Der schiffbrüchige Traum / The Shipwrecked Dream

Ein Gedicht der brasilianischen Lyrikerin Cecília Meireles. Auftakt zu einer Reihe über den portugiesischen Fado / A Poem by the Brazilian Lyricist Cecília Meireles. Prelude to a Series on the Portuguese Fado

Ein Traum, der im feuchten Grab des Meeres versenkt wird, weil seine Erfüllung illusorisch erscheint – das ist ein ideales Thema für den wehmütigen portugiesischen Fado. – Über ein Gedicht der brasilianischen Lyrikerin Cecília Meireles.

English Version

Lied

Ich habe meinen Traum auf ein Schiff
und das Schiff in die Mähne des Meeres gesetzt.
Dann habe ich mit meinen Händen
ein Grab für meinen Traum ins Meer geritzt.

Meine Hände tropfen noch vom feuchten Blau
des aufgewühlten Wellenschlundes.
Und die Farbe, die von meinen Fingern rinnt,
frisst sich stumm durch den verwaisten Strand.

Von fernen Landen singt der Wind,
die Nacht erzittert unter seiner Hand.
Und unter der Mähne des Meeres vergeht
mein Traum, gehüllt in die Haut des Schiffes.

Ich aber füttere das Meer mit meinen Tränen,
auf dass es wachse und gedeihe.
So wird mein Schiff den Grund erreichen
und meinen Traum verblassen lassen.

Dann werden meine versteinerten Augen,
ruhig wie die geglättete Meereshaut,
meine Hände tauchen sehen
brechend in den weichen Wellen.

Cecilia Meireles: Canção

aus: Viagem (Reise; 1939)

Eine poetische Pädagogin

Die 1901 in Rio de Janeiro geborene und dort 1964 auch verstorbene Cecília Meireles war nach dem Ende ihrer Schulzeit zunächst als Lehrerin tätig. Zwar veröffentlichte sie bereits als 18-Jährige ihren ersten Gedichtband, blieb daneben aber auch ihren pädagogischen Interessen treu.

In den 1930er Jahren war sie für die tägliche Erziehungsratgeber-Seite der Zeitung Diário de Notícias verantwortlich. 1934 wurde sie zur Leiterin eines Pädagogischen Instituts berufen und richtete eine Bibliothek für Kinder ein. In der Zeitschrift A Manhã veröffentlichte sie in den 1940er Jahren mehrere Beiträge über Kinderfolklore.

Neben ihrer pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Tätigkeit setzte Meireles auch ihre dichterische und literaturwissenschaftliche Arbeit fort. Sie veröffentlichte mehrere Gedichtbände und wurde 1935 Literaturdozentin an der größten brasilianischen Universität, der Universidade Federal do Rio de Janeiro.

Seit 1940 war Meireles auch vermehrt im Ausland tätig, u.a. als Dozentin für brasilianische Literatur und Kultur an der University of Texas. Weitere Reisen führten sie nach Indien, Chile und natürlich auch nach Portugal, das sie bereits in den 1930er Jahren mit ihrem damaligen Mann bereist hatte. Außerdem hat sie sich mit der jüdischen Kultur beschäftigt, was 1963 in einen Band mit Übersetzungen israelischer Gedichte mündete.

Eine Sehnsucht, die sich ihrer Vergeblichkeit bewusst ist: die Saudade

Das Gedicht Canção (Lied) erzählt von einem Traum, der begraben wird, weil man nicht mehr daran glaubt, dass er verwirklicht werden kann. Dadurch weist der Text eine enge Beziehung zur Saudade auf. Denn mit diesem Begriff wird in Portugal ja ebenfalls ein Gefühlskomplex bezeichnet, der auf einer starken Sehnsucht bei gleichzeitiger Einsicht in die Unerreichbarkeit des Ersehnten beruht.

Die Saudade ist wiederum das emotionale Kernelement des Fados. So ist es kein Wunder, dass der Komponist Alain Oulman (1928 – 1990) auf das Gedicht aufmerksam geworden ist. Oulman stammte aus einer jüdisch-französishcen Familie, wuchs aber in Portugal auf. Für die Entwicklung des Fados war vor allem seine Zusammenarbeit mit der Sängerin Amália Rodrigues fruchtbar.

Oulman, der Portugal 1966 aufgrund von Konflikten mit dem damaligen autoritären Salazar-Regime verlassen musste und in Paris eine verlegerische Tätigkeit aufnahm, vertonte das Gedicht, wozu es durch seinen Titel ja auch einlud. Er benannte es dafür fado-typisch in Naufrágio (Schiffbruch) um und kürzte es um die letzte Strophe.

Das in Portugal sehr populäre Lied ist von mehreren berühmten Fadistas gesungen worden, u.a. von Maria da Fé und Amália Rodrigues, für deren Album Com Que Voz („Mit welcher Stimme“) das Lied 1970 erstmals aufgenommen worden ist.

Steckbrief zum Fado

Der Fado war ursprünglich ein Element der Volkskultur, ein Liedgut, das in Hafenkneipen und Bars gepflegt und weiterentwickelt wurde. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde er auch für Liederabende in den bürgerlichen Salons adaptiert.

Es dauerte allerdings noch bis ins 20. Jahrhundert, ehe sich die heute als klassisch geltende Fado-Darbietungsform herauskristallisierte. Dabei wird jeweils ein einzelner Fado-Sänger oder eine Fado-Sängerin – der oder die Fadista – von einer klassischen Gitarre, oft auch einer Bassgitarre und vor allem der „guitarra portuguesa“ begleitet. Der Name dieses Instruments ist insofern irreführend, als es sich dabei um eine zwölfsaitige Cister handelt, eine Kastenhalslaute, bei der die Töne durch Zupfen der Saiten erzeugt werden.

Neben diesem klassischen Fado-Setting hat sich allerdings auch die Praxis des spontanen Fado-Gesangs erhalten. In speziellen Fado-Lokalen kreieren die Anwesenden dabei gemeinsam einen Fado, indem alle reihum jeweils eine eigene, selbst gedichtete Strophe vortragen.

Der typische Fado-Gesang zeichnet sich durch einen raschen Wechsel der Tonhöhen aus. Dies erinnert an arabische Gesangspraktiken und verweist so auf mögliche Wurzeln des Fados in der Vergangenheit Portugals, als das Land Teil des muslimischen Herrschaftsraums war.

Als Zentren des Fados gelten Lissabon und Coimbra, das eine der ältesten Universitäten Europas beherbergt (Gründung bereits 1290). Während es im Fado de Coimbra eher um die Stadt selbst und um das Studentenleben geht, mischen sich in den Lissabonner Fado auch immer wieder sozialkritische Töne.

Der Fado wird in den kommenden Wochen Schwerpunktthema am Poetry Day auf LiteraturPlanet sein.

Links zur Einstimmung und Vertiefung

Bargon, Sebastian: Der Schrei der Unterdrückten. Musik zur Krise aus Spanien, Portugal und Griechenland (PDF). SWR2 „Tandem“ vom 27. Januar 2012.

Faget, Jochen: Das Leben ist ein Fado. Die Portugiesen und ihre musikalische Visitenkarte (PDF). Deutschlandfunk, „Gesichter Europas“, 15. Dezember 2012.

Gumbrecht, Hans Ulrich: Fado, Schicksal und der Ursprung von Authentizität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Blogs, 19. Juli 2014.

Hildebrandt, Camilla: Fado ohne Staubschicht: Die Sänger António Zambujo und Telmo Pires. Deutschlandfunk, „Lied- und Folkgeschichte(n)“, 1. April 2016.

Schormann, Tobias: Fado in Portugal: Lissabon hat den Blues. In: Spiegel online, 3. Mai 2012.

Sohl, Gaby: Mariza über den Ursprung des Fado: „Fado ist die Musik der Seele.“ Interview mit der Fado-Sängerin Mariza. In: taz vom 16. November 2015.

Terkessidis, Mark: Trio Fado. Beitrag des Migrationsforschers Mark Terkessidis zum „Trio Fado“, einer in Deutschland gegründeten Fado-Gruppe, die ein Beispiel ist für das Kon­zept der Website, das deutsche „Heimatlied“ vor dem Hintergrund der Migration um den Aspekt der von den Eingewanderten verlassenen Heimat zu erweitern; mit ausführlichen Hintergrundinformationen zum Fado.

Wilke, Katrin: Musikerin Mísia. Die Anarchistin des Fado. Deutschlandfunk „Corso“, 18. Juni 2015.

Verschiedene Versionen des Liedes / Different Versions of the Song:

Maria Da Fé: Naufrágio (Album: Divino Fado, 2003):

Eine Version des Liedes, in dem das charakteristische Fado-Setting gut zu erkennen ist, stammt von Adriana Marques (aus dem Album Expressão D´alma, 2009)

A version of the song in which the characteristic fado performance style is particularly recognisable is by Adriana Marques (from the album Expressão D´alma, 2009)

Ersteinspielung / First recording:

Amália Rodrigues: Naufrágio (Album: Com Que Voz, 1970):

English Version

The Shipwrecked Dream

A Poem by the Brazilian Lyricist Cecília Meireles. Prelude to a Series on the Portuguese Fado

A dream buried in the sea because its fulfilment seems illusory – this is an ideal theme for the wistful Portuguese Fado. – About a poem by the Brazilian poet Cecília Meireles.

Song

I have abandoned my dream on a ship
and the ship in the mane of the sea.
Then I have carved with my hands
a grave for my dream in the waves.

My hands still drip from the clammy blue
of the rumbling maw of the sea.
And the colour trickling from my fingers
gnaws its way through the deserted beach.

I hear the wind singing from faraway lands,
the night trembling under its hand.
And under the mane of the sea, wrapped
in the skin of the ship, my dream fades away.

But I feed the sea with my tears
to make it grow and flourish.
So my ship will reach the bottom
and make my dream disappear.

Then my petrified eyes,
calm as the smoothed skin of the sea,
will see my broken hands plunge
into the gentle grave of the waves.

Cecilia Meireles: Canção

from: Viagem (Journey; 1939)

A Poetic Pedagogue

Cecília Meireles, who was born in Rio de Janeiro in 1901 and died there in 1964, initially worked as a teacher after leaving school. Although she already published her first book of poetry at the age of 18, she also continued to pursue her educational interests.

In the 1930s, she was in charge of the daily educational advice column in the newspaper Diário de Notícias. In 1934, she was appointed director of a pedagogical institute and established a library for children. In the 1940s, she published several articles on children’s folklore in the magazine A Manhã.

In addition to her pedagogical activities, Meireles also kept on working as a poet and literary scholar. She published several volumes of poetry and in 1935 became a literature lecturer at the largest Brazilian university, the Universidade Federal do Rio de Janeiro.

From 1940, Meireles was also increasingly active abroad, among other things as a lecturer in Brazilian literature and culture at the University of Texas. Further travels took her to India, Chile and, of course, Portugal, which she had already visited with her husband in the 1930s. She was also concerned with Jewish culture, which resulted in a volume of translations of Israeli poetry (Poemas de Israel, 1963).

A Longing Aware of its Futility: the Saudade

The poem Canção (Song) is about a dream that is buried because the hope of realising it is lost. Thus, the text has a close relationship to the Saudade. In Portugal, this term is used to describe a similar emotional setting – namely a complex of feelings based on a strong longing with simultaneous awareness of the unattainability of what is longed for.

The saudade also constitutes the emotional core element of the fado. So it is not surprising that the composer Alain Oulman (1928 – 1990) became interested in the poem. Oulman was born into a Jewish-French family, but grew up in Portugal. With regard to the development of the fado, especially his collaboration with the singer Amália Rodrigues was fruitful.

Oulman, who had to leave Portugal in 1966 due to conflicts with the authoritarian Salazar regime and began working as a publisher in Paris, set the poem to music, encouraged by its title. The resulting fado was renamed Naufrágio (Shipwreck). Moreover, Oulman omitted the last stanza.

Brief Portrait of the Fado

The fado was originally an element of popular culture, a type of song that was cultivated and developed in harbour pubs and bars. It was only in the course of the 19th century that it was also adapted by the bourgeoisie and used for song recitals in the salons of the upper classes.

However, it took until the 20th century before the form of fado performance that is considered classical today took shape. In this, a single fado singer – the faddist – is accompanied by a classical guitar, often also a bass guitar and above all the „guitarra portuguesa“. The name of this instrument is misleading in that it is actually not a guitar, but a twelve-stringed cittern, a necked box lute on which the sounds are produced by plucking the strings.

Apart from the classical fado setting, however, the practice of spontaneous fado singing has also survived. In this case, those present in special fado locations create a fado together by each taking turns to sing their own self-penned stanza.

Typical fado singing is characterised by a rapid change of pitches. This is reminiscent of Arabic singing practices and thus points to possible roots of fado in Portugal’s past, when the country was ruled by Muslim dynasties.

Lisbon and Coimbra, which is home to one of the oldest universities in Europe (founded as early as 1290), are considered the centers of fado. While the Fado de Coimbra is more about the town itself and student life, Lisbon’s Fado also contains socially critical undertones time and again.

In the coming weeks, the fado will be the focus of Poetry Day on Planet Literature.

Links for Further Reading

A brief history of fado can be found on the website of the Museo do Fado. For more detailed information, see McHenry, Jillian: A History of Fado and a Comparison of Fado de Coimbra and Fado de Lisboa (PDF).

Different Versions of the Song:

Maria Da Fé: Naufrágio (from the album Divino Fado, 2003)

A version of the song in which the characteristic fado performance style is particularly recognisable is by Adriana Marques (from the album Expressão D’alma, 2009)

First recording:

Amália Rodrigues: Naufrágio (from the album Com Que Voz, 1970)

Bilder / Images: Johan Christian Dahl (1788 – 1857): Das Grab am Meer / The Grave by the Sea (1820); Wikimedia Commons; Christian Morgenstern (1805 – 1867): Abend am Meer / Evening by the Sea (Wikimedia Commons); Cecilia Meireles beim Blättern in einem Fotalbum / Cecilia Meireles flipping through a photo album (Brazilian National Archives / Wikimedia Commons)

Eine Antwort auf „Der schiffbrüchige Traum / The Shipwrecked Dream

  1. Elias

    Ein wundervoller Text (Übertragung), interessante Infos und Gedanken und schöne Musik!- Danke. Ich finde es interessant, die verschiedenen Varianten zu hören. Mir persönlich gefällt die von Amália Rodrigues am besten. Danach die von Maria Da Fé. Die dritte Variante ist einfach etwas zu „weichgespült“ für meinen Geschmack. Toll auch mal einen Fadosong ohne das klassische Thema zu hören 😉

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