Eine skeptische Variante von Lluís Llachs L’estaca / A Sceptical Variant of Lluís Llachs L’estaca
Ungeduldig hoffen wir auf eine friedlichere Welt. Gerade unsere Ungeduld kann jedoch unsere Ziele gefährden, indem sie uns zu überstürztem und selbst wieder unfriedlichem Handeln verleitet. – Über Jacek Kaczmarskis polnische Variante von Lluís Llachs L’estaca.
Jacek Kaczmarskis polnische Widerstandshymne
Die ebenso einfache wie kraftvolle Symbolik von L’estaca und die eingängige Melodie des Liedes hat dieses auch in anderen Ländern populär gemacht. So existieren mittlerweile zahl¬reiche Varianten in anderen Sprachen.
In einigen Fällen wurde der katalanische Text schlicht in die eigene Sprache übersetzt. Mitunter hat man ihn aber auch nur sinngemäß übernommen und neue Strophen getextet, die besser zu der jeweils eigenen Unterdrückungssituation passten.
Besonders interessant ist die polnische Variante des Liedes (Mury/Mauern), die Jacek Kaczmarski 1978 verfasst hat. Sie wurde zur Widerstandshymne der Gewerkschaft Solidarność.
Das Lied wurde nicht nur 1980 bei dem Ausstand der Arbeiter auf der Danziger Lenin-Werft gesun¬gen, sondern auch vom Untergrundsender Radio Solidarność als Erkennungsmelodie genutzt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch noch eine andere, auf einer einfacheren Über¬setzung des Textes von Lluís Llach beruhende polnische Version von L’estaca kursierte.
Kaczmarski hat von L’estaca zwar nur die Melodie übernommen. Trotzdem bleibt sein Text der Geschichte des Liedes eng verbunden. Unverkennbar spielt der Liedermacher auf die Präsentationsform von L’estaca während der Franco-Diktatur an.
So ist hier von einem Sänger die Rede, der den unterdrückten Massen „Kraft“ gibt „mit einem Lied“, dessen Melodie „ganz ohne Worte (…) den Ruf nach Freiheit in ihre Herzen“ trägt. Auch die Kerzen, die während Llachs gesummter Lieddarbietungen ange¬zündet wurden, werden von Kaczmarski erwähnt:
„Tausende von Kerzen zündeten sie für ihn an,
deren Rauch über ihren Köpfen schwebte.“
Gebremste Revolutionseuphorie
Bemerkenswert ist allerdings vor allem das pessimistische Ende des Textes: Befeuert von der Kraft des Liedes, erkennen die Massen ihre Macht und versuchen eben jenen Umsturz in die Tat umzusetzen, den das Lied in dem Aufruf zum Niederreißen der Mauern andeutet. Dabei verwandelt sich der freiheitliche Impuls jedoch unversehens in eine totalitäre Bewegung, die alles Andersartige gnadenlos bekämpft:
„Dieser ist auf unserer Seite,
der da ist gegen uns.
Wer allein ist, ist unser ärgster Feind!“
In der Folge lässt das „gleichförmige Marschieren der Menge“ die Mauern nur weiter „wachsen“, anstatt zu ihrem Einsturz beizutragen.
Der skeptische Ausblick lässt sich zunächst allgemein auf die oft problematische Eigendynamik von Revolutionen beziehen. Schließlich schlägt deren ursprünglicher freiheitlicher Impuls nicht selten in Gewaltexzesse und neue Formen autoritärer Herrschaft um.
Konkret könnte Kaczmarski beim Verfassen des Textes aber auch an den wilden Streik und die Proteste gedacht haben, mit denen die Arbeiter der Danziger Lenin-Werft Ende 1970 auf die kräftige Anhebung der Lebensmittelpreise durch den Staat reagiert hatten. Dies hatte damals zu Unruhen geführt, in deren Folge etliche Demonstrierende (nach offiziellen Angaben 49, tatsächlich wohl um die hundert) von Sicherheitskräften erschossen wurden.
Kaczmarskis Lied lässt sich so als Warnung an Widerstandsgruppen verstehen, die eigenen Kräfte nicht zu überschätzen und nicht durch vorschnelle Aktionen Menschenleben in Gefahr zu bringen.
Prophetische Kraft von Kaczmarskis Text
Vor dem Hintergrund der heutigen politischen Lage in Polen kommt Kaczmarskis Lied fast schon eine prophetische Kraft zu. Schließlich hat Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei PIS, früher selbst an vorderster Front für die Ideale der Solidarność gekämpft.
Heute dagegen lässt sich sein politisches Ideal recht gut mit dem „gleichförmige[n] Marschieren der Menge“ charakterisieren, dem abschreckenden Bild, das Kaczmarski in seinem Lied für eine fehlgeleitete revolutionäre Dynamik wählt.
So könnte das Lied heute als Appell zu einem erneuten Einreißen der Mauern und Aufbrechen der Ketten, mit denen der Staat den Freiheitsdrang des Volkes lähmt, verstanden werden – wobei dann allerdings auf einen anderen Ausgang der Freiheitsbewegung zu hoffen wäre.
Mauern
Er war jung und voller Visionen,
und gemeinsam waren sie unschätzbar viele.
Er gab ihnen Kraft mit einem Lied
von einer heraufdämmernden Morgenröte.
Tausende von Kerzen zündeten sie für ihn an,
deren Rauch über ihren Köpfen schwebte.
Er sang, dass es Zeit war für den Einsturz der Mauer,
und sie sangen gemeinsam mit ihm:
Zerstört das Gitterwerk der Mauern!
Sprengt die Ketten, brecht die Peitsche entzwei,
dann werden die Mauern einstürzen, ja einstürzen,
und die alte Welt unter sich begraben.
Bald kannten sie das Lied auswendig,
und schon die Melodie trug, ganz ohne Worte,
den Ruf nach Freiheit in ihre Herzen
und befeuerte ihren Geist.
Also sangen sie und klatschten
mit ihren Händen den Rhythmus,
und ihr Händeklatschen hallte wider wie Kanonendonner,
auch wenn die Ketten sie weiter beschwerten
und die Morgenröte auf sich warten ließ.
Er aber sang und spielte weiter:
Zerstört das Gitterwerk der Mauern! …
So begriffen sie, wie viele sie waren,
sie fühlten ihre Kraft und die Gunst des Augenblicks
und marschierten durch die Straßen der Stadt,
auf den Lippen das Lied
von der heraufdämmernden Morgenröte.
Sie stürzten die Denkmäler,
rissen das Straßenpflaster auf und riefen:
„Dieser ist auf unserer Seite, der da ist gegen uns.
Wer allein ist, ist unser ärgster Feind!“
Aber auch der Sänger war allein …
Er schaute auf das gleichförmige Marschieren der Menge,
schweigend lauschte er dem Donner ihrer Schritte.
Und die Mauern wuchsen, wuchsen, wuchsen,
die Ketten hingen noch immer fest an ihren Füßen.
Er schaut auf das gleichförmige Marschieren der Menge,
schweigend lauscht er dem Donner ihrer Schritte.
Und die Mauern wachsen, wachsen, wachsen,
die Ketten hängen noch immer fest an ihren Füßen.
Jacek Kaczmarski: Mury (1978)
(gleichnamiges Album mit dem Song 1981 erschienen)
Lied mit Slideshow zu regimekritischen Protesten in Polen
Informationen zu Jacek Kaczmarski auf culture.pl
English Version
Jacek Kaczmarski: Mury (Walls)
Impatiently, we hope for a more peaceful world. Yet it is precisely our impatience that can jeopardise our goals by tempting us to act hastily and unpeacefully ourselves. – About Jacek Kaczmarski’s Polish variant of Lluís Llach’s L’estaca.
Jacek Kaczmarskis Polish Resistance Hymn
The equally simple and powerful symbolism of L’estaca and the catchy melody of the song have helped to make it popular in other countries as well. Today, numerous variants exist in other languages.
In some cases, the Catalan lyrics have simply been translated into the local language. Sometimes, however, they have only been adopted in spirit. In these cases, often new verses were created that better suited the respective oppressive situation.
The Polish version of the song (Mury/Walls), written by Jacek Kaczmarski in 1978, is particularly interesting. It became the resistance anthem of the Solidarność trade union in its struggle against the Polish real-socialist regime.
The song was not only sung during the 1980 workers‘ strike at the Gdansk Lenin Shipyard, but was also used as a theme song by the underground radio station Radio Solidarność. For this, another Polish version of L’estaca, based on a more straightforward translation of Lluís Llach’s text, also circulated.
Although Kaczmarski only took the melody from L’estaca, his lyrics remain closely connected to the history of the song. The songwriter unmistakably alludes to the form of presentation of L’estaca during the Franco dictatorship.
Thus, the song refers to a singer who gives the oppressed masses „strength“ with a song whose melody carries „without words (…) the call for freedom into their hearts“. Moreover, Kaczmarski mentions the candles that were lit during Llach’s hummed song performances:
„Thousands of candles they lit for him,
whose smoke floated above their heads.“
Restrained Revolutionary Euphoria
What is most remarkable, however, is the pessimistic ending of the lyrics: Spurred on by the energy of the song, the masses realise their power and try to bring about the very overthrow that the song suggests in the call to tear down the walls. In the process, however, the liberal spirit suddenly turns into a totalitarian movement that mercilessly fights everything that is different:
„This one is on our side,
that one is against us.
Whoever is alone is our worst enemy!“
As a consequence, the „uniform marching of the crowd“ only makes the walls grow further instead of contributing to their collapse.
The sceptical outlook can be generally related to the often problematic momentum of revolutions. After all, their initially liberal impulse frequently turns into excesses of violence and new forms of authoritarian rule.
In concrete terms, Kaczmarski might also have been thinking of the wildcat strike and protests with which the workers of the Gdansk Lenin shipyard reacted to the sharp increase in food prices by the state in late 1970. This had led to riots, as a result of which several demonstrators (according to official figures 49, in fact probably around a hundred) were shot dead by security forces.
Kaczmarski’s song can thus be understood as a warning to resistance groups not to overestimate their own forces and not to endanger human lives through precipitate actions.
Prophetic Power of Kaczmarski’s Text
Against the background of today’s political situation in Poland, Kaczmarski’s song has an almost prophetic quality. After all, Jarosław Kaczyński, the leader of the Polish ruling party PIS, once used to fight for the ideals of Solidarność himself.
Nowadays, however, his political ideal can be characterised quite well by the „uniform marching of the crowd“, the deterrent image Kaczmarski chooses in his song for a misguided revolutionary dynamic.
So today the song could be understood as an appeal to tear down the walls again and break the chains with which the state paralyses the people’s desire for freedom – combined with the hope for a better outcome of the freedom movement.
Walls
He was young and full of visions,
and together they were inestimably many.
He gave them strength with a song
in which he sang of a rising dawn.
Thousands of candles they lit for him,
whose smoke floated above their heads.
He sang that it was time for the wall to collapse,
and they sang with him:
Tear down the bars and break down the walls!
Break the chains, smash the whip in two,
then the walls will crumble, they will crumble,
and bury the old world beneath them.
Soon they knew the song by heart,
and the melody alone, without any words,
carried the call for freedom into their hearts
and inflamed their spirits.
So they sang and clapped the rhythm with their hands,
and their handclaps echoed like cannon thunder,
even though the chains still clung to them
and the dawn was nowhere to be seen.
He, however, continued to sing and to play:
Tear down the bars and break down the walls! …
So they understood how many they were,
they felt their strength and the propitious moment
and marched through the streets of the town
with the song of the dawn on their lips.
They toppled the statues,
tore up the pavement and shouted:
„This one is on our side, that one is against us.
Whoever is alone is our worst enemy!“
But the singer was also alone …
He looked at the uniform marching of the crowd,
silently he listened to the thunder of their footsteps.
And the walls kept growing, growing, growing,
the chains still clung tightly to their feet.
He looks at the uniform marching of the crowd,
silently listening to the thunder of their footsteps.
And the walls keep growing, growing, growing,
the chains still clinging tightly to their feet.
Jacek Kaczmarski: Mury (1978)
(album of the same name with the song released in 1981)
Song with slideshow on dissident protests in Poland
Information about Jacek Kaczmarski on culture.pl
Bilder / Images: Ri Butov: Cellist in der Wüste / Cellist in the desert (Pixabay); Zenon Mirota: Streik an der Danziger Leninwerft / Strike at the Gdansk Lenin Shipyard, August 1980 (Wikimedia commons)