Zu dem Gedicht Modlitba za vodu (Wassergebet) des tschechischen Dichters Jan Skácel, mit einer Vertonung von Jiří Pavlica & Hradišťan / On the Poem Modlitba za vodu (Water Prayer) by the Czech Poet Jan Skácel. With a Musical Setting by Jiří Pavlica & Hradišťan
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Das Wasser ist die Wiege des Lebens auf der Erde. So ist das Leben auch durch nichts so sehr bedroht wie durch unseren fahrlässigen Umgang mit den weltweiten Wasserressourcen. Eben dies bringt der tschechische Dichter Jan Skácel in seinem Wassergebet zum Ausdruck – einem Gedicht, dasvon Jiří Pavlica und der Musikgruppe Hradišťan vertont worden ist.
Wassergebet
Hier haben einst die Rehe
ihre Lippen in das kühle Nass getaucht.
Den Laubfrosch nährte es an seiner Brust,
und meine Liebste labte sich daran.
Die Pilger haben hier ihr Knie gebeugt
und mit der Schale ihrer Hände
sich dem Wassersegen hingegeben.
Nun aber schwindet dieser Lebensquell.
Wassermutter, schöne Wassermutter,
deine gold’nen Locken fließen
glänzend über deine Haut.
Du weißt noch um die alten Zeiten.
Wassermutter, schöne Wassermutter,
deine Poren sind ein Spiegel, eine Brücke
in den funkelnden Palast der Sterne.
Wassermutter, bitte erblinde nicht!
Ein Hengst tritt an das Wasser,
schwarz wie ein Rabe,
wund wie die Nacht.
Weinst du, Wassermutter?
Wassermutter, dein Haar ist kraus,
deine Locken schließen sich um dich.
Wer wird nun in deinem Schoß
nach dem Ring der Sterne tauchen?
Wassermutter, du trauernde Witwe,
Wassermutter, greise Wassermutter,
Asche hast du auf dein Haupt gestreut.
Wassermutter, vermisst du uns?
Jan Skácel (1922 – 1989): Modlitba za vodu; aus: Odlévání ztraceného vosku (Das Umschmelzen von Wachs; 1984). Vertonung von Jiří Pavlica & Hradišťan aus dem Album O slunovatru (1999)
Videoclip mit ländlichen Impressionen / Video clip with rural impressions:
https://www.youtube.com/watch?v=T0eqMIOBR-0
Videoclip mit Tanzeinlagen (Choreographie: Ladislava Košíkoá) und Konzertausschnitten / Video clip with dance interludes (choreography: Ladislava Košíkoá) and concert excerpts:
Live-Aufnahme / Live recording:
https://www.youtube.com/watch?v=9ITFSzW5ONw
Warum die Wassermutter trauert
Die trauernde Wassermutter, deren Blick sich trübt und deren Kräfte schwinden – an was lässt uns das Bild denken?
Heute vielleicht an:
• den Colorado River, der nicht mehr als stolzer Strom in den Golf von Kalifornien mündet, sondern im heißen Wüstensand im Grenzgebiet von Kalifornien und Arizona verdunstet;
• den Aralsee, einst viertgrößter Binnensee der Erde, von dem heute nur noch zwei kleinere Seenflächen zurückgeblieben sind, die zudem durch Versalzung ihre frühere Funktion im Ökosystem der Region verloren haben;
• den Nil, wo durch den Bau eines Staudamms durch Äthiopien am Oberlauf des Flusses ein Krieg mit Ägypten droht, dem auf diese Weise die Lebensader abgeklemmt zu werden droht;
• die ausgetrockneten Brunnen in vielen Teilen Afrikas, aber auch die Desertifikation in weiten Teilen Südeuropas, insbesondere im Süden der Iberischen Halbinsel.
Wenn aus Wasserwelten Wüsten werden
Wassernotstand, das bedeutet für uns heute eben vor allem: Wassermangel, mit der Folge verkarsteter Böden, auf denen der Regen – wenn er dann doch einmal fällt – die verbliebenen Humusreste abträgt und so per Erosion den Wandel zur Wüstenlandschaft zusätzlich vorantreibt.
Diese Mischung aus Dürre und Starkregenereignissen ist eines der zentralen Merkmale des Klimawandels. Die durch den Wassermangel geschändeten Landschaften verdanken ihren Niedergang damit gleich in mehrfacher Hinsicht der Rücksichtslosigkeit, mit der die menschliche Zivilisation sich über den Planeten ausgebreitet hat. Neben dem Klimawandel setzen ihnen auch die gewaltigen Staumauern der Wasserkraftwerke, die Abholzung der vor Austrocknung schützenden Wälder und die intensive, wasserhungrige Landwirtschaft zu.
Menschen, die ihr auf diese Weise begegnen, wird die Wassermutter sicher nicht „vermissen“ – wohl aber jene anderen Menschen, die sich um ein harmonisches Einvernehmen mit ihr bemühen und sich ihr, wie die Pilger in dem Gedicht, mit Ehrfurcht nähern.
Wasserverschmutzung zur Entstehungszeit des Gedichts
Zur Entstehungszeit des Gedichts, in den 1980er Jahren, verband man mit Wassernotstand dagegen vor allem Wasserverschmutzung. Hier hat es gerade in Europa in den vergangenen Jahren durch neue Filtertechniken und strengere Umweltvorschriften erhebliche Verbesserungen gegeben. Viele Flüsse und Seen, die damals kurz vor dem „Umkippen“ standen, haben sich heute wieder erholt. Zwar sind viele von ihnen noch immer in enge, künstlich begradigte Betten gezwängt, was in Zeiten von Starkregengefahr zu Überflutungsgefahren führt. Die Wasserqualität ist vielerorts aber wieder im grünen Bereich.
Dies ist auch ein Verdienst der Umweltbewegung, mit der Jan Skácel in seinem Gedicht auf seine spezielle, poetische Weise Sympathie bekundet. In den realsozialistischen Staaten war jedoch jede Form von – auch unterschwelliger – Kritik an der Industriepolitik der Regierung unerwünscht. So liefert das Gedicht eine weitere Erklärung dafür, warum die Werke dieses Dichters lange Jahre nur im Selbstverlag (Samizdat) herausgegeben und unter der Hand verbreitet werden konnten.
Die Musik zu dem Gedicht stammt auch dieses Mal wieder von Jiří Pavlica und der Musikgruppe Hradišťan. Nähere Informationen zu der Gruppe und zu Jan Skácel finden sich in dem Post zu dem Gedicht Mrtví (Die Toten).
English Version
The Umbilical Cord of Water
On the Poem Modlitba za vodu (Water Prayer) by the Czech Poet Jan Skácel With a Musical Setting by Jiří Pavlica & Hradišťan
Water Prayer
Here the deer once
dipped their lips in the cool water.
It nurtured the tree frog at its breast,
and my love would feast on it.
The pilgrims bent their knee here
and indulged in the blessing of the water
with the bowl of their hands
But now this source of life is disappearing.
Water Mother, beautiful Water Mother,
your golden curls flow
glistening over your skin.
You still remember the old times.
Water Mother, beautiful Water Mother,
your pores are a mirror, a bridge
to the sparkling palace of the stars.
Water Mother, please do not go blind!
A stallion steps to the water,
black as a raven,
sore as the night.
Are you crying, water mother?
Water Mother, your hair is frizzy,
your curls have closed around you.
Who will now dive into your womb
for the ring of stars?
Water Mother, mourning widow,
Water Mother, immemorial Water Mother,
you have scattered ashes on your head.
Water Mother, do you miss us?
Jan Skácel (1922 – 1989): Modlitba za vodu; from: Odlévání ztraceného vosku (The Remelting of Wax; 1984). Setting by Jiří Pavlica & Hradišťan from the album O slunovatru (1999)
What Makes the Water Mother Mourn
The mourning water mother, whose gaze is dimming and whose strength is fading – what does this image make us think of?
Today perhaps of:
• the Colorado River, which no longer flows as a proud stream into the Gulf of California, but evaporates in the hot desert sands in the border region of California and Arizona;
• the Aral Sea, once the world’s fourth largest inland lake, of which only two smaller lake areas are left today that have lost their former function in the region’s ecosystem due to salinisation;
• the Nile, where Ethiopia’s construction of a dam on the river’s upper reaches may provoke a war with Egypt, which is threatened with having its lifeline cut off;
• the dried-up wells in many parts of Africa, but also the desertification in large parts of southern Europe, especially in the south of the Iberian Peninsula.
When Water Worlds Turn into Deserts
For us today, water emergency means above all: water shortage, with the consequence of karstified soils, on which the rain – when it does fall at all – carries away the remaining humus residues and thus even accelerates the change to a desert landscape through erosion.
This mixture of drought and heavy rainfall events is one of the central features of climate change. The landscapes devastated by the lack of water thus owe their decline in several respects to the recklessness with which human civilisation has spread across the planet. In addition to climate change, the giant dams of hydroelectric power plants, the clearing of forests that protect against desiccation, and intensive, water-hungry agriculture are exacerbating their decline.
People who meet her in this way will certainly not be „missed“ by the Water Mother. This could only be the case with those other people who strive to live in harmony with her and, like the pilgrims in the poem, approach her with reverence.
Water Pollution at the Time of the Poem’s Composition
At the time of the poem’s composition, in the 1980s, water emergency was primarily associated with water pollution. In this area, there have been considerable improvements in recent years, especially in Western countries, thanks to new filtering techniques and stricter environmental regulations. Many rivers and lakes that were on the verge of „overturning“ at the time have recovered today. Admittedly, many of them are still squeezed into narrow, artificially straightened beds, which leads to flooding hazards in times of heavy rain. However, the water quality is in the green zone again in many places.
This is also a merit of the environmental movement, with which Jan Skácel expresses sympathy in his poem in his special, poetic way. In the real-socialist states, however, any form of – even subliminal – criticism of the government’s industrial policy was unwelcome. Thus the poem provides an explanation for why this poet’s works could only be self-published (via Samizdat) and distributed under the table for many years.
The music for the poem is once again by Jiří Pavlica and the musical group Hradišťan. Background information on the group and on Jan Skácel can be found in the post on the poem Mrtví (The Deceased)
Titelbild /Title Image: Beneš Knüpfer (1844 – 1910): Nymphe auf einem Delfin / Nymph on a dolphin, Prag, Nationalgalerie / Prague, Czech Republic, National Gallery
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