Ilona Lay: Der Tod ist eine Nixe / Death is a Mermaid

aus dem Textzyklus Gesichter des Todes / from the Text Cycle Faces of Death

Meistens erleben wir den Tod als Bedrohung. Er kann jedoch auch gerade dadurch zur Bedrohung für uns werden, dass wir ihn nicht als bedrohlich wahrnehmen. – Ein weiterer Text aus Ilona Lays Gesichtern des Todes.

Der Tod ist eine Nixe

Der Tod ist eine Nixe mit flackerndem Haar. Züngelnd umwerben dich ihre Locken. Schon bald hast du dich heillos in ihnen verfangen. Unverwandt starrst du auf das zitternde Gesicht der Nixe.

Hinter ihren Lippen funkelt dir das Diadem ihrer Zähne entgegen.

Ihre Haut gießt ein Füllhorn verführerischer Düfte über dich aus.

Ihre Augen sind Tore zu einem Land, in dem du dich – wie du ganz deutlich spürst – mit dir selbst und der Welt versöhnen wirst.

Immer näher kommst du dem blauen Gesicht. Etwas hält dich zurück, aber die Anziehungskraft des Lilienmundes ist zu stark. Du kannst, du willst dich nicht dagegen wehren.

Als du jedoch die feuchten Lippen berührst, ziehen diese sich vor dir zurück und weiten sich zu einem Strudel, der dich unwiderstehlich zu sich hinabzieht. Weich umfangen dich seine Krakenarme, fest drücken sie dich an sich. Tiefer und tiefer versinkst du in dem wogenden Körper.

Während deine Sinne schwinden, spürst du: Bald wirst du den Grund erreichen, den Ort, wo alles begann, wo Ende und Anfang ineinander münden. Da aber wird die Nixe dich längst in den Schlaf gewiegt haben.

English Version

Ilona Lay: Death is a Mermaid

Most of the time we experience death as a threat. However, it can also become a threat to us precisely when we do not perceive it as threatening. – Another text from Ilona Lay’s Faces of Death.

Death is a mermaid with flickering hair. Her curls tenderly ensnare you. Soon you are hopelessly entangled in them. Spellbound, you stare at the mermaid’s trembling face.

Behind her lips, the diadem of her teeth sparkles at you.

Her skin pours a cornucopia of seductive scents over you.

Her eyes are gates to a land in which you will – as you clearly feel – reconcile with yourself and the world.

More and more you approach the blue face. Something holds you back, but the attraction of the lily’s mouth is too strong. You just can’t, you don’t want to resist it.

But when you touch the moist lips, they retreat from you and widen into a maelstrom that pulls you irresistibly towards it. Octopus arms embrace you, fainting you feel their soft flesh against your skin. Deeper and deeper you sink into the surging body.

As you slowly lose your mind, you realise that you are about to reach the bottom – the place where everything sprung from, where the beginning flows into the end. But by then the mermaid will have long since lulled you to sleep.

Bilder / Images: Edvard Munch (1863 – 1944): Die Dame aus dem Meer / The Lady from the Sea (1896); Philadelphia, Museum of Art (Wikimedia commons); Josef Wawra (1893 – 1935): Wassernixen / Mermaids (1920); Wien, Österreichische Galerie Belvedere (Wikimedia commons)

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