Alexander Galitschs Tanzlied der Henker (1969) / Alexander Galich’s Dance Song of the Hangmen
Der in der Ukraine geborene Dichter Alexander Galitsch (1918 – 1977) warnte schon früh vor einem Wiedererstarken des Stalinismus. Auf hintersinnig-makabre Weise verdeutlicht sein Tanzlied der Henker die gewalttätigen Folgen, die damit einhergehen.
Tanzlied der Henker
Sie schlafen schlecht des Nachts, die Henker,
und also besucht ein Henker den andern.
Gastfreundlich, keine Kosten scheuend,
bewirtet ein Henker den andern.
Sie servieren Kaviar und Kognak,
nur die allerfeinsten Sorten,
als Nachtisch gibt es Tee und Plätzchen,
alles von erlesenem Geschmack.
Dann singen die Meister
des schulterschwingenden Handwerks
leise, aber mit Inbrunst
von „Stalin, dem weisen, geliebten,
dem vaterländischen Herrscher“.
„Wir sind bereit!“ rufen die Henker.
„Unsere Zeit wird kommen!“
„Wenn es nur schon so weit wäre!“
„Steh auf, Väterchen Stalin, und weise uns den Weg!“
Heiße Tränen tropfen auf den Kaviar,
der glänzend von dem Weißbrot quillt.
Oft sind sie traurig des Nachts, die Henker –
habt Mitleid mit ihnen, ihr einfachen Menschen!
Noch schlimmer ist es für die Henker,
wenn nachts von Henkern Henker träumen –
wenn wie im echten Leben, nur noch härter,
ein Henker dem andern die Fresse poliert.
Tritte in die Magengrube bringen zurück
die schöne Jugendzeit – nur dass nun sie selbst
sich schreiend und wehklagend winden.
So rufen sie nach Erster Hilfe,
schleichen schlaflos durch die Nacht
und träumen traurig von ihm,
von „Stalin, dem weisen, geliebten,
dem vaterländischen Herrscher“.
„Damals herrschte noch Ordnung“, seufzen die Henker.
„Wohlstand gab es für alle!“
„Was getan werden musste, wurde getan!“
„Was immer du wolltest – du hast es bekommen!“
Mühsam ringen nach Atem die alten Ordnungswächter,
ihre Stimme ist zu schwach für ihre Schreie.
Auch Henker fürchten sich des Nachts –
habt Mitleid mit ihnen, ihr einfachen Menschen!
Alexander Galitsch (Александр Галич): Плясовая палачей
Historischer Hintergrund des Liedes
Unvollständige Entstalinisierung
Die Rückkehr der Henker: Galitschs düstere Vision
Die Henker als wahre Führer des Volkes: Fiktion und Realität
Historischer Hintergrund des Liedes
Als Nikita Chruschtschow 1953, nach Stalins Tod, die Macht in der Sowjetunion übernahm, leitete das eine Phase der Entstalinisierung ein. Konkret bedeutete das, dass der Personenkult um Stalin beendet und beim Umgang mit Oppositionellen eine weniger rabiate Gangart eingeschlagen wurde.
Außerdem wurde das Verhältnis zum westlichen Ausland auf eine pragmatischere Grundlage gestellt. An die Stelle der bisherigen Kampfrhetorik trat nun die Vorstellung eines Wettbewerbs der Systeme, in dem der Sozialismus sich langfristig als dem Kapitalismus überlegen erweisen sollte.
Unvollständige Entstalinisierung
Allerdings wies die Entstalinisierung von Anfang an Brüche auf. Dies gilt zunächst in Bezug auf den Regierungsstil Chruschtschows, der für sich selbst dieselbe uneingeschränkte Machtfülle beanspruchte, wie sie zuvor Stalin innegehabt hatte.
Außerdem blieb die Idee eines friedlichen Systemwettbewerbs auf jene Staaten beschränkt, die sich außerhalb des Warschauer Paktes befanden. Bei den darin zusammengeschlossenen Ländern wurde – wie 1956 in Ungarn – die Herrschaft des Realsozialismus notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt.
Schließlich war die neue Ideologie auch keineswegs so friedlich, wie sie sich nach außen hin gab. So fiel die Kuba-Krise – ausgelöst durch von der Sowjetunion auf der Insel stationierte, atomar bestückbare Mittelstreckenraketen – ausgerechnet in die Zeit des vermeintlichen Tauwetterpräsidenten Chruschtschow.
Hinzu kam, dass Chruschtschows Öffnungspolitik – so vorsichtig und begrenzt sie auch sein mochte – von Anfang an auf heftigen Widerstand in den sowjetischen Führungsgremien stieß. In Verbindung mit Misserfolgen in Chruschtschows Wirtschaftspolitik – insbesondere in der Landwirtschaft, die er noch stärker zentralisierte – hatte dies 1964 auch seine Abwahl im Zentralkomitee der kommunistischen Partei zur Folge.
Mit Leonid Breschnew kam nun ein Parteifunktionär an die Macht, der eine weit geringere Distanz zu Stalin hatte. Die offizielle Abkehr vom stalinistischen Personenkult wurde folglich wieder zurückgenommen. Auch die von Chruschtschow eingeleiteten Reformen in Partei und Gesellschaft, die wenigstens innerhalb der Grenzen der sozialistischen Doktrin einen offeneren Diskurs ermöglichen sollten, wurden außer Kraft gesetzt.
Die Rückkehr der Henker: Galitschs düstere Vision
Vor diesem Hintergrund ist auch Alexander Galitschs Tanzlied der Henker (Плясовая палачей) zu sehen. Der Dichter entwirft darin das makabere Bild einstiger Henker, die sich Nacht für Nacht treffen, um bei Kaviar und feinem Kognak in Erinnerungen an die gute, alte Zeit zu schwelgen.
Diese gute, alte Zeit ist für sie – wie sie mehrfach bekunden – die von „Stalin, dem weisen, geliebten, dem vaterländischen Herrscher“ geprägte Epoche. Sie hat ihren Wohlstand begründet, damals besaßen sie, die in der Phase der „Säuberungen“ jeden foltern und töten durften, der ein Stalin-Bild auch nur schief angesehen hatte, unumschränkte Macht.
Die nächtlichen Gelage vermitteln zunächst den Eindruck der Unantastbarkeit der einstigen Henker. Dem stehen allerdings ihre Alpträume entgegen, in denen sie sich kurioserweise gegenseitig foltern und schikanieren. Offenbar fürchten sie insgeheim eben doch, sie könnten eines Tages für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden.
Auf der Ebene des bewussten Denkens lassen sie allerdings keinerlei Kritik an den von ihnen begangenen Grausamkeiten an sich heran. Ganz im Gegenteil: Sie bemitleiden sich sogar dafür, als Lohn für das von ihnen Geleistete von Alpträumen geplagt zu werden.
Die Henker als wahre Führer des Volkes: Fiktion und Realität
Diese Larmoyanz zeugt nicht nur von gekränkter Eitelkeit. Sie enthält auch den Anspruch, über dem Volk zu stehen und mit der Kraft des Fallbeils seine Geschicke zu lenken.
So sind die Henker auch fest davon überzeugt, dass dereinst erneut ihre große Stunde schlagen wird: dass der Stalinismus erneut die Geschicke der Politik bestimmen und ihnen dadurch wieder eine Führungsrolle im Staat zufallen wird.
Diese düstere Prophezeiung hat sich nicht nur in den bleiernen Breschnew-Jahren bewahrheitet. Auch in den Perestroika-Jahren verblieb die Entstalinisierung auf einer oberflächlichen, formaljuristischen Ebene und bewirkte keinen durchgreifenden geistigen Wandel.
So erfolgte unter Wladimir Putin eine erneute Stalin-Renaissance, die auch mit einer Anknüpfung an die repressive und imperiale Politik des Diktators einherging. Dass den „Henkern“ dabei eine zentrale Rolle zufällt, wird der Welt derzeit gerade überdeutlich vor Augen geführt.
Über Alexander Galitsch

Alexander (Olexander) Galitsch (Galich) wurde als Alexander Arkadjewitsch Ginsburg (Алекса́ндр Арка́дьевич Гинзбург) 1918 im ukrainischen Dnipro(-petrowsk) geboren. Der Name Galitsch (Га́лич) ist ein Künstlername, den der Dichter als Kofferwort aus seinem Vor-, Vaters- und Familiennamen gebildet hat.
Galitschs Familie, die dem jüdischen Bildungsbürgertum entstammt, zog 1923 nach Moskau. Dort studierte Galitsch nach der Schulzeit einige Semester am Maxim-Gorki-Literaturinstitut und an einer Schauspielschule. Vom Militärdienst als „untauglich“ zurückgestellt, arbeitete er anschließend als Dramaturg und Schauspieler im tschetschenischen Grosni und im usbekischen Taschkent.
In den Nachkriegsjahren war er zunächst als Dramatiker und Drehbuchautor erfolgreich, geriet dann jedoch zunehmend in Konflikt mit den Behörden. Auch als Folge hiervon verlegte er sich auf das Schreiben von Gedichten, die er selbst vertonte und im kleinen Kreis vortrug. Einen einzigen öffentlichen Auftritt im Jahr 1968 quittierten die Behörden umgehend mit einem strikten Auftrittsverbot und einem Ausschluss aus sämtlichen Gremien und Verbänden der Kulturschaffenden.
So sah Galitsch sich zur Emigration gezwungen. Über Norwegen gelangte er 1974 nach München, von wo er nach Paris weiterzog. Dort starb er drei Jahre später unter ungeklärten Umständen an einem Stromschlag. Bis heute wird über einen Auftragsmord des KGB spekuliert.
English Version
A Ghostly Banquette
Alexander Galich’s Dance Song of the Hangmen
The Ukrainian-born poet Alexander Galich (1918 – 1977) warned early on of a resurgence of Stalinism. In a subtly macabre way, his Hangmen’s Dance Song illustrates the violent consequences associated with this.
The Hangmen’s Dance Song
They sleep badly at night, the hangmen,
and so one hangman visits another.
Hospitably, sparing no expense,
one hangman caters another.
They serve caviar and cognac,
only the finest kinds,
and for dessert, tea and biscuits,
all of exquisite taste.
Then the forgotten masters
of the shoulder-swinging craft
sing softly, but with fervour
of „Stalin, the wise, beloved,
the patriotic ruler“.
„We are ready!“ exclaim the executioners.
„Our time will come!“
„If only it were already so!“
„Stand up, Father Stalin, and show us the way!“
Hot tears drip onto the caviar,
that oozes lustrously from the white bread.
Often they are sad at night, the hangmen –
have pity on them, you ordinary people!
The worst thing for the hangmen is,
when hangmen dream of hangmen at night –
when, as in real life, only harder,
one hangman beats the other hangman’s face in.
Kicks in the pit of the stomach bring back
the beautiful days of youth – only that now
they themselves are screaming and wailing.
So they call for first aid,
creeping sleeplessly through the night
and dreaming sadly of him,
of „Stalin, the wise, beloved,
the patriotic ruler“.
„In those days there was order,“ the hangmen sigh.
„There was prosperity for all!“
„What had to be done, was done!“
„Whatever you wanted – you got it!“
The old law enforcers struggle for breath,
their voices are too weak for their cries.
Even hangmen are afraid at night –
have pity on them, you ordinary people!
Alexander Galich (Александр Галич): Плясовая палачей (1969)
Historical Background of the Song
The Return of the Hangmen: Galich’s Gloomy Vision
The Hangmen as True Leaders of the People: Fiction and Reality
Historical Background of the Song
When in 1953, after Stalin’s death, Nikita Khrushchev took over power in the Soviet Union, this ushered in a period of destalinisation. In concrete terms, this meant that the personality cult around Stalin was ended and a less brutal approach was taken towards the opposition.
In addition, relations with the West were put on a more pragmatic basis. The previous rhetoric of struggle was replaced by the idea of a competition of systems, in which socialism would prove superior to capitalism in the long run.
Incomplete Destalinisation
However, the process of destalinisation was marked by disruptions from the very beginning. This applies first of all to the governmental style of Khrushchev, who claimed for himself the same unrestricted power as Stalin had held before.
Moreover, the idea of a peaceful competition of systems remained limited to states outside the Warsaw Pact. In the countries belonging to the alliance, the domination of socialism was imposed by force, if necessary, as in Hungary in 1956.
Finally, the new ideology was by no means as peaceful as it presented itself to the outside world. Thus, the Cuban Missile Crisis – triggered by medium-range nuclear missiles stationed on the island by the Soviet Union – coincided with the supposed thaw period under Khrushchev.
In addition, Khrushchev’s policy of liberalisation – however cautious and limited it was – met with fierce resistance in the Soviet leadership bodies from the very beginning. Together with failures in Khrushchev’s economic policy – especially in the agricultural sector, which he centralised even more strongly –, this resulted in his deselection by the Central Committee of the Communist Party in 1964.
After Khrushchev, a party functionary came to power who had a much smaller distance to Stalin: Leonid Brezhnev. The official renunciation of the Stalinist personality cult was consequently withdrawn. Likewise, the reforms in the party and society introduced by Khrushchev, which were supposed to allow a more open discourse at least within the limits of socialist doctrine, were suspended.
The Return of the Hangmen: Galich’s Gloomy Vision
Alexander Galich’s Dance Song of the Hangmen (Плясовая палачей) can also be seen against this background. In this song, the poet creates a macabre image of former executioners who meet night after night to reminisce about the good old days while enjoying caviar and fine cognac.
For them, these good old days are – as they repeatedly state – the era shaped by „Stalin, the wise, beloved, the patriotic ruler“. It was this epoch that gave rise to their prosperity. At that time, they, who during the period of the Stalinist „purges“ were allowed to torture and kill anyone who looked askance at a Stalin image, possessed unrestricted power.
The nocturnal carousals initially suggest the untouchability of the former executioners. However, this is contradicted by their nightmares, in which they bizarrely torture and harass each other. Apparently they are secretly afraid that one day they might be called to account for their deeds after all.
On the level of conscious thought, however, they do not allow any criticism of the atrocities they once committed. On the contrary, they even pity themselves for being plagued by nightmares as a reward for what they have done.
The Hangmen as True Leaders of the People: Fiction and Reality
This self-pity does not only testify to offended vanity. It also contains the claim to be above the people and to rule over their destiny with the power of the guillotine.
Thus the hangmen are also firmly convinced that one day their great hour will strike again: that Stalinism will once again determine the fate of politics and that they will once again have a leading role in the state.
This gloomy prophecy did not only come true in the leaden Brezhnev period. Even in the perestroika years, destalinisation remained on a superficial level and did not bring about substantial change on a spiritual level.
As a result, under Vladimir Putin, another Stalin renaissance took place, which was accompanied by a resumption of the dictator’s repressive and imperial policies. The fact that the „executioners“ play a central role in this is currently being made abundantly clear to the world.
About Alexander Galich

Alexander (Olexander) Galich was born Alexander Arkadyevich Ginsburg (Алекса́ндр Арка́дьевич Гинзбург) in 1918 in Dnipro(-petrovsk), Ukraine. The name Galich (Га́лич) is a pen name that the poet formed as a portmanteau of his first, patronymic and family name.
In 1923, Galich’s family, who originated from the Jewish educated middle class, moved to Moscow. There, after leaving school, Galich studied for a few semesters at the Maxim Gorky Institute of Literature and at an acting school. Exempted from military service as „unfit“, he then worked as a dramaturge and actor in Grozni, Chechnya, and Tashkent, Uzbekistan.
In the post-war years, he was initially successful as a playwright and screenwriter, but then increasingly came into conflict with the authorities. Partly as a result of this, he shifted to writing poetry, which he set to music himself and recited in small circles. A single public appearance by Galich in 1968 was immediately met with a strict performance ban by the authorities and with his expulsion from all committees and associations of cultural workers.
Thus Galich was forced to emigrate. Via Norway, he reached Munich in 1974, from where he moved on to Paris. There, three years later, he died of an electric shock under unsolved circumstances. To this day, speculation is rife that he was murdered on behalf of the KGB.
Bilder: Pictures: Stefan Keller: Krieger / warriors (Pixabay); Alexander Galich; archive photo, Valeri Lebedev, Wikimedia Commons; Stefan Keller: Henker / Executioner (Pixabay; Ausschnitt/detail)