Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 39/ Diary of a Shadowless Man, Part 39
Dienstag, 15. August
Seit dem Besuch des Schattenhändlers hat ein eigenartiges Lähmungsgefühl von mir Besitz ergriffen. Es ist nicht so, dass ich allgemein antriebsarm wäre. Mein Alltag läuft so ab wie immer. Ich komme morgens sogar etwas besser aus dem Bett und habe nicht mehr diese Angst vor den bohrenden Blicken der Passanten, wenn ich vor die Tür gehe.
Die Lähmung bezieht sich eher auf meinen Geist. Es ist, als hätte ich keinen rechten Zugang mehr zu mir; als würde jemand anders für mich denken, und ich müsste nur ausführen, was er für mich entschieden hat. Dadurch fühle ich mich zwar nicht mehr so ruhelos wie früher. Aber die Ruhe, die mich erfasst hat, ist eben die Ruhe des Gelähmten, der nach keiner Bewegung strebt, weil er ohnehin weiß, dass er sie nicht ausführen kann.
Fast wünsche ich mir jetzt dieses Gefühl der Haltlosigkeit zurück, das mich bis vor Kurzem begleitet hat. Zum Schluss hatte ich mich ja fast daran gewöhnt. Natürlich war die ständige Unruhe auch eine große Belastung für mich. Dennoch kommt sie mir im Rückblick irgendwie lebendiger vor als mein jetziger Zustand.
Ob es mir besser gehen würde, wenn ich Lina nicht getroffen hätte? – Wohl kaum … An der Situation als solcher hätte sich dadurch ja nichts geändert. Wenn wir nur früher wieder miteinander gesprochen hätten! Vielleicht hätte ich dann einen anderen Weg eingeschlagen. Aber hätte das denn in meiner Macht gestanden?
Wiedersehen mit Lina
Warum ich am Montag nach Hadderstetten gefahren bin, weiß ich selbst nicht mehr. Sicher, es war ein richtig schöner Sommertag, angenehm warm, kein bisschen schwül … Im Prinzip ist es ganz normal, wenn man an einem solchen Tag einen Ausflug unternimmt. Andererseits hatte ich mich schon seit Monaten an ungetrübten Sonnentagen nicht mehr vor die Tür getraut. Und wenn, hätte ich mit Sicherheit eine Uferpromenade wie die in Hadderstetten gemieden, auf der es keine Fluchtmöglichkeit vor den alles offenbarenden Blicken der Sonne gab.
Immerhin war an einem Montagnachmittag nicht allzu viel Betrieb am Fluss: Mütter mit Kindern, ein paar alte Leute, hier und da Touristen, die sich nach Hadderstetten verirrt hatten – auf der langen Promenade verlief sich das schnell. Ich empfand ein seltsames, lange nicht mehr da gewesenes Hochgefühl, das meine Schattenlosigkeit völlig in den Hintergrund drängte. Vielleicht war es die rauschhafte Wirkung, den ungefilterte Sonneneinstrahlung auf jemanden ausübt, der sich ihr lange entzogen hat, vielleicht auch schlicht der Übermut des Tagträumers. Jedenfalls hatte ich plötzlich nicht mehr das Gefühl, mich verstecken zu müssen.
Ich bewegte mich völlig frei zwischen den anderen Spaziergängern, als würde ich mich durch nichts von ihnen unterscheiden. Möglicherweise war das ja auch der Grund dafür, dass mich tatsächlich niemand mit diesem befremdeten Blick, der mit peinlicher Akribie den Grund für seine eigene Befremdung sucht, angestarrt hat. Einmal mehr kam mir der Gedanke, dass es vielleicht doch nicht die Schattenlosigkeit war, die mein eigentliches Problem darstellte, sondern eher der fehlende Mut, sich zu ihr zu bekennen.
Ich ging die Promenade ganz bis zu ihrem Ende entlang, genoss dort auf einer Bank den Blick auf den sich zwischen den Hügeln verlierenden Fluss, dann spazierte ich wieder zurück. Allmählich fiel die Unbeschwertheit jetzt wieder von mir ab. Der Hauptgrund dafür war wohl, dass nun vielerorts Büroschluss war. Offenbar hatten sich bei dem schönen Wetter nicht wenige dazu entschlossen, ein paar Überstunden abzufeiern und früher Schluss zu machen. So nahm die Zahl der Spaziergänger auf einmal merklich zu.
Hinzu kam, dass die Sonne des späten Nachmittags jetzt längere Schatten auf den Weg zeichnete. Dadurch wurde ich mir meines Makels wieder stärker bewusst. Als ich in die Nähe des Terrassencafés kam, sah ich deshalb unwillkürlich zu den im Schatten stehenden Tischen herüber, in der Hoffnung, dort in Ruhe das Abebben des Spaziergängerstroms abwarten zu können.
Zum Glück waren die meisten Schattenplätze unbesetzt. Fast alle Gäste zogen es vor, sich von der milden Nachmittagssonne umschmeicheln zu lassen. Während ich noch nach dem schattigsten Plätzchen Ausschau hielt, blieb mein Blick plötzlich an einer allein sitzenden Frau haften. Sie hatte unter einem alten Ahornbaum mit ausladenden Ästen Platz genommen, wo man sicher sein konnte, von keinem Sonnenstrahl getroffen zu werden. Genau diesen Tisch hätte auch ich ausgewählt. Da die Frau trotz der schattigen Umgebung eine Sonnenbrille trug, hielt ich sie zunächst für eine Fremde. Erst als ich genauer hinsah, erkannte ich sie: Es war Lina.
Nach all den Tagen, an denen ich darüber nachgedacht hatte, ob und wie ich mich ihr wieder nähern könnte, erschien mir dieses Zusammentreffen wie ein Wink des Schicksals. Ich zögerte keinen Augenblick. Rasch ging ich an den Tischen der Sonnenanbeter vorbei zu der obersten Terrasse, auf der ich Lina erblickt hatte. Trotz des Knirschens meiner Schritte auf dem Kiesweg bemerkte sie mich erst, als ich direkt vor ihr stand. Gedankenversunken sah sie zu mir auf.
„Theo!“ rief sie erstaunt. „Was machst du denn hier?“
„Das Gleiche könnte ich dich auch fragen“, entgegnete ich. „Darf ich mich setzen?“
Lina lächelte. Ihre Mundwinkel zuckten leicht. „Gern“, lud sie mich ein, auf die freien Plätze an ihrem Tisch weisend.
Aufgeregt, wie ich war, begann ich über lauter Belanglosigkeiten zu reden: über die glücklichen Leute von Hadderstetten, die eine so schöne Uferpromenade in ihrer Stadt hätten, über die Amseln, die hinter uns durchs Unterholz huschten, ja sogar über das Wetter und die Wetteraussichten, obwohl mir in dem Moment kaum etwas gleichgültiger war als das Geraune der Meteorologen.
Als die Bedienung an unseren Tisch kam, bestellte ich mir einen Eiskaffee. Da Lina ihren Kaffee schon fast ausgetrunken hatte, wollte ich sie auch zu einem Eis einladen, aber sie lehnte ab.
Eine Weile lang schwiegen wir, dann fragte Lina: „Sag mal: Ich hab‘ dich schon seit Wochen nicht mehr in der Firma gesehen. Warst du etwa krank?“
Ich sah sie überrascht an. „Aber ich bin doch schon vor über einem Monat entlassen worden! Wusstest du das denn nicht?“
Sie schien ehrlich betroffen zu sein: „Was? Sie haben dir gekündigt? Das tut mir leid, Theo, wirklich …“
„Mach dir keinen Kummer“, spielte ich die Kündigung herunter. „Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden.“ Ich wunderte mich, wie viel Anteil sie plötzlich an meinem Schicksal nahm. Das alles wollte so gar nicht zu unserer letzten Begegnung in ihrer Wohnung passen, als sie mir die kalte Schulter gezeigt hatte.
Die Bedienung kam und brachte mir meinen Eiskaffee. Erneut versuchte ich, einen lockeren Ton anzuschlagen: „Wie geht’s denn so in der Firma? Gibt’s was Neues?“
Lina seufzte. „Ach, was soll es da schon Neues geben? Es ist doch tagaus, tagein dieselbe Routine.“
Für einen Augenblick sah sie ausdruckslos vor sich hin. Dann setzte sie hinzu: „Manchmal hätte ich Lust, den ganzen Krempel hinzuschmeißen.“
Nachdem ich ihr gerade von meiner Entlassung erzählt hatte, fand ich die Bemerkung etwas unpassend. Dennoch versuchte ich, ihr Mut zuzusprechen: „Du bist doch nicht mit der Firma verheiratet! Warum bewirbst du dich nicht einfach mal auf ein paar andere Stellen?“
Anstatt zu antworten, schwenkte Lina gedankenverloren die Kaffeetasse in ihrer Hand. Fast wäre der Kaffee auf ihre Hand geschwappt. Tonlos sagte sie dann, fast wie bei einem Selbstgespräch: „Andere Stellen … Das klingt nach großer Veränderung. Aber vor uns selbst können wir ja doch nicht fliehen. Unser Schatten folgt uns, wohin wir auch gehen.“
Langsam, als bereite es ihr Mühe, griff sie nach einem Bügel der Sonnenbrille und nahm sie ab. Dabei wandte sie mir ihr Gesicht zu, so dass ich ihr in die Augen sehen konnte. Sie kamen mir etwas gerötet vor.
Es ärgerte mich, dass sie in dieser Weise über ihren Schatten sprach. Wollte sie damit etwa auf meine Schattenlosigkeit anspielen? „Was soll das heißen, Lina?“ fragte ich daher. „Du weißt doch, dass ich …“
„Das soll heißen“, unterbrach sie mich, „dass ich mir manchmal überlege, ob ich nicht besser schattenlos geblieben wäre.“
Sie blickte in meine Richtung, sah aber an mir vorbei.
English Version
Tuesday, August 15
Since the visit of the shadow merchant, a strange paralysing feeling has taken possession of me. It is not that I am generally lacking in drive. My everyday life goes on as usual. I even get out of bed a little better in the morning and no longer fear the piercing glances of passers-by so much when I go out the door.
The paralysis is more related to my mind. It is as if I no longer have proper access to myself; as if someone else is thinking for me, and I only have to carry out what he has decided for me. As a result, I no longer feel as restless as before. But the calmness that has seized me is the calmness of a paralysed person who does not strive for any movement, knowing that it’s impossible to carry it out anyway.
Now I almost want back this feeling of groundlessness that accompanied me until recently. By the end, I had almost gotten used to it. Of course, the constant restlessness was also a great burden for me. Nevertheless, in retrospect it seems to me that I was somehow more alive with it than I am in my current state.
Would I be better off if I hadn’t met Lina? – Probably not … Nothing would have changed in the situation as such. If only we had talked to each other earlier! Maybe then I would have taken a different path. But would that have been within my power?
Chance Encounter with Lina
Why I went to Hadderstetten on Monday, I don’t remember myself. Sure, it was a really nice summer day, pleasantly warm, not the least muggy … In principle, it’s quite normal to take a little trip on such a day. On the other hand, I hadn’t dared to step outside on unclouded days for months. And if I had, I would certainly have avoided a waterfront like the one in Hadderstetten, where it was impossible to escape the all-revealing gaze of the sun.
Of course, there wasn’t too much activity by the river on a Monday afternoon: mothers with children, a few old people, here and there some tourists who had accidentally come across Hadderstetten – on the long promenade, they all quickly got lost. I felt a strange exhilaration that I had not experienced for a long time and that completely pushed my shadowlessness into the background. Perhaps it was the inebriating effect that unfiltered sunlight has on someone who has long eluded it, or maybe it was simply the high spirits of the daydreamer. In any case, I suddenly no longer had the feeling that I needed to hide.
I moved completely without constraint among the other walkers, as if nothing distinguished me from them. Possibly that was why nobody stared at me with this alienated look that with embarrassing meticulousness seeks the reason for its own alienation. Once again, the thought occurred to me that perhaps my real problem was not the shadowlessness, but rather the lack of courage to confess to it.
I walked along the promenade all the way to its end, sat on a bench and enjoyed the view of the river disappearing between the hills, then walked back again. Gradually, the lightheartedness fell away from me again. The main reason for this was probably that it was now closing time in many places. Apparently, quite a few people had decided to use up a few hours of overtime in the nice weather and finish work early. Thus, the number of walkers suddenly increased noticeably.
In addition, the late afternoon sun was now casting longer shadows on the path. This made me more aware of my flaw again. When I came near the terrace café, I therefore involuntarily looked over to the tables standing in the shade, hoping that I could wait there in peace until the stream of strollers died down.
Fortunately, most of the shady spots were unoccupied. Almost all the guests preferred to let themselves be caressed by the mild afternoon sun. While I was still looking for the shadiest spot, my gaze suddenly caught on a woman sitting alone. She had taken a seat under an old maple tree with overhanging branches, where she could be sure not to be hit by a ray of sunlight. This was exactly the table I would have chosen. Since the woman, despite the shady surroundings, wore sunglasses, I initially took her for a stranger. Only when I looked more closely did I recognize her: it was Lina.
After all the days I had spent thinking about whether and how I could approach her again, this encounter seemed like a twist of fate to me. I did not hesitate a single moment. Quickly I walked past the tables of sun worshippers to the upper terrace where I had caught sight of Lina. Despite the crunch of my footsteps on the gravel path, she did not notice me until I was standing directly in front of her. Lost in thought, she looked up at me.
„Theo!“ she exclaimed in amazement. „How come you’re here?“
„I could ask you the same thing,“ I countered. „May I sit down?“
Lina smiled. The corners of her mouth twitched slightly. „Of course, you have free choice,“ she invited me, pointing to the empty seats at her table.
Excited as I was, I began to talk about all sorts of trivialities: about the happy people of Hadderstetten, who had such a beautiful waterfront in their town, about the blackbirds scurrying through the undergrowth behind us, even about the weather and the weather outlook, although at that moment nothing was more meaningless to me than the murmurs of the meteorologists.
When the waitress came to our table, I ordered an iced coffee. Since Lina had almost finished her coffee, I wanted to invite her for an ice cream, too, but she declined.
We were silent for a while, then Lina asked: „By the way, I haven’t seen you at work for weeks. Have you been sick?“
I looked at her in surprise. „Didn’t you know I was laid off? That’s been over a month now.“
She seemed honestly concerned: „What do you say, they laid you off? I’m sorry about that, Theo, really …“
„Don’t worry about it,“ I downplayed the dismissal. „By now I’ve come to terms with it.“ I was surprised how much interest she suddenly took in my fate. It didn’t seem to fit in at all with our last encounter in her flat, when she had given me the cold shoulder.
The waitress came and brought me my iced coffee. Again, I tried to adopt a casual tone: „And how are things at work? Anything new?“
Lina sighed. „Oh, what could be new there? After all, it’s the same routine every day.“
For a moment she silently stared ahead. Then she added: „Sometimes I feel like just taking off and leaving it all behind.“
Since I had only just told her about my dismissal, I found the remark a bit inappropriate. Yet I tried to encourage her: „You’re not married to the company, are you? Why don’t you just apply for some other jobs?“
Instead of answering, Lina thoughtfully waved the coffee cup in her hand. The black puddle almost sloshed onto her blouse. Then she said tonelessly, as if she were talking to herself: „Other jobs … That sounds like a big change. But we can’t run away from ourselves. Our shadow follows us wherever we go.“
Slowly, as if it was a great effort for her, she reached for one of the temples of the sunglasses and took them off. She turned her face towards me so that I could look into her eyes. They seemed a little reddened to me.
It annoyed me that she spoke about her shadow in that way. Did she want to allude to my shadowlessness? „What do you mean, Lina?“ I asked. „You know that I …“
„It means,“ she interrupted me, „that sometimes I wonder if I shouldn’t have stayed shadowless.“
She glanced in my direction, but looked past me.