Die Fußfessel / The Anklet

Tagebuch eines Schattenlosen, letzter Teil 42 / Diary of a Shadowless Man, Part 42

Dies ist der letzte Eintrag im Tagebuch eines Schattenlosen – aber nur von Teil I. Teil II – Die Dunkelmänner – folgt demnächst. / his is the last entry in the Diary of a Shadowless Man – but only of Part I. Part II – Disciples of Darkness – will follow soon.

English Version

Donnerstag, 17. August

Eine Made hat sich in meinem Gehirn eingenistet. Eine Made, die sich immer tiefer in die Windungen meines Geis­tes hineinfrisst. Nicht mehr lange, und sie wird die DNA meines Denkens durch ihre ersetzt haben.
Ob ich Lina wohl noch einmal wiedersehen werde? Und wenn ja: Werden wir dann noch diejenigen sein, die wir bei unserer ersten Begegnung waren?

Die Fußfessel

Das Schwindelgefühl, das mich befiel, als Lina mir meinen zweiten Besuch bei ihr aus ihrer Sicht geschildert hatte, hat mich seither nicht mehr verlassen. Noch immer stehe ich vor dem Abgrund, der sich durch ihren Bericht vor mir auf­getan hat. Denn mir war sofort klar: Es war niemand ande­res als der Schattenhändler, der sich an jenem Morgen in Linas Wohnung aufgehalten hatte!
Ich sehe mich mechanisch nach dem Glas mit dem Eiskaffee greifen, von dem ich noch kaum etwas zu mir genommen hatte. Noch immer verspürte ich keine Lust, davon zu kos­ten. Stattdessen umfasste ich das Glas mit meinen Händen, als müsste ich es vor etwas beschützen.
Eine Weile lang saßen wir schweigend nebeneinander. Lina war wieder in das tänzelnde Eigenleben ihrer Finger versun­ken, und ich starrte wie ein Wahrsager auf meinen Eiskaffee, in dem das Eis allmählich zu einem süßen Brei zerfloss.
„Ich hatte auch mit ihm Kontakt“, bekannte ich schließlich, ohne von dem Eiskaf­fee aufzublicken.
Lina fuhr aus ihrer apathischen Haltung auf. „Mit wem?“ fragte sie, als hätte sie mich nicht richtig verstanden.
„Mit dem Schattenhändler“, entgegnete ich, ihren Blick auf­fangend.
Lina sah mich ungläubig an: „Aber … du hast dich doch nicht etwa auf einen Deal mit ihm eingelassen?“
„Doch“, musste ich zugeben.
Lina wandte ihren Blick wieder von mir ab. „Dann bist du erledigt“, sagte sie tonlos.
Ich widersprach ihr, obwohl ich sofort spürte, dass sie Recht hatte. „Was soll das heißen: erledigt? Du hast doch selbst gesagt, dass du sein Angebot ange­nommen hast, weil du den Zustand mit dem Behelfsschatten nicht mehr ertragen konntest.“ Wild galoppierte das Blut in meinen Schläfen.
„Ich habe aber auch gesagt, dass das der größte Fehler mei­nes Lebens war.“ Lina blickte zu Boden, wo die Schatten der Ahornblätter in lautlosen Tänzen ineinanderglitten.
„Weißt du“, erklärte sie schließlich, „es ist so: Der Be­helfs­schatten äfft dich nach, er kontrolliert dich auch – aber er tastet doch deine Person als solche nicht an. Vielleicht hätte ich nur lernen müssen, mit ihm umzugehen, dann hätte ich ihn womöglich hier und da sogar austricksen können. Der Schatten, den ich von Shadow Colours erhalten habe, kon­trolliert mich aber nicht nur – er formt mich, er greift in mein Leben ein, er lenkt mich, ohne dass ich es merke!“
Ich schüttelte unwillig den Kopf. „Aber das ist doch gar nicht möglich, Lina!“
„Du wirst ja sehen“, erwiderte sie achselzuckend. „Wenn du auf das Angebot eingegangen bist, kann es nicht mehr lange dauern, bis du den Schatten bekommst.“
„Noch habe ich nichts unterschrieben“, stellte ich klar. „Also kann mir auch gar nichts passieren!“
Lina sah mich müde an. „Aber du hast ihm die Hand gege­ben, nicht?“
Ich nickte.
„Dann bist du verloren, Theo, du musst dich damit abfin­den!“ Ihre Stimme klang ebenso mitfühlend wie unerbittlich.
„Und wenn wir zusammen abhauen?“ flüsterte ich, einem spontanen Impuls folgend. „Noch ist ja niemand von Sha­dow Colours bei mir aufgekreuzt.“
Lina lächelte spöttisch. „Glaubst du, das läuft ab wie bei der Reparatur einer kaputten Klospülung? Der Klempner kommt, holt die Zange raus, dreht sie dreimal rum, und das war’s dann?“
Ich verstummte. Linas plötzlicher Sarkasmus beunruhigte mich.
„Du wirst es gar nicht merken, wenn sie dir den Schatten anlegen“, setzte sie in ruhigerem Ton hinzu. „Er wird ein­fach plötzlich da sein, wie eine Fußfessel, die dir jemand umbindet, während du schläfst. Und dann wirst du auf ein­mal nicht mehr Herr deines Willens sein. Du wirst nicht mehr wissen, ob du das, was du zu wollen meinst, wirklich willst, oder ob es nur der Schatten ist, der es dich wollen lässt. Du wirst zum Diener von Interessen werden, die du gar nicht kennst. Am Ende wirst du nur noch eine Mario­nette deines eigenen Schattens sein.“
„Lina, um Gottes willen, es muss doch einen Ausweg ge­ben!“ beschwor ich sie. „Lass uns fliehen, gemeinsam wer­den wir es schon schaffen! Wir sind doch freie Menschen!“
Lina blickte wieder apathisch vor sich hin. „Unsere Freiheit ist die Freiheit von Marionetten, wir können genauso wenig fliehen wie sie. Wir hängen beide an unserem Seil, bewegt von Interessen, von denen wir nicht wissen, ob sie die unse­ren sind, aber auch unfä­hig, uns ohne Seil aufrecht zu halten. Selbst wenn du dich also von dem Seil, das dich hält, losrei­ßen könntest, wärst du doch immer noch unfähig, dich ohne es zu bewegen – wie willst du also weglaufen können?“
Hektische Flecken flackerten auf Linas Wangen. Oder waren das nur die tanzenden Schatten des Laubs? Sie atmete tief durch, dann ergänzte sie: „Einmal angenommen, dir würde die Flucht tatsächlich gelingen: Meinst du wirklich, es gibt irgendeinen Platz auf der Welt, wo du vor diesen Leuten sicher bist? Die werden ihre Ansprüche dir gegenüber schon durchsetzen, darauf kannst du dich verlassen! Außerdem kannst du dir doch nie sicher sein, ob nicht der Wunsch, wegzulaufen, selbst schon wieder das Resultat eines Willens ist, der nicht dein eigener ist, sondern von dir völlig frem­den Interessen herrührt, die dir dein Schatten eingegeben hat.“
„Aber ich habe doch noch gar keinen Schatten! Ich werde mich mit aller Kraft dagegen wehren, dass man mir einen anlegt!“ beharrte ich, wie ein Kind, dem man die Existenz des Weihnachtsmanns auszureden versucht.
Da bemerkte ich, wie Lina ih­re Augen fest auf eine Stelle schräg hinter mir richtete, wo ein kreisrunder Sonnenfleck auf den Kiesweg unter dem Ahornbaum fiel. Linas Blick folgend, wandte ich mich um und fixierte ebenfalls die Stelle, die sie so starr ansah.
Zunächst fiel mir nichts Besonderes auf. Dann aber erkannte ich, dass zwischen den in den Sonnenfleck hineinspielenden Bewegungen der Blätter etwas Rundes zu sehen war, das ich zuvor nicht bemerkt hatte. An seinem oberen Ende war es von etwas umgeben, das wie ein Haarkranz aussah. Je ge­nauer ich hinschaute, desto heftiger schien der schwarze Kreis in dem Sonnenfleck sich zu bewegen, wie ein Strudel, der mich mit unwiderstehlicher Kraft zu sich hinzog.
Mir wurde schwarz vor Augen. Einen Augenblick lang stand mein Leben still, sogar mein Herzschlag schien auszusetzen. Dann drangen die Dinge allmählich wieder zu meinem Be­wusstsein vor, wenn auch wie durch ei­nen Filter, der sich unmerklich vor meine Sinne gelegt hatte. Ich stürzte auf dem Kiesweg in die pralle Sonne, blickte vor mich, blickte hinter mich – aber es konnte keinen Zweifel geben: Ich hatte wie­der einen Schatten.

English Version

Thursday, August 17

A maggot has taken up residence in my brain. A maggot that eats its way deeper and deeper into the convolutions of my mind. It won’t take long until it will have replaced the DNA of my thinking with its own.
Will I ever see Lina again? And if so, will we still be who we were when we first met?

The Anklet

The dizziness that seized me when Lina told me about my second visit to her from her point of view has not left me since. I still stand before the abyss that suddenly opened up before me – for it was immediately clear to me that it was none other than the shadow dealer who had been in Lina’s flat that morning!
I see myself mechanically reaching for the glass of iced coffee, of which I had hardly taken anything yet. Still I felt no desire to taste it. Instead, I clasped the glass with my hands as if I had to protect it from something.
For a while we sat next to each other in silence. Lina was lost again in the unfathomable dances of her fingers, and I stared like a fortune teller at my iced coffee, in which the ice gradually melted into a sweet mush.
„I had contact with him too,“ I finally confessed without looking up from the iced coffee.
Lina roused herself from her apathetic posture. „With whom?“ she asked, as if she hadn’t heard me correctly.
„With the shadow dealer,“ I replied, catching her gaze.
Lina looked at me incredulously: „But … you didn’t make a deal with him, did you?“
„Unfortunately, I did,“ I had to admit.
Lina averted her gaze from me again. „Then you’re finished,“ she said tonelessly.
I contradicted her, although I immediately sensed that she was right. „What do you mean by ‚finished‘? You said yourself that you accepted his offer because you couldn’t stand the artificial shadow from the SIA any longer.“ The blood galloped wildly in my temples.
„But I also said it was the biggest mistake of my life.“ Lina looked down at the ground, where the shadows of the maple leaves floated weightlessly around each other.
„You know,“ she finally explained, „it’s like this: The SIA shadow mimics you, it also controls you – but it doesn’t touch your person as such. Maybe I should have learned how to deal with it, then I could have even outsmarted it here and there. But the shadow I received from Shadow Colours doesn’t just control me – it shapes me, it intervenes in my life, it directs me without me noticing it!“
I shook my head in disbelief. „But that’s just impossible, Lina!“
„Well, you’ll see,“ she replied with a shrug. „If you’ve accepted the offer, it can’t be long before you get the shadow.“
„I haven’t signed anything yet,“ I made clear. „So nothing can happen to me!“
Lina looked at me tiredly. „But you shook his hand, didn’t you?“
I nodded.
„Then you’re lost, Theo, you’ll just have to face the truth!“ Her voice sounded as compassionate as it was implacable.
„What if we ran off together?“ I whispered, following a spontaneous impulse. „No one from Shadow Colours has shown up at my place yet, after all.“
Lina smiled mockingly. „Do you think this is going to be like fixing a broken toilet? The plumber comes, takes out the pliers, spins them around three times, and that’s it?“
I fell silent. Lina’s sudden sarcasm worried me.
„You won’t even notice when they put the shadow on you,“ she added in a calmer tone. „It will just suddenly be there, like a shackle that someone ties around you while you sleep. And then, all of a sudden, you won’t be the master of your will anymore. You will no longer know whether you really want what you think you want, or whether it is only the shadow that makes you want it. You will become the servant of interests you don’t even know. In the end, you’ll be just a puppet of your own shadow.“
„Lina, for God’s sake, there must be a way out!“ I implored her. „Let’s escape, together we’ll make it! We are free human beings after all!“
Lina looked apathetically in front of herself again. „Our freedom is the freedom of puppets; we can no more escape than they can. We are both hanging from our strings, moved by foreign interests, but also unable to hold ourselves upright without a string. Even if you could tear yourself away from the string that holds you, you would still be unable to move without it – so how will you be able to run away?“
Hectic spots flickered on Lina’s cheeks. Or were they just the wafting shadows of the leaves? She took a deep breath, then added: „Suppose you actually succeeded in escaping: Do you really think there is any place in the world where you are safe from these people? They will enforce their claims on you, you can be sure of that! Besides, you can never know whether the desire to run away is not itself the result of a will which is not your own, but comes from interests completely foreign to you, instilled in you by your shadow.“
„But I don’t have a shadow yet! I’m going to fight with all my might against having one put on me!“ I insisted, like a child who is being talked out of the existence of Santa Claus.
That’s when I noticed how Lina fixed her eyes firmly on a spot diagonally behind me, where a circular sunspot fell on the gravel path under the maple tree. Following Lina’s gaze, I turned around and also looked at the spot she was staring at.
At first, nothing in particular caught my eye. But then I realised that between the movements of the leaves dancing in the sunspot, there was something round that I hadn’t noticed before. At its upper end, it was surrounded by something that looked like a fringe of hair. The closer I looked, the more vigorously the black circle in the sunspot seemed to move, like a swirl pulling me toward it with irresistible force.
I felt the blood drain from my veins. For a moment my life stood still, even my heartbeat seemed to stop. Then things gradually came back to my consciousness, albeit as if through a filter that had imperceptibly been placed in front of my senses. I rushed down the gravel path into the blazing sun, looked in front of me, looked behind me – but there could be no doubt: I had a shadow again.

Bild: Stocksnap: Dark (Pixabay);Peter Linforth (TheDigitalArtist): Handschellen (Pixabay)

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