Pariisin Kevät: Kesäyö
Wer reist, bewegt sich in einem Zwischenreich, in dem die bisherigen Gewissheiten ins Wanken geraten. Ein solches Zwischenreich sind auch die Mittsommernächte.
Sommernacht
Im Dämmerlicht sitzend,
versank ich in einem Augenblick,
der nie zu enden schien.
Die Stille umfing mich
wie ein lebendiges Wesen
und wisperte:
„Hab keine Angst vor der Welt …“
Wir saßen beieinander,
und das Universum schaute auf uns herab.
Und funkelnd übergoss die Sommernacht
mit Tränen mein Gesicht.
Ich erwache an einem Strand,
die Nacht ist heller als der Tag,
die Sternenfähren gleiten in den Morgen.
Eingehüllt in einen Umhang des Vergessens,
weiß ich nicht mehr,
wie ich hierher gelangt bin.
Nur an Luftschiffe kann ich mich erinnern,
die der Himmelsküste entgegenschweben.
Und funkelnd übergoss die Sommernacht
mit Tränen mein Gesicht.
Im Dämmerlicht sitzend,
warte ich noch immer auf den Augenblick,
der niemals enden wird,
auf die Stille, die mich umfangen wird
wie ein lebendiges Wesen
und mir zuraunen wird:
„Nichts bleibt … Alles entschwindet …“
Lichtschauer fliehen über den Himmel,
fröstelnd spüre ich sie auf meiner Haut.
Und funkelnd übergoss die Sommernacht
mit Tränen mein Gesicht.
Pariisin Kevät: Kesäyö
aus: Kaikki on satua (2012)
Von Alltagsparadiesen und dem Wagnis des Reisens
Nicht alle, die sich auf Reisen begeben, suchen dabei nach dem ganz Anderen. Der Stress des modernen Erwerbslebens, aber auch die ganz normalen Belasstungen des Alltagslebens bringen es mit sich, dass nach einer gewissen Zeit bei vielen schlicht das Erholungsbedürfnis überwiegt.
Gesucht wird dann nicht eine Umgebung, die durch ihre ganz anders gearteten Strukturen Verwirrung stiftet, sondern das genaue Gegenteil: eine wohlstrukturierte Umgebung, in der alle Unwägbarkeiten ausgeschlossen sind. Eine Umgebung, die den Strukturen des bekannten Alltags entspricht, aber dessen Schattenseiten eliminiert. Eine Art Alltagsparadies, in der Eisdielen, die Vergnügungen des Sonntagsausflugs, Spiel und Spaß erhalten bleiben, Bürden und Zwänge des gewohnten Alltagslebens aber in weiter Ferne sind.
Viele fürchten darüber hinaus wohl auch die Begegnung mit dem ganz Anderen – mit Kulturen, die auf ganz anderen Selbstverständlichkeiten beruhen als denen, die einem von daheim vertraut sind. Urlaub besteht für sie gerade nicht in einem solchen Perspektivwechsel, in einer Infragestellung des Gewohnten, sondern in einem wohligen Vergessen all der Fragen und Zweifel, die immer wieder wie ein Herbststurm an den Mauern des Alltags rütteln.
Andere dagegen erleben genau jenen Perspektivwechsel, den das Eintauchen in eine fremde Kultur ermöglichen kann, als Bereicherung. Das Bad in der unbekannten Welt ist für sie ähnlich erfrischend wie für Strandurlauber das Eintauchen in den Swimming-Pool einer Ferienanlage.
Das Zwischenreich des Reisens
Andererseits: Ist es überhaupt möglich, ganz in eine fremde Kultur einzutauchen? Wird sie uns nicht – gerade bei einem kurzen Urlaub – so fremd bleiben, dass ihre ganz anderen Denk- und Gefühlsweisen an uns abperlen wie Wasser an einem eingeölten Körper?
Und außerdem: Ist es überhaupt wünschenswert für uns, in der fremden Kultur zu versinken? Bedeutet das nicht, dass das Fremde zum Vertrauten wird – und dann nicht mehr jene befreiende Kraft entfalten kann, die wir uns von ihm versprechen?
Nein, in Wahrheit suchen wir gar nicht das ganz Andere. Was wir uns von einer Reise in fremde Welten erhoffen, ist eher die Erfahrung eines Zwischenreichs, in dem sowohl die einen als auch die anderen Wahrheiten ihre unumstößliche Geltung verlieren.
In einem solchen Zwischenreich verlieren wir für kurze Zeit den festen Boden unter den Füßen, den uns sonst die scheinbar unhinterfragbaren Gewissheiten unseres Alltagslebens bieten. Das Ergebnis ist ein Schwindelgefühl wie bei einem leichten Drogenrausch. Nicht immer angenehm, aber eben doch auch „berauschend“ im positiven Sinn einer Euphorie, die uns Schwung und Kraft für eine neue Sicht auf unser Leben gibt.
Wenn wir für uns selbst ein Anderer werden
Eine Reise verwandelt nicht unser Ich. Sie kann uns aber dazu verhelfen, uns anders zu sehen. Sie kann uns einen Spiegel vorhalten, durch den wir einen anderen Blick auf uns selbst und unser Leben gewinnen können.
Diese Distanz zu sich selbst, das Phänomen, für sich selbst ein Anderer zu werden, kann das Ergebnis einer längeren Reise sein. Ein solches Erlebnis kann sich aber auch ganz plötzlich einstellen, mitten im Alltag, in jenen seltenen Augenblicken, in denen für Sekunden der Vorhang des Gewohnten fällt und wir die Dinge ohne den Schleier der vertrauten Deutungsmuster wahrnehmen.
Dieser „Kairos“, ein ganz besonderer, gewissermaßen aus der Zeit gefallener Augenblick, ist im Prinzip an keine bestimmten Voraussetzungen gebunden. Denn es ist ja gerade sein Kennzeichen, dass er sich plötzlich und unerwartet einstellt.
Allerdings gibt es bestimmte Konstellationen, unter denen es wahrscheinlicher ist, dass sich ein solcher außerzeitlicher Moment, in dem wir unser Leben wie von außen sehen, einstellt. Dazu gehört sicherlich die Dämmerung, die mit ihrem „Zwielicht“ wesensmäßig einer weder dem Tag noch der Nacht zuzurechnenden Zwischenwelt angehört.
Dionysischer Mittsommer
Die veränderten Lichtverhältnisse in der Dämmerung haben zu allen Zeiten die Maler inspiriert. Und auch für Geistergeschichten ist das „gespenstische“ Zwielicht ein bevorzugtes Ambiente.
Auf dieser Erfahrung beruht auch der mystische Zauber der Mittsommernächte. Denn hier ist die Dämmerung nicht nur ein kurzer Moment zwischen Tag und Nacht. Vielmehr wird sie hier zu einem länger andauernden Zustand, der die Weltwahrnehmung der Menschen über einen längeren Zeitraum prägt.
So bringen die Mittsommernächte weit mehr als nur die Gewissheiten des Alltags ins Wanken. In ihnen verliert auch das seine absolute Gültigkeit, was wir als die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Lebens wahrnehmen. Vergangenheit und Zukunft fließen hier ineinander, Tod und Leben berühren sich, Traum und Wirklichkeit verschwimmen miteinander.
Mittsommernächte sind damit die nordische Variante der antiken Dionysien. Wie in diesen Feiern rituell das gewohnte Leben auf den Kopf gestellt wurde, laden auch Mittsommernächte ein zu einem dionysischen Rausch, durch den der scheinbar unumstößlichen Logik des Alltags die Logik des Verkehrten gegenübergestellt wird.
Über Pariisin Kevät

Die Indie-Rockband Pariisin Kevät (Pariser Frühling) startete 2007 zunächst als Solo-Projekt von Arto Tuunela, der zuvor in der Alternative Rockband Major Label aktiv war. Erst als der Sänger mit seinem zweiten, 2010 erschienenen Album auf Tournee gehen wollte, gründete er eine Band, die seitdem auch die Alben gemeinsam mit ihm einspielt.
Pariisin Kevät hat bis 2019 sieben Alben herausgebracht. Die Band ist in Finnland ausgesprochen populär und mit ihren Musikprojekten stets weit oben in den Charts gelistet.
Der 1979 geborene Tuunela hat auch Songs für andere geschrieben und produziert. Daneben schreibt er auch Filmmusik.
English Version
Magical Midsummer Nights
Pariisin Kevät: Kesäyö
Anyone who travels moves in an intermediate realm in which previous certainties begin to waver. This also applies to the midsummer nights.
Summer Night
Sitting in the twilight,
I sank into a never ending moment
The silence enveloped me
like a living being
and whispered:
„Don’t be afraid of the world …“
We sat together
while the universe looked down on us.
And sparkling the summer night
sprinkled my face with tears.
I wake up on a beach,
the night is brighter than the day,
the star ferries glide into the morning.
Wrapped in a cloak of oblivion,
I no longer know
how I got here.
Only airships do I remember,
floating towards the celestial coast.
And sparkling the summer night
sprinkled my face with tears.
Sitting in the twilight,
I’m still waiting for the moment
that will never end,
for the silence that will envelop me
like a living being
and whisper to me:
„Nothing remains … Everything disappears …“
Showers of light flash across the sky.
Shivering, I feel them on my skin.
And sparkling the summer night
sprinkled my face with tears.
Pariisin Kevät: Kesäyö
from: Kaikki on satua (2012)
Of Everyday Paradises and the Venture of Travelling
Not everyone who sets off on a journey is looking for something completely different. The stress of modern working life, but also the quite normal burdens of everyday life, have the effect that after a certain time the need for relaxation simply prevails.
What is sought then is not an environment that creates confusion through its completely different structures, but the exact opposite: a well-structured environment in which all imponderables are excluded. An environment that corresponds to the structures of everyday life, but eliminates its dark sides. A kind of everyday paradise in which ice cream parlours, the pleasures of Sunday outings, games and fun are preserved, but the burdens and constraints of the usual everyday life are far away.
Many, however, generally fear the encounter with the completely different – with cultures that are based on totally different principles than the ones they are familiar with at home. For these people, a holiday does not consist in the opportunity of changing perspectives, in questioning what they are used to, but in comfortably forgetting all the questions and doubts that keep shaking the walls of everyday life like an autumn storm.
Others experience precisely the change of perspective that the immersion in a foreign culture can make possible as enriching. For them, bathing in the unknown world is as exciting as diving into the swimming pool of a holiday resort for beach tourists.
The Intermediate Realm of Travelling
But is it even possible to immerse ourselves completely in a foreign culture? Won’t it remain so alien to us – especially on a short holiday – that its different ways of thinking and feeling will elude our minds like water running off an oiled body?
And besides, is it really desirable for us to be entirely immersed in the foreign culture? Doesn’t that mean that the foreign becomes the familiar – and then can no longer unfold the liberating power that we expect from it?
Ultimately, we are not looking for the completely different. What we hope to achieve by travelling to foreign worlds is rather the experience of an intermediate realm in which both the familiar and the unfamiliar truths lose their indisputable validity.
In such an intermediate realm, we briefly lose the solid ground under our feet that is otherwise provided by the seemingly unquestionable certainties of our everyday life. The result is a feeling of dizziness like that of a mild drug high. Not always pleasant, but still exhilarating in the positive sense of a euphoria that gives us momentum and strength to try out a new perspective on our lives.
Becoming an Other for Ourselves
A journey does not completely transform our self. But it can help us to see ourselves differently. It can be like a mirror through which we can gain a different view of ourselves and our lives.
This distance from ourselves, the phenomenon of becoming an Other to ourselves, can be the result of a longer journey. But such an experience can also occur quite suddenly, in the middle of everyday life, in those rare moments when for seconds the curtain of the familiar falls and we perceive things without the veil of the habitual patterns of interpretation.
This „kairos“, in the sense a very special moment out of time, is in principle not bound to any particular preconditions. After all, it is precisely its characteristic that it occurs suddenly and unexpectedly.
However, there are certain constellations under which it is more likely that such an extra-temporal moment, in which we see our lives as if from outside, occurs. This certainly includes dusk and dawn, which, with their characteristic twilight, by their very nature belong to an intermediate realm that can be attributed neither to the day nor to the night.
Dionysian Midsummer
The changing light conditions at dusk amd dawn have inspired painters throughout the ages. And the spooky twilight is also a preferred ambience for ghost stories.
This experience is also crucial for the mystical magic of the midsummer nights. Here, twilight is not just a brief moment between day and night. Rather, it becomes a longer lasting state that shapes people’s perception of the world over a longer period of time.
So the midsummer nights shake up far more than just the certainties of everyday life. In them, even what we perceive as the fundamental laws of life lose their absolute validity. Past and future flow into each other, death and life merge, dream and reality become blurred.
Midsummer nights are thus the Nordic version of the ancient Dionysia. Just as in these celebrations the usual life was ritually turned upside down, midsummer nights invite us to a Dionysian frenzy, through which the seemingly irrefutable logic of everyday life is confronted with the logic of the reversed.
About Pariisin Kevät
The indie rock band Pariisin Kevät („Springtime in Paris“) started in 2007 as a solo project by Arto Tuunela, who had previously been active in the alternative rock band Major Label. It was only when the singer wanted to go on tour with his second album in 2010 that he formed a band, which has since recorded the albums with him.
Pariisin Kevät has released seven albums up to 2019. The band is very popular in Finland and their music projects have always charted high.
Born in 1979, Tuunela has also written and produced songs for others. In addition, he is active as a composer of film music.
Bilder / Images: Arthur Rackham (1867 – 1939):Die schlafende Titania / The Sleeping Titania; illustration to William Shakespeare’s A Midsummer Night’s Dream, 1909 (Wikimedia Commons); Faeth, Andy: Abendstimmung am See / Evening mood at a lake (Pixabay; Tuomas Vitikainen: Arto Tuunela in 2014 performing with Pariisin Kevät at the Ilosaarirock festival in Joensuu, eastern Finland (Wikimedia Commons)
Manfred
Was für ein Ohrwurm. Macht süchtig. Dazu die schöne Übertragung des Textes und die interessanten Gedanken und Infos! Danke!
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