Das Brandmal / The Brand

Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 36/ Diary of a Shadowless Man, Part 36

English Version

Donnerstag, 10. August

Eine Mail von einem Club der Dunkelmänner (immerhin ein origineller Name für einen Zusammenschluss von Schattenlosen): Ob ich ihrer Vereinigung nicht beitreten wolle?
Zentrales Anliegen des Clubs ist es, sich gegenseitig zu einem offenen Bekenntnis zur eigenen Natur zu ermutigen. Schattenlosigkeit, so heißt es in der Mail, dürfe nicht als Makel angesehen werden, sondern müsse als Chance begriffen werden, die nicht nur den Betroffenen, sondern auch der Gesellschaft im Ganzen neue Möglichkeiten eröffne. Deshalb wolle man die Rechte von Schattenlosen offensiv vertreten und sich durch gezielte Aktionen für eine Verbesserung von deren Si­tuation einsetzen. Dafür solle auch der Begriff „Schattenloser“ von seinen negativen Konnotationen befreit und im Sinne der eigenen Anliegen neu besetzt werden.
chattenlose aller Länder, vereinigt euch … Ich weiß beim besten Willen nicht, was die gesellschaftliche Entwicklung mit dem Verlust eines Schattens zu tun haben soll. Es kommt mir so vor, als wollte da jemand vor seinen eigenen, ganz persönlichen Problemen fliehen, indem er sie auf eine allgemeine Ebene verschiebt.
Klar, niemand lebt im luftleeren Raum, alles hat irgendwie auch eine soziale Bedeutung. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie eine Vereinigung von Schattenlosen aussehen soll. Eine Armee von Don Quijotes – ist so etwas überhaupt möglich? Und was soll das bringen?
Aber für mich kommt das ja nun ohnehin alles zu spät. Seit ich bei der Schattenermittlungsstelle vorgesprochen habe, werde ich das Gefühl nicht los, das Spiel verloren zu haben. Vielleicht hätte ich es ohnehin nie gewinnen können.

Das Brandmal

Es dauerte eine Weile, bis ich mich nach dem Ende der Schattenvermessung aus meiner Erstarrung lösen konnte. Mit schwankenden Schritten begab ich mich zu der Bank, auf der ich meine Kleider abgelegt hatte. Erst dort bemerkte ich, dass mein ganzer Körper schweiß­nass war. Mechanisch griff ich nach dem Handtuch, auf das mich die Assistentin hingewiesen hatte, und trocknete mich ab. Dann zog ich langsam meine Kleider an. Der Stoff reizte meine Haut, als hätte jemand sie mit Sandpapier abgerieben.
Als ich ge­rade mein Hemd fertig zugeknöpft hatte, kehrte die Assistentin aus dem Kontrollraum zurück. Offenbar hatte sie dort gewartet, bis ich vollständig angekleidet war. Sie ging quer durch den Saal, als bemerkte sie mich nicht. An der zum Bürozimmer führenden Tür hielt sie inne. „Bitte folgen Sie mir!“ forderte sie mich auf. – Was hätte ich auch sonst tun sollen?
Im Büro war mittlerweile das Licht ausgeschaltet worden. Der Raum lag in ei­nem gedämpften Tageslicht, das durch die zugezogenen Vorhänge drang. Anscheinend hatte der Beamte, der vorhin die Befragung durchgeführt hatte, nun Mittagspause. Auf seinem Schreibtisch lagen verstreut einige Unterlagen herum, dazwischen waren Stifte und einige Blätter mit Notizen zu erkennen. In der Nähe des Fensters bemerkte ich einen kleinen, fahrbaren Computerschreibtisch, an dem vorhin wohl die Assistentin das Protokoll aufgenom­men hatte. Die beiden Seitenwände waren fast vollständig von Aktenschränken bedeckt.
Hinter der Assistentin hertrottend, durchquerte ich den Raum. Sie geleitete mich in das gegenüberliegende Zimmer, wo wir schon von der Dame mit dem dunkelblauen Kostüm erwartet wurden. Sie sagte nichts, blickte aber auf­fallend genug auf ihre Uhr, um uns zu verstehen zu geben, dass wir reichlich spät kämen. Offenbar hatte auch sie schon längst in die Mittagspause gehen wollen. Ich war mir allerdings keiner Schuld bewusst. Schließlich lag es ja nicht an mir, dass sich die Schattenvermes­sung derart in die Länge gezogen hatte.
„Du kannst ihm jetzt den Wärmeabdruck abnehmen“, sagte die Assistentin zu ihrer Kollegin. „Ich mach‘ dann Mittag.“ Damit verschwand sie.
Allein mit der dunkelblauen Dame, wurde ich von dieser zu einem Gerät in der hinteren Ecke des Raumes geführt. Mit einem leicht genervt wirkenden Schwung hob sie dessen Bedeckung hoch. Ich blickte auf eine Glasplatte, unter der sich eine Art von kleiner Kamera befand.
„Legen Sie Ihre rechte Hand auf die Glasplatte und bewegen Sie sich nicht“, forderte sie mich auf. – „Sie sind doch Rechtshänder?“ fragte sie nach, während sie sich an dem Gerät zu schaffen machte.
„Ja, genau“, bestätigte ich, die Hand fest auf die Glasplatte drückend. Dieses Mal wollte ich gleich alles richtig machen, in der Hoffnung, die mir noch bevorstehende Prozedur dadurch abkürzen zu können. Sie sollte in der Tat nicht so lange dauern wie die Schattenvermessung, war deshalb aber nicht weniger unangenehm.
„Jetzt ganz stillhalten“, hörte ich noch, dann durchzuckte mich ein brennender Schmerz. Es war, als hätte jemand heißes Wasser auf meine Hand gegossen. Ich wollte sie von der Glasplatte wegziehen, doch sie war wie festgeklebt an dem heißen Glas, unter dem die Apparatur mit einem gelangweilten Brummen ihr Werk verrichtete. Wenigstens bewegte sie sich nur einmal hin und her, dann war alles vorbei.
Sobald die Hitze nachließ, zog ich meine Hand von der Glasplatte weg und umfasste sie mit meiner anderen Hand. Ich hatte kein Gefühl in ihr, andererseits war sie wie elektrisch aufgeladen. Es tat weh, sie zu berühren.
„Sie können jetzt gehen“, hörte ich die Dame im dunkelblauen Kostüm sagen. „Sie sind fer­tig für heute.“
Noch halb betäubt, schlurfte ich zur Tür, die ich gegen meine Gewohnheit mit der linken Hand öffnete. Als ich schon fast draußen war, besann ich mich und wandte mich noch einmal um: „Und was ist mit den Ergebnissen?“ fragte ich. „Bekomme ich die nicht mitgeteilt?“
Ein tadelnder Blick traf mich, der wohl ebenso dem Zeitpunkt meiner Frage – die Mittagspause hatte längst begonnen – wie ihrem Inhalt galt. „Sie erhal­ten in den nächsten Tagen Nachricht von uns!“ wurde ich zurechtgewiesen.
Ich zerkaute ein Abschiedswort zwischen den Zähnen, dann trat ich in gebeug­ter Haltung aus dem Zimmer.

English Version

Thursday, August 10

An email from a group called Disciples of Darkness – an interesting name for an association of shadowless people. They ask whether I would I like to join their association.
The central concern of the group is to encourage each other to openly confess to their own nature. Shadowlessness, the email says, should not be seen as a flaw, but rather as an opportunity that opens up new prospects not only for those affected, but also for society as a whole. For this reason, the rights of shadowless people are to be openly promoted and specific actions are to be taken to improve their situation. The term „shadowless“ should be freed from its negative connotations and redefined in a new, affirmative manner.
Shadowless of all countries, unite … I really don’t know what societal development should have to do with the loss of a shadow. It seems to me as if the members of this club wanted to flee from their own personal problems by shifting them to a general level.
Sure, no one lives in a vacuum, everything has a social meaning somehow. Yet I can’t imagine what a union of shadowless people should look like. An army of Don Quijotes – is such a thing even possible? And what would be the point of it?
But for me it all comes too late anyway. Since my survey at the Shadow Investigation Agency, I can’t shake the feeling that I’ve lost the game. Maybe I couldn’t have won it either way.

The Brand

It took a while before I could free myself from my torpor after the shadow measurement had ended. Faltering, I went to the bench where I had taken off my clothes. Only there did I notice that my whole body was wet with sweat. Mechanically, I reached for the towel lying there and dried myself. Then I slowly put on my clothes. The fabric irritated my skin as if someone had rubbed it with sandpaper.
Just as I finished buttoning up my shirt, the assistant returned from the control room. Apparently she had waited there until I was fully dressed. She walked across the hall as if she didn’t notice me. Only at the door leading to the office did she turn to me. „Please follow me!“ she urged me. Silently I obeyed – what else could I do?
In the meantime, the lights in the office had been switched off. The room was bathed in a dim daylight that filtered through the drawn curtains. Obviously, the officer who had conducted the interrogation was now on his lunch break. On his desk I saw a few files neatly placed side by side, along with a pencil box and a notebook. Near the window I noticed a small, mobile computer desk where the assistant had probably recorded my words. The two side walls were almost completely covered by filing cabinets.
Trotting behind the assistant, I crossed the office. She escorted me to the opposite room, where the lady in the dark blue costume was already waiting for us. She said nothing, but glanced conspicuously enough at her watch to let us know that we were quite late. Apparently, she had also wanted to go to lunch some time ago. However, I was not conscious of any guilt. After all, it wasn’t my fault that the shadow measurement had taken so long.
„You can take his handprint now,“ the assistant said to her colleague. „I’m going to lunch.“ With that she disappeared.
The dark blue lady led me to a device in the back corner of the room. With a slightly annoyed swing, she lifted its cover. My gaze fell on a glass plate, under which I discovered something like a small camera.
„Put your right hand on the glass plate and don’t move,“ she instructed me. Adjusting the device, she inquired: „You are right-handed, aren’t you?“
„Yes, that’s right,“ I confirmed, pressing my hand firmly on the glass plate. This time I wanted to do everything right, hoping to shorten the procedure this way. It was indeed not going to take as long as the shadow measurement, but it proved to be at least as unpleasant.
„Now hold still,“ I heard her say. A second later, a burning pain shot through my body. It was as if someone had poured hot water on my hand. I wanted to pull it away from the plate, but it was glued to the hot glass, under which the machine was doing its work with a bored hum. At least it only moved back and forth once, then it was all over.
As soon as the heat subsided, I removed my hand from the glass plate and embraced it with my other hand. I had no feeling in it, but at the same time it was like electrically charged. It hurt to touch it.
„You can go now,“ I heard the lady in the dark blue costume say. „You’re done for the day.“
Still half stunned, I shuffled to the door. Contrary to my habit, I opened it with my left hand. When I was almost outside, I recollected myself and turned around once more. „And what about the results?“ I asked. „Won’t I get to know them?“
I was met with a reproachful look that probably related as much to the timing of my question – the lunch break had long since begun – as to its content. „You will hear from us in the next few days,“ was the curt reply.
I mumbled a parting word, then stepped out of the room with a bowed posture.

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Bild: Colin Behrends: Brennende Hand (Pixabay); ID 12222786: Hand in Flammen (Pixabay)

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