Ein Besatzungsregime ist wie ein unsichtbares Gefängnis. Es ist überall zu spüren, aber nirgends deutlich zu sehen. Gerade dies macht seine Bedrohung aus.
An occupation regime is like an invisible prison. It can be felt everywhere, but nowhere clearly seen. This is precisely what makes it so threatening.
Die Mauer, die dich umgibt, ist nicht auf Anhieb sichtbar. Eigentlich ist sie überhaupt nicht sichtbar – obwohl du ihren Schatten in jeder Sekunde auf deiner Haut spürst.
Am deutlichsten macht sich die Mauer bemerkbar, wenn du den Mund öffnest. Dann fallen die Worte in dich zurück, als würden sie an einer unsichtbaren Wand abprallen. Denn die Worte, die du sprichst, sind nicht deine Worte. Und die Worte, die du eigentlich sagen möchtest, zerfallen in deinem Mund, bevor du sie aussprechen kannst. Der eisige Schatten der Mauer lässt alles erstarren, was nicht seiner Existenzform entspricht.
Du spürst ganz deutlich, dass die Mauer sich immer weiter ausbreitet. Sie steht nicht bloß da als eine klare Begrenzung deines Bewegungsradius. Sie ist nicht einfach nur eine Gefängnismauer. Diese Mauer ist überall, ohne dass du sie jemals sehen kannst. Immer näher rückt sie an dich heran, sie umschließt dich, sie dringt in dich ein, ihr kalter Atem nimmt dir die Luft zum Atmen.
Ja, diese Mauer atmet. Denn es ist keine Mauer aus Stein. Diese Mauer besteht aus lauter Körpern, aus abgestorbenen Herzen und Gehirnen, die sich folgsam auftürmen lassen zu einem unüberwindbaren Hindernis für alle, die sich ihr nicht fügen.
Das Schlimmste ist, dass du den Körpern von außen nicht ansiehst, ob sie ein Teil der Mauer sind. Es stimmt zwar, dass die Mauer wie eine einzige große Uniform ist, weshalb uniformierte Körper ihr eher anzugehören scheinen als andere. Allerdings kann die Uniformierung auch eine Tarnung sein, mit der Einzelne sich dem alles unter sich begrabenden Schatten der Mauer zu entziehen versuchen.
In anderen Fällen ist die Uniformierung eine innere, von außen nicht sichtbare. Mitunter wird auch mit Absicht auf sie verzichtet, um andere zu täuschen. Von diesen Mauerteilen geht eine besondere Gefahr aus. Wer sich nicht in Acht nimmt, kann leicht von ihnen erschlagen werden.
Bis heute hast du keinen Weg gefunden, wie du mit der Mauer umgehen sollst. Das Einzige, was du sicher weißt, ist: Auf Dauer wirst du in den Krakenarmen der Mauer nicht überleben können. Aber wie sollst du dich ihr entziehen?
Solange du im Bannkreis der Mauer bleibst, wird dich ihr Spinnennetz überallhin begleiten. Das Gift, das von ihm ausgeht, wird dich von innen zersetzen, bis deine Seele ausgelöscht ist. Die Person, als die du dann weiterleben wirst, wird nicht mehr die sein, die du jetzt bist und sein willst.
Du weißt natürlich, dass die Mauer noch lange nicht das erreicht hat, wohin sie ihrem Wesen nach tendiert: die Herrschaft über den gesamten Erdenkreis zu übernehmen. Noch gibt es eine Grenze, jenseits derer ihre Krakenarme nichts ausrichten können. Dorthin willst, dorthin musst du fliehen.
Aber wie sollst du diese Grenze erreichen? Von Menschen, die sich auf den Weg dorthin begeben haben, hast du wahre Schauergeschichten gehört. Das Spinnennetz der Mauer scheint sich zu verdichten, je näher man der Grenze kommt. Nicht wenige haben sich hoffnungslos darin verfangen und sind elend zugrunde gegangen. Andere sind – so hast du gehört – von ihr aufgesogen worden und fanden sich auf einmal tief im Inneren des Labyrinths wider, über das die Mauer wacht.
Hinzu kommt, dass für die Mauer das Gegenteil von dem zu gelten scheint, was du vom Erdinneren weißt. Während die Temperaturen im Inneren des Mauerreichs auf Eisniveau sind, sind sie an ihren Rändern unerträglich hoch. Die Flucht gleicht daher einer Reise vom ewigen Eis durch die sengende Wüstenhitze in ein unbekanntes Land.
Denn auch das ist eine Wirkung der Mauer: Sie hüllt alles, was jenseits von ihr liegt, in einen dichten Nebel. So weißt du von dem Land jenseits der Mauer kaum mehr, als dass die Mauer sich dort noch nicht ausgebreitet hat. Wie dein Leben dort aussehen wird, ist dir jedoch völlig unklar.
Was sollst du also tun? Bleiben ist keine Option – der Ausbruch aus den Fängen der Mauer kann aber ebenfalls dein Ende bedeuten. So sitzt du da und tastest mit den Augen angestrengt den Horizont nach einer Lücke in der Mauer ab, während du gleichzeitig spürst, wie das Gift ihrer Krakenarme dich immer stärker lähmt.
English Version
The Wall
The wall that surrounds you is not immediately visible. In fact, it is not visible at all – although you feel its shadow on your skin every second.
The most noticeable effect of the wall can be felt when you open your mouth. Then the words fall back into you as if they were bouncing off an invisible wall. For the words you speak are not your own words. And the words you actually want to say disintegrate in your mouth before you can utter them. The icy shadow of the wall freezes everything that does not correspond to its form of existence.
You clearly feel that the wall is expanding. It is not just a distinct limitation of your radius of movement. It is not simply a prison wall. This wall is everywhere without you ever being able to see it. It comes closer and closer to you, it surrounds you, it penetrates you, its cold breeze takes away your breath.
In fact, the wall itself is breathing. It is not a wall of stone. Rather, it consists of bodies, of deadened hearts and brains that obediently pile up to form an insurmountable obstacle for all those who do not submit to it.
The worst thing is that you can’t tell from the outside whether the bodies are part of the wall. It is true that the wall is like one big uniform, which is why uniformed bodies seem to belong to it more than others. However, a uniform can also be a camouflage used by individuals to escape the all-pervading shadow of the wall.
In other cases, the uniformity is internal, not visible from the outside. At times, the uniform is even deliberately omitted in order to deceive others. These parts of the wall pose a particular threat. Those who are not careful can easily be crushed by them.
Until now you have not found a way to deal with the wall. The only thing you know for sure is that in the long run you will not be able to survive in its octopus arms. But what can you do to escape it?
As long as you remain within the sphere of the wall, its spider’s web will accompany you wherever you go. The poison that emanates from it will decompose you from within until your soul is extinguished. The person that you will be then will no longer be the one you are now and want to be.
You know, of course, that the wall is still a long way from reaching what it tends to strive for by its very nature: the domination of the whole world. There is still a border beyond which its octopus arms are powerless. That is where you want to go, that is the place you have to flee to.
But how are you supposed to reach this border? You have heard veritable horror stories from people who have made their way there. The cobweb of the wall seems to grow thicker the closer you get to the border. Quite a few have become hopelessly entangled in it and perished miserably. Others have been absorbed by it – so you have heard – and suddenly found themselves deep inside the labyrinth over which the wall watches.
To make matters worse, the wall seems to follow the opposite pattern of what you know about the Earth’s interior. While the temperatures within the realm of the wall are at ice level, they are unbearably high at its edges. The escape is therefore like a journey from the eternal ice through the scorching desert heat to an unknown land.
That, too, is an effect of the wall: it envelops everything that lies beyond it in a dense fog. Therefore, you know little more about the land beyond the wall than that the wall has not yet spread there. What your life will be like there, though, is completely unclear to you.
So what should you do? Staying is not an option – but breaking out of the wall’s clutches can also mean your demise. So you sit there, with your eyes scanning the horizon for a gap in the wall, while at the same time you feel the poison of its octopus arms paralysing you more and more.
Bilder / Images: Stefan Schweihofer: Geheimnisvolle Mauer / Mysterious Wall (Pixabay, modified); Koon Boh Goh: Treppe / Staircase (Pixabay)
Eva Morgenstern
Der Text macht die „Bedrückung“ besonders gut spürbar. Die Nachrichten aus der Ukraine sind so hoffnungslos. Nur einer (und seine Anhänger) kann dem unendlichen Leid ein Ende setzen und der klebt nur an seiner Macht und dafür mordet er und zerstört Leben.
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