Die Nähe der Verstorbenen / The Closeness of the Deceased

Mrtví: Ein Gedicht des tschechischen Autors Jan Skácel / Mrtví: A Poem by the Czech Writer Jan Skácel

mit einer Vertonung von Jiří Pavlica und der Musikgruppe Hradišťan / Set to Music by Jiří Pavlica and the Musical Group Hradišťan

English Version

Der heutige letzte Sonntag vor dem Ersten Advent wird in protestantischen Kirchen deutschsprachiger Länder als Totensonntag begangen und dient der Erinnerung an die Verstorbenen. Hierzu heute ein Gedicht des tschechischen Dichters Jan Skácel, mit einer kongenialen Vertonung von Jiří Pavlica und der Musikgruppe Hradišťan.

Jan Skácel: Die Toten

Die von uns gegangen sind –
in Wahrheit sind sie noch immer unter uns.

Ihre Schatten umspielen unsere Herzen,
der Staub ihrer Sterne funkelt auf unserem Weg.

Ihre Gesichter, scheinbar entschwunden,
sind noch immer ein Spiegel unseres eigenen Ichs.

Aus den Kornblumen, die sie gestreift haben,
weht uns noch immer der Duft ihrer Hände an.

Die Glocke meiner Seele läutet für dich,
lass mich dein stilles Zuhause sein.

Jan Skácel: Mrtví; aus: Oříšky pro černého papouška (Nüsse für den schwarzen Papagei; Gedichtsammlung, enthalten in dem Band Naděje s bukovými křídly –Hoffnung mit Buchenflügeln, 1983)

Vertonung von Jiří Pavlica & Hradišťan: Mrtví

aus: O slunovatru (DVD, erweiterte  Fassung der gleichnamigen CD aus dem Jahr 1999)

Strophe 3 und 4 werden im Lied zweimal gesungen, die erste Strophe wird am Schluss noch einmal aufgegriffen.

Zum Sinn des Totengedenkens

Das Totengedenken ist, wie so vieles im Leben, eine zwiespältige Angelegenheit.

Re-Animation der Verstorbenen

Einerseits wissen wir, dass die, die von uns gegangen sind, erst dann vollständig von der Welt verschwunden sein werden, wenn ihr Bild sich in unseren Herzen verflüchtigt. Dies ist der tiefere Sinn all unserer Gedenktage. Im Grunde handelt es sich dabei um Reanimationsmaßnahmen in einem geistigen Sinn, also um eine Wiederbelebung der Seele (Anima) der Verstorbenen. Oder genauer: um den Erhalt der Brücken, auf denen die Seelen von der einen in die andere Welt wandeln können.
Andererseits ist das Totengedenken aber immer auch etwas Schmerzliches. Denn gerade wenn wir uns das Bild der Toten ganz konkret in Erinnerung rufen, wird uns bewusst, dass sie für immer von uns gegangen sind; dass wir die glücklichen Tage, an denen wir mit ihnen das Leben teilen durften, für immer verloren haben.

Schmerzliche Berührung mit der dunklen Seite des Lebens

Gleichzeitig werden wir uns dabei bewusst, dass auch der uns zugemessene Lebensstaub immer schneller durch die Sanduhr rieselt; dass die Waage des Lebens sich unter der Last der Tage, die wir schon durchlebt haben, immer stärker zur dunklen Seite neigt. So sind wir allzu leicht bereit, das Totengedenken als lästige Pflicht abzuhandeln oder gar ganz zu missachten – und die Verstorbenen so ein zweites Mal zu töten.
Die fünf knappen Strophen von Jan Skácel bieten, wie ich finde, eine einfache Lösung für unser Dilemma an. Was, wenn wir unsere Verstorbenen gar nicht mit der Schattenkrone des Todes umkränzen, sondern sie schlicht als Teil unseres Lebens betrachten würden? Wäre es dann nicht viel leichter, die Brücke zu ihnen zu pflegen?

Der Tod als Teil des Lebens: das Beispiel Mexiko

Dass das möglich ist, zeigen nicht zuletzt die Totengedenktage in anderen Kulturen, bei denen die Verstorbenen ganz selbstverständlich in den Alltag der Lebenden einbezogen werden. Man denke nur an den mexikanischen Día de los Muertos (unser Allerheiligen), an dem die Familien ihre Verstorbenen wie alte Bekannte auf den Friedhöfen besuchen und dort selbstverständlich auch mit ihnen essen, tanzen und singen.
Gut, das wäre uns vielleicht wieder ein bisschen zu laut. Aber es zeugt doch von einer ganz anderen Sicht auf den Tod, bei dem dieser ein Teil des Lebens bleibt, anstatt – wie bei uns – als Schattenreich betrachtet zu werden, in dem die Gesetze des Lebens aufgehoben sind.

Die Verstorbenen als Brücke in die andere Welt

Die Vorstellung, dass unsere Verstorbenen in dieses Schattenreich eintreten, entfremdet sie von uns. Mehr noch: Sie führt dazu, dass wir eine abergläubische Angst vor den Toten und vor dem Gedenken an sie entwickeln – als würden sie nun einem anderen Herrn dienen, der sie, wie die Wiedergänger der Märchen, zu potenziellen Feinden werden lässt.
Wenn wir dagegen die Toten als Teil unseres Lebens erhalten, können sie uns diesen Freundschaftsdienst mit einem anderen Freundschaftsdienst vergelten: Sie können uns helfen, die Angst vor dem Tod zu überwinden, der dann ja ebenfalls als Teil unseres Lebens angenommen wäre.

Über Jan Skácel

Jan Skácel (1922 – 1989) war nach seinem Philosophiestudium im südtschechischen (mährischen) Brno (Brünn) zunächst im Feuilleton von Zeitung und Rundfunk tätig: zunächst für die Tageszeitung Rovnost (Gleichheit/Egalität), dann, von 1954 bis 1963, als Literaturredakteur für den Rundfunk. Anschließend leitete er als Chefredakteur die Kulturzeitschrift Host do domu (Hausgast).
Nachdem die Zeitschrift 1969 verboten worden war, konnte Skácel auch eigene Werke nur noch per Samizdat, also unter der Hand, veröffentlichen. Seine Aktivität im Kulturbetrieb und die fünf Gedichtbände, die er bis dahin schon veröffentlicht hatte, hatten ihm jedoch bereits zu einem gewissen Renommee verholfen.
Als er nach 1981 wieder etwas freier publizieren durfte, fanden seine Gedichte daher rasch wieder Anklang beim literarisch interessierten Publikum. Heute ist Skácel Ehrenbürger von Brno/Brünn.

Über Jiří Pavlica & Hradišťan

1950 wurde in der Stadt Uherské Hradiště im Südosten Tschechiens die Musikgruppe Hradišťan gegründet. Ihr Ziel war es zunächst, die traditionelle Volkskunst der Region zu fördern. Dazu gehörte vor allem die Pflege der Zimbalmusik, also der lokalen Hackbrettmusik. Im Mittelpunkt stand daher anfangs das Zimbal (Zymbal), ein mit Klöppeln geschlagenes Hackbrett, das – wie insbesondere die Namensvariante Cimbalom zeigt – entfernt mit dem Cembalo verwandt ist.
Mit der Zeit erweiterte die Musikgruppe ihr Repertoire und bezog auch verstärkt andere Instrumente – insbesondere Streichinstrumente – in ihre Arbeit mit ein. Auch wurden die Musikaufführungen immer häufiger mit Tanzeinlagen verbunden.
Seit Jiří Pavlica (geboren 1953 in Uherské Hradiště) im Jahr 1978 die Leitung der Gruppe übernommen hat, ist die Bemühung um eine möglichst originalgetreue Wiedergabe der Volksstücke einem kreativen Umgang mit der Tradition gewichen. Im Vordergrund steht nun eher die künstlerische Aneignung und Weiterentwicklung der Folklore.
In diesem Zusammenhang ist auch die Vertonung von Gedichten Jan Skácels zu sehen, der im unweit von Uherské Hradiště gelegenen Brno (Brünn) gewirkt hat. Auch hier steht der künstlerische Dialog mit dem vorgefundenen Material im Vordergrund, in diesem Fall das Zusammenspiel von Musik und Dichtung.

Mehr Informationen zu Hradišťan: https://www.hradistan.cz/kapela/hradistan-de

English Version

The Closeness of the Deceased

Mrtví: A Poem by the Czech Writer Jan Skácel, set to Music by Jiří Pavlica and the Musical Group Hradišťan

The last Sunday before the first Advent is observed in Protestant churches of German speaking Countries as „Totensonntag“ (Sunday of the Dead) and serves to remember the deceased. To mark this occasion, our Poetry Day is dedicated today to a poem by the Czech poet Jan Skácel, congenially set to music by Jiří Pavlica and the musical group Hradišťan.

Jan Skácel: The Deceased

Those who have passed away –
in truth they are still among us.

Their shadows caress our hearts,
the dust of their stars sparkles on our path.

Their faces, seemingly vanished,
are still a mirror of our own selves.

From the cornflowers they touched,
the fragrance of their hands still wafts to us.

The bell of my soul echoes from your voice,
let me be your silent home.

Jan Skácel: Mrtví; from: Oříšky pro černého papouška (Nuts for the Black  Parrot; collection of poems, contained in the volume Naděje s bukovými křídly – Hope with Beech Wings, 1983)

Setting by Jiří Pavlica & Hradišťan

from: O slunovatru (DVD, extended version of the CD of the same name from 1999)

Strophes 3 and 4 are sung twice in the song, the first strophe is taken up again at the end.

On the sense of commemorating the dead

The commemoration of the dead is, like so many things in life, an ambivalent matter.

Re-animation of the deceased

For one thing, we know that those who have passed away will only have fully disappeared from the world when their image fades in our hearts. This is the deeper meaning of all our days of remembrance. Basically, they are reanimations in a spiritual sense, that is, a resuscitation of the soul (anima) of the deceased. Or more precisely: they serve to maintain the bridges on which the souls can walk from one world to the other.
At the same time, the commemoration of the dead is always something painful. For precisely when we recall the image of the dead in a concrete way, we become aware that they have gone forever; that the happy days when we were allowed to share life with them will never come back.

Painful confrontation with the dark side of life

In addition, we become aware thereby that the dust of life allotted to us also trickles ever faster through the hourglass; that the scales of life tilt ever more strongly towards the dark side under the weight of the days we have already lived through. So we are all too easily tempted to treat the commemoration of the dead as a chore or even to disregard it altogether – and thus to kill the deceased a second time.
Jan Skácel’s five succinct stanzas offer, it seems to me, a simple solution to our dilemma. What if we did not wreathe our deceased with the crown of shadows of death at all, but simply regarded them as part of our lives? Wouldn’t it then be much easier to maintain the bridge to them?

Death as part of life: the example of Mexico

That it is possible to integrate death into life is shown not least by the commemoration of the dead in other cultures, where the deceased are quite naturally included in the everyday life of the living. Just think of the Mexican Día de los Muertos (our All Saints‘ Day), when families visit their deceased like old acquaintances in the cemeteries and eat, dance and sing with them as a matter of course.
Admittedly, that might be a bit too loud for us. But it does show a very different view of death, in which the latter remains a part of life instead of being regarded – like in our culture – as a shadowy realm, where the principles of life are suspended.

The deceased as a bridge to the other world

The idea that our deceased enter this shadowy realm alienates them from us. More than that, it leads us to develop a superstitious fear of the dead and of remembering them – as if they were now serving another master who, like the revenants in fairy tales, transforms them into potential enemies.
If, on the other hand, we preserve the dead as part of our lives, they can repay us for this service of friendship with a corresponding service of friendship: They can help us overcome the fear of death, which would then also be accepted as a natural part of life.

About Jan Skácel

After studying philosophy in Brno (Moravia) in the south of the Czech Republic, Jan Skácel (1922 – 1989) first worked in newspaper and radio feature sections: first for the daily newspaper Rovnost (Equality/Egality), then, from 1954 to 1963, as literary editor for a radio station. He then headed the cultural magazine Host do domu (Houseguest) as editor-in-chief.
After the magazine was banned in 1969, Skácel could only publish his own works via samizdat, i.e. secretly. However, his activity in the cultural sector and the five volumes of poetry he had already published by then had helped him achieve a certain reputation.
When he was allowed to publish more freely again after 1981, his poems therefore quickly found approval among the literarily interested public. Today Skácel is an honorary citizen of Brno.

About Jiří Pavlica & Hradišťan

In 1950, the Hradišťan musical group was founded in the town of Uherské Hradiště in the south-east of the Czech Republic. Its initial aim was to promote the traditional folk art of the region. This included above all the cultivation of local dulcimer music, characterised by a dulcimer struck with clappers, which is distantly related to the harpsichord.
Over time, the musical group expanded its repertoire and increasingly included other instruments – especially string instruments – in its work. In addition, the musical performances were more often combined with dance interludes.
Since Jiří Pavlica (born 1953 in Uherské Hradiště) took over the leadership of the group in 1978, the effort to reproduce the folk pieces as faithfully as possible has gradually given way to a more creative approach to tradition. The focus is now rather on the artistic adaptation and further development of traditional music.
The setting of poems by Jan Skácel, who was active in Brno, not far from Uherské Hradiště, can also be seen in this context. Here, too, the focus is on artistic dialogue with the material, in this case the interplay of music and poetry.

More information on Hradišťan: https://www.hradistan.cz/kapela/hradistan-de

Bilder/Images: Tünde: Engel /Angel (Pixabay)

4 Antworten auf „Die Nähe der Verstorbenen / The Closeness of the Deceased

  1. Elias

    Ich fand diesen Beitrag sehr tröstlich. Ich habe gerade in diesem Jahr meine geliebte Oma verloren. Sie war zwar sehr alt (99), aber geistig noch voll da und immer bereit, einem Trost und Rat zu geben. Der Gedanke, dass sie „bleibt“, gefällt mir sehr. Das Lied ist einfach wundervoll, ebenso die Übersetzung!

    Gefällt 1 Person

  2. Pingback: Die Nabelschnur des Wassers / The Umbilical Cord of Water – LiteraturPlanet

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