Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 35 / Diary of a Shadowless Man, Part 35
Mittwoch, 9. August
Heute Nacht ein seltsamer Traum: Ich spaziere mit Lina über eine weite Ebene. Es ist Abend, wir gehen der Sonne entgegen, und plötzlich spüre ich: Etwas ist anders. Ich schaue zu Lina herüber, aber ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, das Sonnenlicht ist zu grell. Da drehe ich mich um – und sehe, dass ich wieder einen Schatten habe. Einen langen, dunklen Streifen, der fest an meinen Sohlen klebt.
Eine unendliche Erleichterung durchströmt mich: Endlich bin ich wieder in der Welt verwurzelt, endlich kann auch ich wieder eintauchen in das alles verbindende Meer der Schatten!
Im selben Augenblick aber spüre ich, wie der Schatten sich von meinem Körper löst. Er erhebt sich hinter meinem Rücken, das schräge Sonnenlicht hat ihn großgefüttert, er überragt mich um Längen. Schweigend beugt er sich über mich. Und während sein kalter Hauch wie ein körperloser Finger über meine Haut streicht, weiß ich plötzlich: Er wird mich zusammen mit Lina in einen Abgrund reißen, aus dem es für uns beide kein Entrinnen geben wird.
Das ist alles nur die Schuld dieser Schattenermittlungsstelle. Jetzt verfolgt mich ihre heimtückische Bürokratie schon in meine Träume!
Die Schattenvermessung
Als die Befragung beendet war, wandte die Stimme hinter der Verhörlampe sich an die Assistentin, die meine Aussagen protokolliert hatte.
„Frau Hampel“, ordnete die Stimme an, „Sie können nun mit der Schattenvermessung beginnen. – Und Sie, Herr C.“, wurde ich angewiesen, „tun bitte alles, was meine Kollegin Ihnen sagt. Etwas mehr Kooperation von Ihrer Seite aus scheint mir dringend geboten und würde sich auch sehr positiv auf die Bewertung Ihres Falles auswirken. Momentan gestaltet sich diese – das muss ich Ihnen ganz offen sagen – sehr ungünstig für Sie.“
Die Assistentin erhob sich von ihrem Platz neben dem Schreibtisch, ging auf mich zu und berührte mich leicht am Rücken. „Kommen Sie bitte mit“, forderte sie mich leise, aber bestimmt auf.
Ich wurde in einen Nebenraum geleitet, in dem es zu meiner Erleichterung fast ganz dunkel war. Nur in einer links von mir gelegenen Ecke leuchtete ein rotes Kontroll-Lämpchen auf. Trotz der Dunkelheit bewegte sich die Assistentin mit großer Sicherheit darauf zu. Offenbar gehörte dieser Weg für sie zu ihrer täglichen Routine. Im aus dem Bürozimmer dringenden Licht sah ich, wie sie sich einen weißen Kittel überstreifte und dann einen Lichtschalter betätigte.
An den Seiten des Raumes gingen nun mehrere Wandleuchten an, die den Raum in ein gleichmäßiges, aber immer noch angenehm gedämpftes Licht tauchten. Ich erkannte, dass ich mich in einem größeren Saal befand, der von seinen Ausmaßen her ein wenig an eine Turnhalle erinnerte.
Die Assistentin wies mich an, die Tür zum Büro zu schließen. „Ich darf Sie nun bitten, sich zu entkleiden“, schnarrte sie dann im Ton einer Stewardess, die einen Fluggast zum Anlegen der Gurte auffordert. Sie zeigte auf eine Bank, die sich an der gegenüberliegenden Wand befand: „Dort drüben können Sie Ihre Kleider ablegen. Danach stellen Sie sich bitte auf das rote Feld in der Mitte des Raumes und warten weitere Instruktionen ab.“
Ich war zu verwirrt, um Widerstand gegen ihre Anweisungen zu leisten. Außerdem brachte sie diese in einem so selbstverständlichen Ton vor, dass es mir selbst albern erschien, mich dagegen zu wehren. So begab ich mich zu der Bank und zog mich dort bis auf die Unterhose aus. Dann stellte ich mich in den roten Kreis in der Saalmitte.
„Ich muss Sie bitten, sich vollständig zu entkleiden. Eine ordnungsgemäße Durchführung der Schattenvermessung ist ansonsten nicht gewährleistet“, belehrte mich die Assistentin über Lautsprecher. Offenbar befand sich hinter dem roten Lämpchen eine Art Kontrollraum, von dem aus man die Halle einsehen konnte. „Sie können versichert sein, dass die gesamte Untersuchung streng vertraulich behandelt wird.“
Obwohl es mir im Innersten widerstrebte, leistete ich doch der Aufforderung Folge. Ich ging zu der Bank zurück, zog dort meine Unterhose aus und stellte mich – nun gänzlich unbekleidet – wieder in den rot umrandeten Kreis. Kaum hatte ich dort Position bezogen, als auch schon die Wandleuchten erloschen. Stattdessen nahm mich ein über der Kontroll-Lampe angebrachter Scheinwerfer ins Visier. Er wurde kontinuierlich heller, während er gleichzeitig von der Assistentin exakt auf mein Gesicht ausgerichtet wurde.
„Heben Sie den Kopf ins Licht“, forderte sie mich von dem Kontrollraum aus auf, als wollte sie ein Passfoto von mir machen. „Etwas höher – nein, nicht ganz so hoch – so ist’s gut – jetzt den Kopf noch etwas zur Seite – stopp! – nicht ganz so weit – jetzt bitte ganz ruhig stehen bleiben!“
Das Licht nahm nun noch einmal an Intensität zu. Zugleich hörte ich ein Surren wie bei einer Röntgenaufnahme. Der Scheinwerfer begann jetzt, mich – offenbar automatisch gesteuert – von oben bis unten abzutasten. Jede Faser meines Körpers wurde von ihm erfasst, nicht das kleinste Fältchen oder Härchen sparte er aus. Sobald er meine Brust erreicht hatte, fing er an, zusätzlich zu den vertikalen auch noch horizontale Tastbewegungen auszuführen. Quälend langsam strichen die Lichtfinger über meinen Körper.
Als der Scheinwerfer auf der Höhe meines Beckens angelangt war, vernahm ich wieder die Stimme der Assistentin: „Bitte heben Sie nun die Arme langsam nach oben. – Langsam! – Noch viel langsamer! – Fangen Sie noch einmal von vorne an. – Ja, so ist’s besser! Jetzt die Arme langsam wieder runternehmen!“
Endlich erreichte der Scheinwerfer meine Füße. Damit war die Prozedur aber keineswegs – wie ich gehofft hatte – zu Ende. Vielmehr ging nun an der linken Wand ein weiterer Scheinwerfer an, mit dem sich das Ganze noch einmal auf genau die gleiche Weise wiederholte. Anschließend wurde ich von hinten und von der rechten Seite vermessen, danach von oben und schließlich noch von unten. Dafür musste ich die Beine leicht spreizen. Direkt unterhalb meines Geschlechts ging eine Klappe auf, aus der ein Scheinwerfer zu mir heraufleuchtete.
Es ging so weit, dass mir selbst die Prozedur unvollkommen erschien. Schließlich hätte man ja auch noch die Diagonale in die Messung mit einbeziehen oder diese überhaupt kreisrund durchführen können, um auch wirklich jeden möglichen Einfallswinkel des Lichtes zu berücksichtigen. Aber vielleicht war das ja – so musste ich plötzlich unter heftigem Herzklopfen denken – späteren Messterminen vorbehalten.
Die Stimme der Assistentin riss mich aus meinen Gedanken: „So, das war’s auch schon“, verkündete sie. „Sie können sich jetzt wieder ankleiden. Neben der Bank finden Sie ein frisches Handtuch, mit dem Sie sich abtrocknen können.“
Mit diesen Worten schaltete sie die Scheinwerfer ab, und die Wandleuchten gingen wieder an. Obwohl das Licht nun viel indirekter war als zuvor, wurde ich mir erst jetzt wieder meiner Nacktheit bewusst. Ich kam mir vor wie ein Schauspieler, dem man mitten in der Vorstellung das Scheinwerferlicht abdreht, so dass er auf einmal in die erwartungsvollen Gesichter der Zuschauer blickt.
English Version
Wednesday, August 9
Tonight I had a strange dream: I was strolling with Lina across a wide plain. It is evening, we are walking towards the sun, and suddenly I feel: something is different. I look over at Lina, but I can’t make out her face, the sunlight is too bright. Then I turn around – and see that I have a shadow again: a long, dark strip that sticks firmly to my feet.
An infinite relief flows through me: at last I am rooted in the world again, at last I too can dive back into the all-connecting sea of shadows!
At the same moment, however, I feel how the shadow detaches itself from my body. It rises behind my back, the slanting sunlight has nourished it magnificently, it looms over me as a large black tower. Silently, the dark figure bends down to me. And as its cold breath strokes my skin like a disembodied finger, I suddenly know: it will pull me, along with Lina, into an abyss from which there will be no escape for either of us.
It’s all the fault of that Shadow Investigation Agency: their insidious bureaucracy is haunting my dreams!
The Shadow Measurement
When the questioning was over, the voice behind the interrogation lamp turned to the assistant who had written down my statements.
„Ms. Hampel,“ the voice ordered, „you can now start the shadow measurement. – And you, Mr C.,“ I was admonished, „please do everything my colleague tells you. A little more cooperation on your part seems absolutely necessary and would also have a positive effect on the evaluation of your case. At the moment – I have to tell you quite frankly – it doesn’t look good for you at all.“
The assistant rose from her seat, walked towards me and touched me lightly on the back. „Please come with me,“ she asked me in a quiet but firm voice.
I was led into an adjoining room where, to my relief, it was almost completely dark. Only in a corner to my left did a red control light glow. Despite the darkness, the assistant moved towards it with great certainty. Apparently, this path was part of her daily routine. In the light coming from the office, I saw her put on a white gown and then flick a light switch.
Several wall lights came on at the sides of the room, bathing it in a uniform but still pleasantly subdued light. I realised that I was in a large hall, somewhat reminiscent of a gymnasium in terms of its dimensions.
The assistant told me to close the door to the office. „I may now ask you to undress,“ she then instructed me in the tone of a stewardess asking an airline passenger to fasten the seatbelts. She pointed to a bench located on the opposite wall: „Over there you can take off your clothes. After that, please stand in the red circle in the middle of the room and wait for further instructions.“
I was too confused to resist her commands. Besides, she gave them in such a matter-of-fact tone that it seemed silly to object. So I went to the bench and stripped down to my underpants. Then I stood in the red circle in the middle of the hall.
Over the loudspeaker I heard the assistant complain: „I must ask you to undress completely. Otherwise, a proper performance of the shadow measurement cannot be guaranteed. You can be assured that the entire investigation will be kept strictly confidential.“ Apparently, behind the red light was some kind of control room from which the hall could be overlooked.
Even though I felt deeply reluctant to do so, I complied with the request. I went back to the bench, took off my pants and stood – now completely undressed – in the red circle again. I had hardly taken up my position when the wall lights went out. Instead, a spotlight mounted above the control lamp took aim at me. It became steadily brighter, while at the same time the assistant pointed it precisely at my face.
„Lift your head into the light,“ she prompted me from the control room, as if she wanted to take a passport photo of me. „A little higher – no, not quite so high – that’s good – now move your head a little to the side – stop! – not quite so far – now please stand perfectly still!“
The light increased in intensity once more. At the same time, I heard a whirring sound, as if an X-ray was being taken. The spotlight now began to palpate me – apparently automatically – from top to bottom. Every fibre of my body was scanned, not even the smallest wrinkle was spared. As soon as it reached my chest, it began to make horizontal movements in addition to the vertical ones. In an achingly slow way, the fingers of light stroked over my body.
When the spotlight reached the level of my pelvis, I heard the assistant’s voice again: „Now please raise your arms slowly upwards. – Slowly! – Much more slowly! – Start again from the beginning. – Yes, that’s better! Now slowly lower your arms again!“
Finally, the spotlight reached my feet. But this was by no means the end of the procedure, as I had hoped. On the contrary, another spotlight came on at the left wall, with which the whole process was repeated once again in exactly the same way. Then I was measured from behind and from the right side, after that from above and finally from below. For this I had to spread my legs. Directly below my genitals, a flap opened from which a spotlight shone up at me.
It went so far that I myself considered the procedure to be imperfect. After all, the diagonal could have been included in the measurement, or it could have been carried out in a circle in order to take into account every possible angle of incidence of the light. But perhaps – I suddenly had to think with a pounding heart – this was reserved for future measurement dates.
The assistant’s voice pulled me out of my thoughts: „So, that’s it,“ she announced. „You can get dressed again. Next to the bench you will find a fresh towel to dry yourself with.“
With these words, she switched off the spotlights, and the wall lights came back on. Although the light was now much more indirect than before, it was only at this point that I became aware of my nakedness again. I felt like an actor seeing the spotlight go out in the middle of a performance, so that he is suddenly looking into the expectant faces of the audience.