Die Weisheit der Natur / The Wisdom of Mother Nature

Zu dem Lied Мусорный ветер (Müllwind) der russischen Band Крематорий (Krematorij) / On the Song Мусорный ветер (Rubbish Wind) by the Russian Band Крематорий (Krematoriy)

Musikalisches Adventskalender 2021, zweites Türchen / Musical Advent Calendar 2021, Second Door

To the English Version

Das Lied Mussornij Wjetjer (Müllwind) der russischen Band Krematorij ist ein Plädoyer für einen behutsameren Umgang mit der Natur, der sich stärker an deren eigenem Rhythmus orientiert.

Müllwind

Erstickend klagt die Natur
über den schmutzigen Atem der Schlote.
Lachend sieht der Satan uns
den Wind fangen und
die Natur steinigen.

Staubwolken spiegeln sich
in unseren leergeträumten Blicken:
die Trümmer der Sandburgen,
in denen wir uns eingerichtet hatten.

Giftige Wolken wabern
über die Erde, über den Himmel,
zischend verenden Flüsse und Fische
unter ihrem heißen Atem.

Hier können nur Maschinen leben,
Maschinen bauen sich die Welt nach ihrem Bild.
Nur gemeinsam können wir die Ketten sprengen,
in denen dieser Alptraum uns gefangen hält.

So gib, Natur, du meine Liebste,
wieder du die Karten aus!
Ich weiß, du hast ja doch das bess’re Blatt:
Mein Ass stichst du mit einem Joker aus.

Hab keine Angst mehr, Liebste!
Ein blinder Maler wird dich neu erfinden,
ein Dichter dein Gesicht besingen
und ein Artist in einem Wanderzirkus
jonglierend dich vom Staub befreien.

Крематорий/Krematorij: Мусорный ветер (Mussornij Wjetjer / Müllwind)

Official Video (mit Text):

https://www.youtube.com/watch?v=n3KhG_FUGHE

Weiteres Video (mit Einblendungen von Auftritten der Band): https://www.youtube.com/watch?v=lYjpd-FJGfc

Live: https://www.youtube.com/watch?v=FAY3_WdkkHI

Die Natur hat die besseren Karten

Das Lied Mussornij Wjetjer verbindet die Kritik an Umweltverschmutzung mit dem Appell, das Handeln verstärkt an dem Eigen-Sinn der Natur auszurichten. Anstatt sich prometheisch für den besseren Schöpfer zu halten, soll der Mensch anerkennen, dass die Natur am Ende immer die besseren Karten hat: Wer sie aus dem Gleichgewicht bringt, verliert selbst die Balance.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer verstärkten Demut und größeren Achtung gegenüber der Natur, wie sie die letzte Strophe zum Ausdruck bringt. Anstatt zu versuchen, der Natur den Takt vorzugeben, müssen wir nachvollziehen, wie die Natur die verschiedenen Ökosysteme jonglierend im Gleichgewicht hält, und sie gegebenenfalls dabei unterstützen.
1988 in der Sowjetunion veröffentlicht, bezieht sich der Song natürlich in erster Linie auf die Umweltprobleme, die sich aus der forcierten Industrialisierung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen in den ehemaligen Staaten des Ostblocks ergaben. Hierauf verweist auch der Titel des Liedes (Mussornyj Wjetjer – „Müllwind“), der einem Text von Andrej Platonow (1899 – 1951) entlehnt ist.

Andrej Platonows Erzählung Mussornyj Wjetjer (Müllwind)

Platonows Erzählung spielt im nationalsozialistischen Deutschland und thematisiert die demoralisierende Wirkung der faschistischen Diktatur, die Menschen zu Bestien werden lässt. Der Protagonist wird, nachdem er einem Hitlerdenkmal nicht die geforderte Achtung entgegengebracht hat, verprügelt und in eine Müllgrube geworfen. Nach einem Aufenthalt in einem Konzentrationslager treibt ihn sein verzweifelter Hunger dazu, sich ein Stück vom Körper eines verhungerten Arbeiterkindes abzuschneiden und es zu kochen.
Diese Art der Faschismuskritik war selbst der sowjetischen Zensur zu drastisch, so dass das 1933 entstandene Werk erst über 30 Jahre später erstmals erscheinen durfte. Instinktiv spürten die Behörden wohl auch, dass die Kritik sich nicht nur gegen den Faschismus, sondern allgemein gegen die menschenverachtende Praxis totalitärer Regime richtete.
In der Tat hatte Platonow in seinen zuvor erschienenen Erzählungen und literaturtheoretischen Texten nicht nur die Zwangskollektivierungen und die Selbstherrlichkeit der sowjetischen Bürokratie, sondern auch die propagandistische Vereinnahmung und Verengung von Literatur und Kunst kritisiert. Eben hiergegen opponierte er auch mit dem assoziativ-experimentellen Stil seiner Werke.

Kritik an technokratischem Machbarkeitswahn

Wenn es somit in Platonows Erzählung Müllwind, auf die sich die Band Krematorij mit ihrem Song bezieht, auch nicht um Umweltverschmutzung geht, so lässt sich sein Text doch auf die Geisteshaltung beziehen, die hierzu geführt hat und zugleich das Herausfinden aus der Spirale der Umweltzerstörung erschwert. Dabei handelt es sich um eine technokratische Denkweise, die in ihrem Machbarkeitswahn dazu tendiert, Grundbedürfnisse von Mensch und Natur zu missachten.
Diese Denkweise kennzeichnet nun auch die Politik, die uns eigentlich zu einer Überwindung der Umwelt- und Klimakrise verhelfen soll. Interessanterweise findet sich in dem Lied auch hierauf eine – wenn auch sicher ungewollte – Andeutung.
1988 veröffentlicht, ist die Vorstellung einer durch das „Fangen“ des Windes bewirkten Naturzerstörung wohl eher metaphorisch gemeint – im Sinne des Versuchs, das Unmögliche möglich zu machen. Aus heutiger Perspektive lässt die Zeile aber auch konkret an das „Einfangen“ des Windes durch die Windkraftindustrie denken. Dabei hat gerade die Unterbindung jeder Form von Kritik an dieser Praxis der Energieerzeugung zu einer dirigistischen Politik geführt, die der realsozialistischen Planwirtschaft in nichts nachsteht und die schädlichen Auswirkungen für Natur und Klima mit derselben Rücksichtslosigkeit ausblendet (vgl. das Mini-Glossar Das Heilige Windrad als Höllenmaschine. Natur- und klimaschädliche Auswirkungen der Windkraft).

Über Krematorij

Die Band Krematorij (Krematorium) existiert seit 1983, als das Musikprojekt von Armen Grigorjan und Wiktor Trojegubow aus der Taufe gehoben wurde. Seit dem Ausscheiden von Trojegubow Mitte der 1990er Jahre spielt die Band in wechselnder Besetzung um den aus einer armenischen Familie stammenden Grigorjan, der auch für die meisten Lieder der Gruppe verantwortlich zeichnet.
Nachdem die Band sich anfangs noch im Untergrund bewegte und sich mit „Küchenkonzerten“ durschlug, konnte sie durch die Perestroika bald ein breiteres Publikum erreichen. Landesweite Aufmerksamkeit erlangte sie durch ihre Auszeichnung beim Moskauer Festival „Rocklaboratorium“ im Jahr 1986. Zwei Jahre gelang ihr mit Mussornij Wjetjer und dem dazugehörigen Videoclip der Durchbruch.
Musikalisches Markenzeichen der Gruppe ist die Verbindung oft klassisch anmutender Violinenklänge mit Rockmusik. Dem entsprechen auch die teils reflexiven Texte, die immer wieder die „letzten Dinge“ umkreisen – was wohl auch den Namen der Band erklärt.

English Version

The Wisdom of Mother Nature

On the Song Мусорный ветер (Rubbish Wind) by the Russian Band Крематорий (Krematoriy)

The song Musornyj Vyetyer (Rubbish Wind) by the Russian band Krematorij is a plea for a more cautious approach to Mother Nature that is more oriented towards her own rhythm.

Rubbish Wind

Suffocating, Mother Nature laments
the filthy breath of the chimneys.
Laughing, Satan sees us
catch the wind and throw stones
on Mother Nature.

Clouds of dust are reflected
in our dreamless gazes:
the ruins of the sand castles
in which we had made ourselves at home.

Poisonous clouds billow
over the earth, over the sky.
Hissing, rivers and fish perish
under their hot breath.

Only machines can live here,
building the world after their own image.
Only together can we break the chains
in which this nightmare holds us captive.

So Mother Nature, my love,
deal the cards yourself again!
I know you have the better hand:
My ace you’ll beat with a joker.

Don’t be afraid, my love!
A blind painter will reinvent you,
a poet will sing your face
and an artist in a travelling circus
will free you, juggling, from the dust.

Крематорий/Krematorij: Мусорный ветер (Musornyj Vyetyer / Rubbish Wind)

Official Video (with lyrics):

https://www.youtube.com/watch?v=n3KhG_FUGHE

Video with impressions of performances by the band: https://www.youtube.com/watch?v=lYjpd-FJGfc

Live: https://www.youtube.com/watch?v=FAY3_WdkkHI

Nature has the better cards

The song Musornij Vyetyer combines criticism of environmental pollution with an appeal to act more in accordance with nature’s inherent dynamics. Instead of thinking of himself as the better creator, man should recognise that Mother Nature always has the better cards in the end: Those who throw her out of balance lose the balance themselves.
Hence the need for increased humility and greater respect for nature, as expressed in the last stanza. Instead of trying to set the pace for Mother Nature, we need to understand how she juggles the various ecosystems in balance and, if necessary, support her in doing so.
Released in the Soviet Union in 1988, the song of course refers primarily to the environmental problems resulting from the forced industrialisation and exploitation of natural resources in the former states of the Eastern Bloc. This is also referred to in the title of the song (Musornyj Vyetyer – „Rubbish Wind“), which is borrowed from a text by Andrei Platonov (1899 – 1951).

Andrei Platonov’s story Musornyj Vyetyer (Rubbish Wind)

Platonov’s story is set in Germany at the time of National Socialism and deals with the demoralising effect of the fascist dictatorship, which turns people into beasts. The protagonist, after failing to pay the required respect to a Hitler monument, is beaten up and thrown into a rubbish pit. After a stay in a concentration camp, his desperate hunger drives him to cut off a piece of the body of a famished working-class child and cook it.
Even for Soviet censors, this kind of criticism of fascism was too drastic. As a result, the work, written in 1933, was not allowed to appear for the first time until more than 30 years later. Instinctively, the authorities probably also sensed that the criticism was not only directed against fascism, but against the inhuman practices of totalitarian regimes in general.
In fact, Platonov had criticised not only the forced collectivisation and the high-handedness of the Soviet bureaucracy, but also the propagandistic exploitation and narrowing of literature and art in his previously published stories and literary theory texts. This was precisely what he opposed with the associative-experimental style of his works.

Criticism of technocratic mania for feasibility

Even if Platonow’s story Rubbish Wind, to which the band Krematorij refers with their song, is not about environmental pollution, his text can still be related to the mindset that has led to this and that at the same time makes it difficult to find a way out of the spiral of environmental destruction. The crucial point here is a technocratic way of thinking that, in its mania for feasibility, tends to disregard the basic needs of people and nature.
This mindset partly also characterises the policies that are supposed to help us overcome the environmental and climate crisis. Interestingly, there is also an allusion to this in the song, albeit certainly unintentional.
Published in 1988, the idea of a destruction of nature caused by „catching“ the wind is probably meant rather metaphorically – in the sense of trying to make the impossible possible. From today’s perspective, however, the line also makes us think concretely of the „catching“ of the wind by the wind power industry.
In fact, it is precisely the suppression of any form of criticism of this practice of energy production that has led to a dirigiste policy, which is in no way inferior to the real-socialist planned economy and which ignores the harmful effects on nature and the climate with the same recklessness (cf. the mini-glossary Das Heilige Windrad als Höllenmaschine / The Holy Windmill as a Hell Machine. Nature- and climate-damaging effects of wind power; German).

About Krematorij

The band Krematorij (Crematorium) has existed since 1983, when the music project was launched by Armen Grigoryan and Viktor Troyegubov. Since Troyegubov’s leaving in the mid-1990s, the band has been playing in a changing line-up around the Armenian-born Grigoryan, who is also responsible for most of the group’s songs.
After the group had to perform as an underground band in the beginning and managed to survive with „kitchen concerts“, they were soon able to reach a wider audience thanks to perestroika. They gained nationwide attention when they won an award at the Moscow festival „Rocklab“ in 1986. Two years later they had their breakthrough with Musornyj Vyetyer and the accompanying video clip.
The musical trademark of the group is the combination of often classical violin sounds with rock music. This is also reflected in the partly thoughtful lyrics that repeatedly revolve around the „last things“ – which may also be an explanation for the band’s name.

Bilder /Images: Wyld, William (1806 – 1889): Manchester from Kersal Moor, 1852 Royal Collection. Quelle: https://artsandculture.google.com/asset/NgFNnVH0ukXcEQ (Wikimedia); Ria Sopala (Pix und Fertig): 5G und Windkraft (Pixabay)

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