Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 40 / Diary of a Shadowless Man, Part 40
Mittwoch, 16. August
Es fällt mir immer schwerer, meine Gedanken zu ordnen. Warum bemühe ich mich überhaupt noch darum? Wer zwingt mich dazu? Würde es mir nicht sogar guttun, nicht weiter in mich hineinzuhorchen und mich, frei von allen störenden Gedanken, in ein neues Leben treiben zu lassen?
Andererseits hat es noch immer eine belebende Wirkung auf mich, mit dem Computer Zwiesprache zu halten. Es hält mich irgendwie über Wasser …
Der Cursor als Leuchtturm, ohne den ich die Orientierung verliere? Nun, sobald ich mich wieder ganz der Stellensuche widme, werden wir ja sehen, wie ich ohne die Krücke der ständigen Selbstgespräche zurechtkomme. Die ersten Bewerbungen habe ich jedenfalls schon geschrieben.
Linas Geständnis
„Manchmal überlege ich mir, ob ich nicht besser schattenlos geblieben wäre …“ Linas Worte hallen noch immer in mir nach.
Ich hatte zuerst gar nicht begriffen, was sie mir sagen wollte. „Das musst du mir genauer erklären“, hatte ich sie daher aufgefordert. „Du weißt doch so gut wie ich, dass ‚Schattenlosigkeit‘ für mich eine sehr konkrete Bedeutung hat, und ich verstehe deshalb nicht, warum …“
„Wenn ich ’schattenlos‘ sage, dann meine ich es auch so.“ Sie blickte immer noch unverwandt über meine Schulter hinweg. Auch als ich ihr direkt in die Augen sah, hatte ich nicht den Eindruck, als würde sie meinen Blick erwidern.
„Du willst doch nicht etwa sagen, du wärest auch mal ohne Schatten gewesen?“ brachte ich nach einer kurzen Pause hervor.
„Doch, genau das“, bestätigte sie ohne Umschweife, auch wenn ihre Stimme dabei seltsam brüchig klang.
Erst jetzt fielen mir wieder die düsteren Ahnungen ein, die mich vor ein paar Tagen beschlichen hatten. Dennoch wollte ich in dem Moment nicht wahrhaben, was Lina mir gestand. „Aber das … das hätte ich doch gemerkt!“ beharrte ich. „Du … du hattest doch immer einen ganz normalen Schatten, wie alle anderen auch!“
Sie löste ihre Augen abrupt von dem großen Ahornbaum, der hinter mir mit den Zweigen wedelte. Zum ersten Mal trafen sich unsere Blicke. „Ist dir das wirklich so vorgekommen?“ fragte sie.
„Nun ja … Du weißt ja, dass ich dir immer, sagen wir“ – ich versuchte zu lächeln, aber es wurde nur ein hilfloses Zucken daraus – „besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe … Aber an deinem Schatten ist mir nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen.“
Linas Lippen zitterten. Sie fing sich jedoch gleich wieder und sagte in ruhigem Ton: „Damals, als ich bei euch in der Firma anfing, hatte ich gerade meinen Behelfsschatten von der S.E.S. bekommen – mit denen wirst du sicher auch schon zu tun gehabt haben, denke ich …“
Ein Blick in meine aufgerissenen Augen bestätigte ihr, dass sie Recht hatte. „Nun“, fuhr sie fort, „wie du weißt, nehmen sie einem dort die Maße ab und passen einem dann einen Behelfsschatten an, der auf Außenstehende wie ein echter Schatten wirkt. Ich hätte mich damit also wieder ganz normal bewegen können – und offenbar hat es auf Außenstehende auch so gewirkt, als würde ich das tun. Ich selbst habe mich aber mit dem Behelfsschatten immer sehr unwohl gefühlt.“
Lina wischte sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Ihre Augen waren auf die gezackten Ahornblätter gerichtet, durch die gerade ein leichter Wind strich. „Weißt du“, sagte sie dann, „diese Art von Schatten bleibt für einen selbst immer etwas Äußerliches. Man fühlt sich irgendwie nicht richtig mit ihm verbunden. Es ist, als äffte einen jemand nach, der mit einem selbst nichts zu tun hat. So habe ich mich die ganze Zeit über weiterhin schattenlos gefühlt, obwohl es für alle anderen so aussah, als hätte ich einen ganz normalen Schatten. Darunter habe ich aber noch mehr gelitten als vorher, als meine Schattenlosigkeit auch nach außen hin sichtbar war.“
Lina blickte gedankenverloren auf ihre Hände. Es war, als führten ihre Finger ein Eigenleben, als redeten sie in einer geheimen Sprache, die sie angestrengt zu ergründen suchte. „Außerdem“, ergänzte sie schließlich, „hat der Behelfsschatten ja auch eine Kontrollfunktion: Er ist mit einem Wärmesensor in der S.E.S. verbunden, durch den die Behörde über all deine Aktivitäten im Bilde ist. Das alles habe ich irgendwann einfach nicht mehr ausgehalten.“
„Lina!“ rief ich aus. „Was erzählst du denn da?“ Es war mir fast, als hörte ich mich selbst sprechen.
Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch und blickte mich mitleidig an: „Du hast erst den SLP-Pass bekommen, stimmt’s? Bei mir hat es damals auch fast zwei volle Monate gedauert, bis sie mir den Behelfsschatten angepasst haben. Das Schlimmste dabei war für mich, dass mir niemand gesagt hat, was mit mir passieren würde. Ich wurde einfach einbestellt, und dann klebte plötzlich dieses fremde Ding an mir.“
„Und weiter?“ drängte ich sie. „Wie bist du damit umgegangen?“
Lina holte tief Luft, ehe sie weiterredete. „Anfangs habe ich versucht, den Behelfsschatten einfach zu ignorieren, so wie andere Menschen ja auch ihrem Schatten keine besondere Beachtung schenken. Aber es ist mir einfach nicht gelungen. Immer hatte ich das Gefühl, als wäre jemand hinter mir her, der jede meiner Regungen kontrolliert. Am schlimmsten war es nachts, wenn ich den Behelfsschatten nicht sehen konnte. Dann konnte ich oft nur bei Licht schlafen. Im Dunkeln hatte ich immer das Gefühl, mir würde jemand die Luft abdrücken.“
Ich konnte mich noch immer nicht aus meiner Erstarrung lösen. „Warum hast du denn nie mit mir darüber gesprochen?“ fragte ich. „Wir hätten uns doch gegenseitig helfen können!“
„Das wollte ich ja! Aber du …“ Sie schluckte. Ihre Augen schimmerten feucht. „Na, du weißt ja selbst, wie damals alles gekommen ist.“
Jetzt war es an mir, betroffen zu schweigen. Mir lag die Frage auf den Lippen, ob sie – wenn sie doch mit mir hatte reden wollen – auf die Erotik nicht besser verzichtet hätte. Aber die Frage kam mir selbst unpassend vor, und also verkniff ich sie mir.
Als spürte sie, was mich beschäftigte, sagte Lina: „Du hast mich damals ja auf dem Sofa liegen lassen wie ein Stück Fleisch, das nicht mehr ganz frisch riecht. Da wusste ich plötzlich, dass ich nie mehr einem anderen Menschen nahe sein könnte, solange ich an diesen Behelfsschatten gebunden wäre.“
„Es tut mir leid, Lina, ich wusste doch nicht …“ Ich tastete nach ihrer Hand, wagte es jedoch nicht, sie zu berühren.
„In dieser Situation“, fuhr Lina fort, „habe ich wahrscheinlich den größten Fehler meines Lebens begangen.“ Sie seufzte. „Ich bekam damals regelmäßig Besuch von einem sehr merkwürdigen Menschen, der sich als Vertreter einer Firma namens ‚Shadow Colours‘ ausgab.“
Ich zuckte zusammen, ließ mir aber zunächst nichts anmerken. Ich wollte Lina nicht unterbrechen.
„Dieser Mann hatte mich“, erzählte sie weiter, „schon ziemlich bald nach dem Verlust meines Schattens aufgesucht und mir etwas von einem neuartigen Verfahren zum Ersetzen von Schatten erzählt. Das Ganze kam mir von Anfang an äußerst suspekt vor. Außerdem war mir der Typ selbst nicht ganz geheuer. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, mich auf ein Geschäft mit ihm einzulassen.“
Lina sah mir in die Augen, wich meinem Blick aber gleich wieder aus. „Wie gesagt“, fuhr sie fort, „ich wollte nichts mit dem Kerl zu tun haben. Seit seinem ersten Besuch bei mir stand er aber jede Woche vor meiner Tür und sagte mir immer wieder, dass dies nun garantiert sein letztes Angebot sei. Als ich auch sein allerletztes und sein allerallerletztes Angebot ausgeschlagen hatte, begann er, mich mit E-Mails zu bombardieren. Darin schilderte er die Folgen meines Zustands in den düstersten Farben. Oder er malte mir die wunderbare Zukunft aus, die er mir mit einem Schatten seiner Firma bieten könne. Es war richtiger Terror!“
Lina nippte an ihrem kalten Kaffee. „Na ja“, meinte sie schließlich, „es war dann halt ein sehr unglückliches Zusammentreffen: Ausgerechnet an dem Morgen, nachdem du mich Hals über Kopf verlassen hattest, stand er wieder vor der Tür. Und da habe ich mir plötzlich gesagt: Was soll’s, du hast ja eh nichts mehr zu verlieren – und bin auf sein Angebot eingegangen. Kurz darauf bist du dann wieder bei mir aufgetaucht. Aber da war es eben schon zu spät.“
English Version
Wednesday, August 16
I find it increasingly difficult to fight my way through the jungle of my thoughts. Why do I even bother? Wouldn’t it actually do me good to stop listening to my inner voice and let myself drift into a new life, free of all disturbing thoughts?
On the other hand, it still has an invigorating effect on me to converse with the computer. It somehow keeps me afloat …
The cursor as a lighthouse without which I lose my bearings? Well, as soon as I devote myself fully to the job search again, we’ll see how I manage without the crutch of constant self-talk. The first applications are already underway.
Lina’s Confession
„Sometimes I wonder if I shouldn’t have stayed shadowless …“ Lina’s words still resonate in me.
At first I hadn’t understood what she wanted to tell me. „You’ll have to explain that to me in more detail,“ I had asked her. „You know as well as I do that ’shadowless‘ has a very concrete meaning for me, and so I don’t understand why …“
„When I say ’shadowless‘, I mean it exactly that way.“ She was still gazing steadfastly over my shoulder. Even when I looked her straight in the eye, I didn’t get the impression she was meeting my gaze.
„Are you saying that you used to be without shadow, too?“ I uttered after a short pause.
„Exactly,“ she confirmed without hesitation, even though her voice sounded strangely brittle.
Only now did I remember the dark premonitions that had come over me a few days ago. Nevertheless, at that moment I didn’t want to believe what Lina was confessing to me. „But that … I would have noticed that!“ I stammered. „You … you always had quite a normal shadow, just like everyone else!“
She abruptly detached her eyes from the large maple tree waving its branches behind me. For the first time our eyes met. „Did it really seem that way to you?“ she asked.
„Well … You know I’ve always paid, let’s say“ – I tried to smile, but it only turned into a helpless twitch – „special attention to you … But I never noticed anything unusual about your shadow.“
Lina’s lips trembled. She regained her composure immediately, though, and said in a calm voice: „Back when I started at your company, I had just got my makeshift shadow from the SIA – you must have had to deal with them too, I suppose …“
A look into my widened eyes showed her that she was right. „Well,“ she continued, „as you know, they take your measurements there and then fit you with a replacement shadow that looks like a real shadow to outsiders. So I could have used it to move around normally again – and apparently it looked like I was doing so to outsiders. But I always felt very uncomfortable with the artificial shadow.“
Lina wiped an unruly curl from her forehead. Her eyes were fixed on the jagged maple leaves, through which a light breeze was blowing. „You know,“ she said, „this kind of shadow always remains something external to you. You don’t really feel connected to it. It’s as if someone who has nothing to do with you is imitating you. So I kept feeling shadowless, although to everyone else it looked as if I had a normal shadow. This made me suffer even more than before, when my shadowlessness was visible to the outside world as well.“
Lina looked at her hands, lost in thought. It was as if her fingers had a life of their own, as if they were speaking in a secret language that she was struggling to fathom. „Besides,“ she finally added, „the replacement shadow also has a control function: it is connected to a heat sensor in the SIA, through which the authorities are aware of all your activities. At some point I just couldn’t stand all that any more.“
„Lina!“ I exclaimed. „What are you talking about?“ It was almost as if I was hearing myself speak.
She snapped out of her thoughts and looked at me compassionately: „You only just got the SLP pass, right? In my case, it also took almost two months before they fitted me with the replacement shadow. The worst thing for me was that no one told me what was going to happen to me. One day this strange thing stuck to me, and I had to deal with it somehow.“
„And then?“ I urged her. „How did you cope with the situation?“
Lina took a deep breath. „At first I tried to ignore the artificial shadow, just like other people don’t pay attention to their shadows. But I just didn’t succeed. I always had the feeling that someone was after me, controlling my every move. At night, when I couldn’t see the eerie substitute, it was particularly unsettling. Then I could often only sleep with the light on. In the dark, I felt like someone was suffocating me.“
I gazed at her in dismay. „Why didn’t you ever talk to me about it? We could have helped each other!“
„That’s what I wanted! But you …“ She swallowed. Her eyes gleamed wetly. „Well, you know yourself how everything ended up back then.“
Embarrassed, I looked to the side. The question was on my lips whether – if she wanted to talk to me – it wouldn’t have been better to do without eroticism. But the question seemed inappropriate to me, so I refrained from asking it.
As if she sensed what was bothering me, Lina said: „You left me lying on the sofa like a piece of meat that no longer smelled fresh that day. That’s when I suddenly realised that I could never be close to another person again as long as I was tied to this terrible shadow.“
„I’m sorry, Lina, I didn’t know …“ I felt for her hand but didn’t dare touch it.
„In that situation,“ Lina continued, „I probably made the biggest mistake of my life.“ She sighed. „At that time, I was visited regularly by a very strange person who claimed to be a representative of a company called ‚Shadow Colours‘.“
I winced, but remained silent at first. I didn’t want to interrupt Lina.
„This man,“ she went on, „had come to see me quite soon after the loss of my shadow and told me something about a new kind of procedure for replacing shadows. The whole thing seemed extremely suspicious to me from the start. Moreover, I wasn’t entirely comfortable with the guy himself. It would never have occurred to me to get involved in a business deal with such a literally ’shady‘ character.“
Lina looked me in the eye, but immediately avoided my gaze again. „As I said,“ she kept remembering, „I didn’t want to have anything to do with that guy. Since his first visit to me, however, he has been standing in front of my door every week, telling me again and again that this would definitely be his final offer. When I had rejected even his last and his very last offer, he began to bombard me with emails. In them, he described the consequences of my situation in the darkest colours. Or he told me about the wonderful future he could offer me with a shadow of his company. It was real terror!“
Lina sipped her cold coffee. „Well,“ she concluded, „it was just a very unfortunate coincidence: the morning after you had left me head over heels, he was standing in front of the door again. And that’s when I suddenly said to myself: What the hell, you’ve got nothing left to lose anyway – and I accepted his offer. Shortly afterwards you showed up at my place again. But by then it was already too late.