Tagebuch eines Schattenlosen/2: Bei den Dunkelmännern/2 / Diary of a Shadowless Man/2: Among the Disciples of Darkness/2
Wie ist Theo eigentlich seinem Kerker entkommen? – Eines Tages stand die Tür zu seinem Verlies offen. Dahinter befand sich ein nachtschwarzer Gang …
How did Theo actually escape his dungeon? – One day the door to his dungeon was open. Behind it was a pitch-black corridor …
Montag, 11. September, nachmittags
Ich habe mir mein „Gefängnistagebuch“ ausdrucken lassen, um es noch einmal in Ruhe durchzulesen. Der letzte Satz steht mir noch immer vor Augen: „Mein Gott, was ist bloß aus mir geworden?“
Etwas dramatisch, aber wohl doch meiner damaligen Gefühlslage entsprechend. Heute könnte ich den Satz ergänzen um die Frage: „Was wird nun wohl aus mir werden?“
Um den Neuanfang auch für mich selbst zu unterstreichen, benutze ich ab sofort ein einfaches Schreibheft für meine Aufzeichnungen. Das scheint mir in der klösterlichen Umgebung hier auch weit passender zu sein als ein Laptop.
Zunächst möchte ich mir schreibend darüber Rechenschaft ablegen, was eigentlich mit mir passiert ist.
Nach dem letzten Eintrag in mein Gefängnistagebuch war ich wieder in einem meiner damaligen Dämmerzustände versunken. Dabei muss ich wohl eingeschlafen sein. Als ich erwachte, tastete ich wie üblich nach dem Laptop, um nachzuschauen, ob mich dort eine Nachricht oder wenigstens ein neues Datum erwartete.
Ich hatte die unbestimmte Hoffnung, dieses Mal mehr als nur eines dieser kryptischen Zeichen zu erhalten, die ja im Grunde nur ein Echo meiner eigenen Worte waren. Sobald ich jedoch an der Stelle angelangt war, an der bislang der Laptop gestanden hatte, musste ich feststellen, dass dieser entfernt worden war. Ich tastete die Einbuchtung mehrmals von oben nach unten, von hinten nach vorn und von rechts nach links ab, aber es bestand kein Zweifel: Der Laptop war weg.
Ich war völlig verzweifelt: Sollte ich jetzt auch noch der Möglichkeit beraubt werden, mit mir selbst Zwiesprache zu halten? Ich presste die Hände um meinen Schädel, bis ich die Adern unter der Kopfhaut pulsieren fühlte. Ich wollte schreien, aber die Angst vor dem Widerhall meiner eigenen Stimme ließ mich den Schrei verschlucken, so dass mir die Lunge weh tat von der Anspannung des zurückgestauten Schmerzes.
Ich überlegte, ob es möglich wäre, sich selbst zu töten, indem man den Kopf mit voller Wucht gegen die Wand rammt. Aber was, wenn der Plan fehlschlüge und ich tagelang in meinem Blut liegen sollte, bis ich verrecken würde wie ein angeschossenes Tier?
Taumelnd wich ich zurück in den Raum und ließ mich auf die Knie fallen, um zu meiner Strohmatte zurückzukriechen. Ich wollte mich zusammenrollen und alles vergessen, mich wegschlafen aus diesem Loch in den Traum meines früheren Daseins, zu dem mir der Rückweg, ohne dass ich es wusste, längst versperrt war.
Zu meinem Glück funktionierte aber in der völligen Dunkelheit meine Orientierung nicht. Statt in Richtung meiner Schlafstatt kroch ich auf die Tür meines Kerkers zu. Unsicher, wo ich mich befand, strich ich über das faulige Holz. Da spürte ich, wie die Tür nachgab, sich hin und her bewegte und schließlich, als ich heftiger gegen sie drückte, leise knarrte: Sie war nur angelehnt. Jemand hatte – so nahm ich an – vergessen, sie zu schließen, wodurch sich mir nun völlig unerwartet ein Weg in die Freiheit eröffnete.
Meine jähe Freude wich allerdings gleich darauf einer ebenso heftigen Enttäuschung. Leider nahm die Dunkelheit nämlich vor meinem Kerker keineswegs ab. Die Nacht um mich her blieb undurchdringlich.
Um mich in dem Gang, auf den ich offenbar hinausgetreten war, besser orientieren zu können, richtete ich mich vor¬sichtig auf und breitete die Arme aus. Da ich die Wände nicht mit beiden Armen gleichzeitig erreichen konnte, schätzte ich die Breite auf ungefähr zwei Meter. Die leicht angerundete Decke konnte ich berühren, wenn ich mich etwas streckte – die Höhe musste also ebenfalls etwas über zwei Meter betragen.
Ich wandte mich zuerst nach rechts, musste jedoch schon nach kurzer Zeit feststellen, dass es dort nicht weiterging. Anfangs glaubte ich zwar noch, auf dem richtigen Weg zu sein, da der Gang hier nach oben führte und mich so der Freiheit näher zu bringen schien. Er erwies sich jedoch als so steil, dass ich fürchten musste, auf dem feuchten Boden auszurutschen und wieder nach unten zu purzeln Da ich mich dabei auf den ungleichmäßig verlegten Steinen leicht hätte verletzten können, kehrte ich lieber wieder um.
Nachdem ich mich einigermaßen an den glitschigen Untergrund gewöhnt hatte, bewegte ich mich relativ schnell und gleichmäßig durch die Dunkelheit. Nach einiger Zeit stieß ich jedoch mit dem Kopf gegen die Decke – offenbar hatte der Gang sich verengt. Als ich die Arme ausstreckte, konnte ich nun spielend zu beiden Seiten die Wand ertasten.
Ein paar Schritte weiter musste ich sogar den Kopf einziehen, um weiter aufrecht gehen zu können. Gleichzeitig wurde der Boden immer abschüssiger. Ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht auszurutschen.
Kurz darauf war der Gang schon so niedrig, dass ich mich nur noch auf den Knien fortbewegen konnte. Die Wände rückten jetzt auch immer näher an mich heran, so dass ich schließlich den Ein¬druck hatte, mich in einem Steinrohr zu befinden.
Ob das Ganze am Ende eine Falle war? Hatte man mich absichtlich aus meinem Kerker herausgelockt, um mich endgültig zu vernichten? Zum Umkehren war es nun jedoch zu spät. Denn noch während ich mich diesen Überlegungen hingab, spürte ich auf einmal ein dünnes Rinnsal unter meinen Knien, das rasch anschwoll und mich meines Halts auf den glitschigen Steinen vollends beraubte.
Ich versuchte, mich an den Wänden festzuhalten, doch auch über diese troff das Wasser jetzt in immer dichter werdenden Strömen. So glitt ich wie auf einer Wasserrutsche durch den enger und enger werdenden Schacht, an dem ich an allen Seiten anstieß. Ohne den Gleiteffekt des Wassers wäre ich wahrscheinlich sogar in ihm stecken geblieben.
Immer steiler wurde der Gang, bis er am Ende fast senk¬recht in die Tiefe führte und ich ohne jeden Halt durch ihn hinabstürzte. Nun war ich mir ganz sicher, dass die Entführer das Todesurteil über mich verhängt hatten. Es musste auf „Tod durch Ertrinken“ lauten oder in einer besonders perfiden Form von Erstickungstod bestehen.
Unmittelbar darauf stieß ich mit den Füßen gegen zwei einander über¬lappende Ledervorhänge. Sie waren anscheinend sehr schwer, da sie sich trotz des gleichzeitig auf ihnen lastenden Drucks meines Körpergewichts und des herabströmenden Wassers nicht gleich öffneten. Schließlich gaben sie aber doch nach. Ich glitt durch sie hindurch und stürzte wohl einen Meter tief nach unten, direkt in ein Becken mit kaltem Wasser, in dem ich bis über den Kopf versank.
Als ich nach einigen Augenblicken prustend wieder auf¬tauchte, konnte ich zuerst überhaupt nichts erkennen. Meine Augen waren an das Licht, das hinter dem Wasserschleier auf sie eindrang, einfach nicht mehr gewöhnt. Erst ganz allmählich fand ich mich blinzelnd in der neuen Umgebung zurecht.
Ich stellte fest, dass ich mich in einem gewölbeartigen Saal befand, an dessen Wänden in regelmäßigen Abständen Fackeln angebracht waren. Mein Wasserbecken stand in einer Wandnische, von der aus ich nach rechts auf eine kleine Empore und nach links auf einen im Fackelschein glitzernden Marmorboden blicken konnte, der sich in der Tiefe des Raumes verlor. Dazwischen standen einzelne Säulen, die das Kreuzgewölbe abstützten.
Sobald ich mich einigermaßen orientieren konnte, war natürlich mein erster Impuls, das Becken zu verlassen: War ich nur in ein neues, größeres Gefängnis hineingeraten oder konnte ich womöglich durch eine verborgene Tür in die Freiheit gelangen?
Kaum machte ich aber Anstalten, aus dem Becken zu steigen, da vernahm ich plötzlich ein vielstimmiges Summen. Gleichzeitig fiel mein Blick auf eine Reihe weiterer Fackeln, die zuvor von den Säulen ver¬deckt worden waren.
Während das Summen in einen leisen, monotonen Sing¬sang überging, schwebten die Fackeln langsam auf mich zu. Wie mir schien, wurden sie von Mönchen und Nonnen gehalten, die mit ihren schwarzen Gewändern und tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen in der Dunkelheit zunächst unsichtbar gewesen waren. Sie ordneten sich sternförmig an und bewegten sich im Takt ihres gleichförmigen, für mich unverständlichen Gesangs auf mich zu.
Vor mir angekommen, hoben sie die Fackeln über ihre Köpfe und hielten sie gegeneinander, so dass das Feuer zu einer einzigen, hoch auflodernden Flamme zusammenschoss. Da¬bei fixierten sie einen Punkt hinter mir an der Wand, auf dem sich das Flackern der Flammen in einem bizarren Schattenspiel spiegeln musste.
Unwillkürlich drehte ich mich um und suchte die Wand nach dem Tanz der Schatten ab, in dessen Zentrum sich mein eigener Schatten befinden musste. Ich erblickte jedoch nur den Schatten des Wasserbeckens und des Rauchs, den die Fackeln abgaben – mein eigener Schatten war nicht zu sehen.
Als ich mich wieder zu den Gesichtern der Fackelträger umwandte, sahen diese mich ebenso ausdruckslos an wie zuvor. Auch der monotone Singsang setzte sich unverändert fort. Gleichzeitig senkten die Fackeln sich langsam in Richtung meines Beckens, weshalb ich ungeachtet der Umzingelung Anstalten machte, aus dem Wasser herauszuspringen.
Im gleichen Augenblick vernahm ich ein gewaltiges Zischen: Die Flammen ertranken im Wasser. Während es wieder völlig dunkel um mich wurde, griffen unzählige Arme nach mir und hoben mich aus dem Becken heraus. Ein wohlriechender Rauch stieg mir in die Nase, der mich ganz benommen machte.
Kurz darauf muss ich das Bewusstsein verloren haben. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in der Kammer, in der ich auch jetzt noch untergebracht bin.
English Version
Rebirth
Monday, September 11, in the afternoon
I had my „prison diary“ printed out so as to read through it again carefully. The last sentence still stands out in my mind: „My God, what has become of me?“
A bit dramatic, but probably corresponding to my emotional state at the time. Today I could add the question: „What will become of me now?“
To underline the new beginning for myself, I will use a simple exercise book for my notes from now on. In the monastic environment here, this seems far more appropriate than a laptop.
First of all, I want to give an account to myself about what has actually happened to me.
After the last entry in my prison diary, I had sunk back into one of my former twilight states. On that occasion, I must have fallen asleep. When I awoke, I fumbled for the laptop as usual to see if there was a message or at least a new date waiting for me.
I had the vague hope that this time I would receive more than just one of those cryptic notes, which were basically just an echo of my own words. However, as soon as I reached the place where the laptop had stood so far, I found that it had been removed. I checked the recess in the wall several times from top to bottom, from back to front, and from right to left, but there was no doubt: the laptop was gone.
I was completely desperate: Now I was even deprived of the possibility of having a dialogue with myself! I pressed my hands around my skull until I felt the veins pulsating under my scalp. I wanted to cry out loud, but the fear of hearing the echo of my own voice made me swallow the scream, so that my lungs ached from the tension of the suppressed pain.
I wondered if it would be possible to kill myself by ramming my head full force into the wall. But what if the plan failed and I should lie in my blood for days until I would die like a wounded animal?
Staggering, I dropped to my knees to crawl back to my straw mat. I wanted to curl up and forget everything, to sleep myself away from this dungeon into the dream of my former existence, to which in reality the way back was obviously blocked.
Fortunately, however, I could not find my way around in the complete darkness. Instead of heading toward my sleeping place, I crawled toward the door of my dungeon. Unsure of where I was, I touched the rotten wood. To my surprise, the door moved back and forth. When I pushed harder against it, it creaked softly: It was only ajar. Someone had, I assumed, forgotten to close it, which now opened up a completely unexpected path to freedom for me.
My sudden joy, however, immediately gave way to a heavy disappointment. Regrettably, the darkness did not diminish at all in front of my dungeon. The night around me remained impenetrable.
In order to be able to orient myself better in the corridor, on which I had obviously stepped out, I straightened up cautiously and spread my arms. Since I could not reach the walls with both arms at the same time, I estimated the width at about two meters. The slightly rounded ceiling was within reach if I stretched a bit – so the height was probably also about two meters.
At first I went to the right, but after a short time I had to realise that it didn’t go any further there. Since the passage here led upward, I had thought that it would bring me closer to freedom. But it proved to be so steep that I had to fear slipping on the damp floor and tumbling down again. Since I could have easily injured myself on the unevenly laid stones, I preferred to turn back.
After I had become somewhat accustomed to the slippery ground, I moved relatively quickly and steadily through the darkness. After some time, however, I bumped my head against the ceiling – apparently the passage had narrowed. When I stretched out my arms, I could now easily feel the wall on both sides.
A few steps further on, I even had to duck my head in order to continue walking upright. At the same time, the ground became more and more sloping. I had to lean against the wall to avoid slipping. Shortly thereafter, the passage became so narrow that I could only move on my knees. The walls were now moving closer and closer to me, so that I had the impression of crawling through a stone tube.
Could the whole thing be a trap in the end? Had I been deliberately lured out of my dungeon in order to be destroyed once and for all?
While I was still thinking about this, I suddenly felt a thin trickle of water under my knees, which quickly swelled and completely robbed me of my grip on the slippery stones. I tried to hold on to the walls, but even over them the water was now dripping in numerous trickles. So I glided like on a water slide through the increasingly narrow shaft, against which I bounced on all sides. Without the sliding effect of the water, I would probably even have gotten stuck in it.
The passage became steeper and steeper, until at the end it led almost vertically into the depths and I fell down through it without any support. Now I was quite sure that the kidnappers had pronounced the death sentence on me. It had to be „death by drowning“ or a particularly perfidious form of death by suffocation.
Immediately afterwards, I bumped my feet against two overlapping leather curtains. They were apparently very heavy, because they did not open immediately, despite the pressure of my body weight and the water flowing down on them at the same time. Eventually, however, they did give way. I slid through them and plunged downward, probably about a meter, directly into a basin of cold water, in which I was completely submerged.
After a few moments, I emerged from the water again, snorting. At first, I couldn’t recognise anything. My eyes were simply no longer accustomed to the light that hit them from behind the veil of water. Only very gradually did I find my way around the new surroundings, blinking.
I noticed that I was in a vaulted hall with torches mounted at regular intervals on the walls. My water basin stood in a wall niche from which I could look to the right onto a small gallery and to the left onto a marble floor glittering in the torchlight. Between them stood a few columns supporting the cross vault.
As soon as I could orientate myself to some extent, my first impulse was of course to leave the basin: Had I only entered a new, larger prison or could I possibly escape through some hidden door?
But no sooner did I make an effort to get out of the basin than I suddenly heard a polyphonic humming. At the same time, my gaze fell on a number of additional torches that had previously been covered by the columns.
While the humming faded into a quiet, monotonous chant, the torches slowly floated toward me. It seemed to me that they were held by monks and nuns who, with their black robes and hoods pulled deep into their faces, had initially been invisible in the darkness. They lined up in a star shape and moved in my direction. While doing so, they went on chanting in their monotonous way, incomprehensible to me.
Arriving in front of me, they raised the torches above their heads and held them against each other, so that the fire shot together to a single, highly flaring flame. At the same time, they fixed a point behind me on the wall, where the flickering of the flames had to be reflected in a bizarre play of shadows.
Involuntarily, I turned around and searched the wall for the dance of shadows, in the center of which I suspected my own shadow. But all I saw was the shadow of the water and the smoke emitted by the torches – my own shadow was not visible.
When I turned back to the faces of the torchbearers, they were looking at me just as expressionless as before. The monotonous chanting likewise continued unchanged. At the same time, the torches slowly lowered in the direction of my pool. So I made an effort to jump out of the water, regardless of the encirclement.
In that very moment, I heard a tremendous hiss: The flames were drowning in the water. While it became completely dark around me again, countless arms grabbed me and lifted me out of the pool. A fragrant smoke rose to my nostrils, making me feel dizzy.
Shortly afterwards, I must have lost consciousness. When I woke up again, I was in the chamber in which I am still accommodated now.
Bilder / Images: Dorothe (Darkmoon_Art): Klostergewölbe / Monastery vault (Pixabay); Foundry Co: Mysteriöser Tunnel / Mysterious Tunnel (Pixabay; Ausschnitt / detail)