, even the slightest disturbance of its mechanism should have devastating consequences.“
Shorsh was right: whoever succeeded in damaging the filter system of a cone town would cut off the oxygen supply to thousands of people – and possibly expose them to a lethal dose of nuclear or ultraviolet radiation. That would be like cutting off oxygen to a diver and simultaneously directing a flood of radioactively contaminated water at him.
But who should do such a thing? What would be the point of getting involved in such a dangerous war when there is – at least materially – no lack of anything? Or is the supply situation here worse than it seems on first sight?
At any rate, I have to thoroughly revise my impression that life here is less eventful, but in return much more peaceful than in my „home time“.

Bilder: Stefan Keller: Trauer / Grief (Pixabay; Ausschnitt / detail); Icheinfach: Apokalypse / Apocalypse (Pixabay)

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