Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 37 / Diary of a Shadowless Man, Part 37
Samstag, 12. August
Heute früh hat mir ein Bote der S.E.S. meinen neuen Pass gebracht. Blutrot ist er, mit einem großen, leicht von der Oberfläche abstechenden schwarzen Kreis in der Mitte, der den Betreffenden bei jeder Kontrolle sofort als Schattenlosen ausweist. Drinnen sind statt einem Foto unverständliche Codes eingraviert, und eine Seite ist sogar aus einer Art Metall angefertigt – vielleicht mein Wärmeabdruck.
Ich musste nicht lange überlegen, was ich mit dem Ding anfangen sollte. Es ist augenblicklich im Mülleimer gelandet, wo es nun – eingebettet in Eierschalen und die Tomatensoße aus dem Glas, das mir gestern runtergefallen ist – vor sich hin schimmelt. Ich meine, es damit der einzig sinnvollen Verwendung zugeführt zu haben.
Natürlich ist mir klar, dass das nur eine kindische Auflehnung gegen eine Entwicklung war, die nicht mehr aufzuhalten ist. Der Pass dokumentiert ja nur das, was die Behörde über mich festgestellt hat. Ob ich ihn aufbewahre oder nicht, ändert daran nicht das Geringste. Allenfalls bekomme ich durch den Verzicht auf das Dokument weitere Probleme, wenn ich demnächst einmal in eine Polizeikontrolle geraten sollte.
Dennoch kommt es mir so vor, als wären das Ängste aus einer anderen Zeit. Merkwürdig: Ich habe den Eindruck, frei zu sein, ohne mich frei zu fühlen. Mir scheint, dass alles anders ist, obwohl nichts sich geändert hat.
Ich werde selbst nicht mehr schlau aus mir. Bestimmt eine Folge der erneuten Begegnung mit dem Schattenhändler! Wenn er das nächste Mal kommt, mache ich ihm einfach die Tür vor der Nase zu. Der Mann ist mir irgendwie unheimlich.
Erneuter Besuch des Schattenhändlers
Gestern – es war schon später Nachmittag – ein durchdringendes Klingeln an der Tür. Das konnte nur der Schattenhändler sein! Ich war mir sicher, dass er kommen würde. Schließlich hatte er seinen Besuch für den Tag angekündigt.
Er stand vor mir, als wären wir gerade erst auseinandergegangen – in genau demselben lächerlichen Vertreteranzug, auf dem die Reklame-Schriftzüge mir entgegenleuchteten wie frisch poliert. Sein Aussehen befremdete mich zwar noch immer ein wenig, doch kam es mir nun schon weit weniger exotisch vor als bei unserer ersten Begegnung.
Einen Augenblick lang blickte er mir mit einem aufmunternden Lächeln in die Augen, ohne etwas zu sagen. „Meljohn von Shadow Colours“, stellte er sich dann abermals vor. Mit einem Anflug von Understatement setzte er hinzu: „Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern … Ich hoffe, ich komme Ihnen nicht ungelegen? Ich wollte nur nachfragen, ob wir mit Ihrem Auftrag rechnen können.“
Anders als bei seinem letzten Besuch trat er dieses Mal nicht von sich aus ein. „Bitte, kommen Sie doch rein!“ forderte ich ihn daher auf.
Ich schloss die Tür hinter ihm und bat ihn ins Wohnzimmer. Höflich, aber bestimmt lehnte er ab: „Tut mir leid, ich habe heute nicht so viel Zeit. Der Freitagabend ist leider bei unseren Kunden ein sehr beliebter Gesprächstermin. Und Sie wissen ja: Der Kunde ist König …“
Im Vergleich zu seinem fast schon aufdringlichen Verhalten von vor zwei Wochen kam er mir auffallend reserviert vor. Merkwürdig: War er sich seiner Sache so sicher? Oder wollte er einfach keine weitere Zeit in die Kundenberatung investieren?
Es war mir unangenehm, eine für mich so wichtige Entscheidung zwischen Tür und Angel zu treffen. Also versuchte ich, ihn mit einer Tasse Kaffee zu ködern. Aber es war nichts zu machen: Er bestand darauf, die Angelegenheit im Stehen zu besprechen.
Da mich sein Verhalten ärgerte, überlegte ich kurz, ob ich ihn – was ich eigentlich nicht mehr vorgehabt hatte – auf die ominöse Werbe-DVD ansprechen sollte. Immerhin hatte ich sie als ganz unerträglichen Eingriff in meine Privatsphäre empfunden. Aber was sollte es jetzt noch bringen, sich darüber zu beschweren? Lieber ging ich in die Offensive und sprach ihn auf die Zahlungskonditionen von Shadow Colours an. Aus dem Kleingedruckten in den Prospekten war ich nämlich nicht ganz schlau geworden.
Er schien nur auf diese Frage gewartet zu haben. Routiniert schlüpfte er in die Rolle des mitfühlenden Helfers: „Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken! Wir sind bereit, jede Form von Zahlung zu akzeptieren, die Ihnen angenehm ist: Kreditkarten, Verrechnungsschecks, Barzahlung, Überweisung – das bleibt ganz Ihnen überlassen. Selbstverständlich ist auch Ratenzahlung möglich! Unsere Zinssätze sind ausgesprochen moderat. Viele unserer Kunden machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Besonders vertrauenswürdigen Kunden bieten wir darüber hinaus auch eine kostenneutrale Zahlungsform an, die auf dem Prinzip reziproker Leistungserbringung basiert.“
Angesichts meiner angespannten finanziellen Lage erschien mir dieses Angebot besonders interessant. „Und wie würde das genau aussehen?“ fragte ich daher nach.
Er antwortete nicht gleich, sondern verschränkte schweigend seine Arme über der Brust. Geräuschlos krabbelten die Finger seiner linken Hand über seine Brust und glitten dann durch das schüttere Barthaar. Da ich versäumt hatte, das Licht im Flur einzuschalten, konnte ich seine Mimik nicht genau erkennen. Es schien mir jedoch, als bewegten sich seine Lippen kaum merklich auseinander. Sollte das ein Lächeln sein? Oder war es nur ein reflexhaftes Grimassieren?
„Darf ich Ihre Frage dahingehend interpretieren, dass Sie an einer Schattenadhäsion interessiert sind?“ fragte er schließlich.
Ich fühlte mich von seiner Direktheit überrumpelt. „Nein … das heißt: Ich sagte Ihnen ja bereits, dass ich erst Genaueres über die Zahlungsmodalitäten wissen möchte, ehe ich mich entscheide. Also, um noch einmal auf diese ‚reziproke Leistungserbringung‘ zurückzukommen …“
Er tat, als ringe er sich zu einer schweren Entscheidung durch: „Nun gut – weil Sie es sind! Sie scheinen mir in der Tat jemand zu sein, der sich dieser – nur einem ausgewählten Kundenkreis vorbehaltenen – Zahlungsform würdig erweisen wird.“
Er trat etwas näher an mich heran und senkte seine Stimme: „Die Reziprozität dieser Zahlungsweise gründet sich von unserer Seite aus auf die Adhäsion eines Schattens der Qualitätsstufe de luxe. Im Gegenzug vermittelt uns der Kunde pro Jahr mindestens einen weiteren Kunden, der an sich eine Schattenadhäsion vornehmen lassen möchte.“
Auf mein skeptisches Stirnrunzeln hin ergänzte er: „Kunden, die mit uns in derartige Geschäftsbeziehungen eintreten, genießen bei uns natürlich auch sonst eine gewisse Vorzugsbehandlung. Unsere Kontakte reichen bis in die Spitzen der Gesellschaft – wir haben schon so manchem den Weg zu einer überaus erfolgreichen Karriere geebnet!“
Er sah mich erwartungsvoll an. Unschlüssig wich ich seinem Blick aus. Einmal mehr hatte ich das Gefühl, es mit einem Scharlatan zu tun zu haben.
English Version
Saturday, August 12
This morning, a messenger from the SIA brought me my new passport. It is blood-red, with a large black circle in the middle, slightly protruding from the surface, which immediately identifies the person concerned as shadowless at every check. Inside, instead of a photo, incomprehensible codes are engraved, and one page is even made of some kind of metal – possibly my thermal imprint.
I didn’t have to ponder for long what to do with the thing. It immediately landed in the bin, where it is now moldering away – embedded in eggshells and the tomato sauce from the jar I dropped yesterday. I think I have assigned it to the only sensible use.
Of course, I know that this was just a childish rebellion against a process that can no longer be stopped. After all, the passport only documents what the authorities have ascertained about me. Whether I keep it or not doesn’t change anything at all. At most, I will get into further trouble if I am picked up by the police without the document.
Yet it seems to me that these are fears from another time. The strange thing is: I have the impression of being free without feeling free. Everything looks different to me, although nothing has changed.
I can’t figure myself out any more – which is probably a consequence of meeting the shadow dealer again! The next time he comes, I’ll just shut the door in his face. The man really gives me the creeps.
Second Visit from the Shadow Dealer
Yesterday – it was already late afternoon – a piercing ringing at the door startled me. That could only be the shadow dealer! I was sure he would come. After all, he had already announced another visit when we parted two weeks ago.
He stood in front of me as if we had just said goodbye – in exactly the same ridiculous salesman’s suit, on which the advertising lettering gleamed at me like freshly polished. His appearance still alienated me a little, but it now seemed far less exotic to me than when we first met.
For a moment he looked me in the eye with an encouraging smile without saying anything. „I’m the man from Shadow Colours,“ he then introduced himself again, with a certain understatement. „I don’t know if you remember me … I hope I’m not inconveniencing you? I just would like to enquire if we can count on your order.“
Unlike his last visit, he did not enter of his own accord this time. „Please, do come in!“ I therefore invited him.
I closed the door behind him and suggested to sit down in the living room. Politely but firmly, he declined: „I’m sorry, I don’t have that much time today. Friday evening is a very popular meeting time for our clients. And you know: the customer is king …“
Compared to his almost pushy behaviour from his first visit, he seemed remarkably reserved to me. Was he so sure of himself? Or did he simply not want to invest any more time in customer advice?
I felt uncomfortable making such an important decision in passing, as it were. So I tried to bait him with a cup of coffee. But it was no use: He insisted on discussing the matter in the corridor.
Annoyed by his behaviour, I briefly considered asking him about the ominous promotional DVD – which I had actually no longer intended to do. In fact, I was still convinced that this had been an intolerable invasion of my privacy. But what good would it have done to complain about it now? No, it made more sense to go on the offensive and ask about Shadow Colours‘ payment terms. After all, the small print in the brochures didn’t quite make sense to me.
He seemed to have been waiting for this question. Routinely, he slipped into the role of the compassionate helper: „Don’t worry about that! We are prepared to accept any form of payment you are comfortable with: credit cards, crossed cheques, cash, bank transfer – it’s entirely up to you. Of course, payment by instalments is also possible! Our interest rates are extremely moderate. Many of our customers make use of this option. For exceptionally trustworthy customers, we also offer a cost-neutral form of payment based on the principle of reciprocal service provision.“
In view of my tight financial situation, this offer seemed particularly interesting to me. „And what would that look like exactly?“ I therefore inquired.
He didn’t answer right away, but silently folded his arms across his chest. Slowly, the fingers of his left hand crawled over his chest and then slid through his pointed chin beard. Since I had neglected to switch on the light in the corridor, I could not see his facial expressions clearly. It seemed to me, however, that his lips were twitching barely noticeably. Was that supposed to be a smile? Or was it just a reflexive grimacing?
„May I interpret your question in the sense that you are interested in shadow adaptation?“ he finally asked.
I felt caught off guard by his directness. „No … that is: I already told you that I would like to know more about the payment terms before I make a decision. So, to come back to this ‚reciprocal service provision‘ …“
He swayed his head, frowning, like someone who has to make a difficult decision. „Well then,“ he finally said, „let’s give it a try! You do indeed seem to be someone who will prove worthy of this form of payment – which is reserved only for a select number of customers!“
He stepped a little closer to me and lowered his voice: „The reciprocity of this payment method is based on our side on the adaptation of a shadow of the quality level De Luxe. In return, the customer provides us with at least one more customer per year who wants to have a shadow adaptation done on him.“
In response to my sceptical frown, he added: „Customers who enter into such business relationships with us of course also enjoy a certain preferential treatment in other respects. Our contacts reach into the highest circles of society – we have paved the way for many a successful career!“
He looked at me expectantly. Indecisively, I avoided his gaze. Once again I had the feeling that I was dealing with a charlatan.