Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 34 /Diary of a Shadowless Man, Part 34
Dienstag/Mittwoch, 8./9. August
Schon bald Mitternacht – und es gelingt mir partout nicht, einzuschlafen! Sobald ich die Augen schließe, habe ich den Eindruck, als würde jemand einen Scheinwerfer einschalten und ihn direkt auf meine Augen richten. Oder vielmehr: als würde er ihn unter meinen Augenlidern anbringen, so dass sich das Licht unmittelbar in meine Pupillen brennt.
Aus der Brandung des Lichts formt sich dann eine durchdringende Stimme. Im Halbschlaf kommt es mir so vor, als würde sie sich materialisieren. Flackerndes Wellenhaar umgibt sie wie einen Racheengel. Und sobald sie mich erreicht, verwandelt sie sich in ein Lichtschwert, das mir glühend in die Kehle fährt.
Es hilft alles nichts: Ich muss mich dem Verhör durch den Schattenermittlungsbeamten stellen. Ich muss versuchen, die Befragung von der alptraumhaften Form zu lösen, die sie in meiner Erinnerung angenommen hat. Wenn ich das Verhör schreibend nicht bewältige, wird es mich am Ende, alle Formen sprengend, von innen heraus überwältigen.
Verhör durch den Schattenermittlungsbeamten
Nachdem ich das Schattenverlustformular abgegeben hatte, musste ich noch einmal eine gute Viertelstunde lang warten. Dann blinkte endlich die Nummer 487 auf. Als ich anklopfte, ertönte ein Summton, und ich konnte eintreten.
Das grelle Licht, das mir drinnen entgegenschlug, ließ mich unwillkürlich die Augen schließen. Die plötzliche Helligkeit stand in schmerzhaftem Gegensatz zu dem schummrigen Licht, in das der Gang vor den Büros getaucht war. Außerdem hatte ich es ja schon seit Monaten vermieden, mich einer hellen Lichtquelle auszusetzen.
„Theo C.?“ sprach mich jemand wie durch einen leuchtenden Nebel hindurch an.
„Ja, das bin ich.“ Ich blinzelte in das auf mich einflutende Licht, konnte aber niemanden erkennen.
„Bitte setzen Sie sich.“ Ich trat einen Schritt vor und sah mich in dem Raum um. Da sich meine Augen nun allmählich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnten, konnte ich einen Schreibtisch und davor einen niedrigen Stuhl erkennen. Blinzelnd tastete ich mich zu ihm hin.
„Ich darf Sie bitten, sich zunächst zu Ihrer Person zu äußern“, forderte mich eine körperlose Stimme auf.
„In welcher Weise?“ fragte ich in den Lichtnebel hinein.
„Nur allgemeine Angaben, bitte“, befahl die Stimme.
Die Aufforderung erschien mir sinnlos, da ich ja alles Wissenswerte schon dem Formular anvertraut hatte. Dennoch kam ich ihr anstandslos nach. Das grelle Licht hatte eine einschüchternde Wirkung auf mich. Außerdem verunsicherte es mich, dass ich die hinter dem Schreibtisch sitzende Person nur schemenhaft erkennen konnte.
„Sie haben hier unvollständige Angaben gemacht“, stellte die Stimme fest, nachdem ich mich „zu meiner Person“ geäußert hatte. „Ich nehme an, Sie sind sich darüber im Klaren, dass wissentlich unterschlagene Informationen sehr unangenehme Folgen für Sie haben können?“
„Ja, natürlich.“ Der Schweiß trat mir auf die Stirn – nicht nur wegen der auf mich gerichteten Verhörlampe.
Das Rascheln von Papier war zu hören. Dann folgte der nächste verbale Hieb: „Die Durchsicht der Videobänder von unseren in Lumenberg und Hadderstetten installierten Kameras hat ergeben, dass der Verlust Ihres Schattens auf die Nacht vom 18. auf den 19. November letzten Jahres zu datieren ist. Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass Sie sich daran nicht mehr erinnern können?“
„Ich … Also, all diese Ereignisse …“, stammelte ich. „Das ist alles schon so lange her …“
In schneidendem Ton konstatierte die Stimme: „Dass es schon sehr lange her ist, ist auch uns nicht entgangen. Glücklicherweise haben wir einige sehr engagierte Mitarbeiter, die uns auf Ihren Fall aufmerksam gemacht haben. Sie sind ja nun schon seit über acht Monaten schattenlos! Warum haben Sie denn den Verlust nicht gleich zur Anzeige gebracht? Einmal abgesehen von den gesellschaftlichen Folgekosten, die ein Fall wie der Ihre verursacht, muss das Ganze doch auch für Sie selbst sehr unangenehm sein.“
Hörte ich da einen Hauch von Fürsorglichkeit aus der Stimme heraus? Oder war das nur ein Köder, um mich dazu zu bringen, mich dem Arm des Gesetzes zu unterwerfen? Verunsichert stotterte ich: „Da haben Sie natürlich Recht, aber … ich wusste doch gar nichts von der Existenz Ihrer Behörde, und es hat mich auch niemand über die Pflichten aufgeklärt, die …“
Die Stimme nahm einen spöttischen Klang an: „Nicht über die Pflichten aufgeklärt? Ja, lesen Sie denn keine Zeitung? Interessieren Sie sich nicht für die Gesetze Ihres Landes? Sollen wir etwa von Haustür zu Haustür gehen und jeden Bürger einzeln über seine Rechte und Pflichten aufklären?“
Ich gab mich schuldbewusst: „Nein, natürlich nicht – ich wollte damit ja nur sagen, dass ich das Gesetz nicht absichtlich gebrochen habe.“
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Ich hörte ein Geräusch wie das Aufschlagen eines Stiftes auf eine Hand. In seiner Ungeduld kontrastierte es auffallend mit dem gleichmäßigen Klappern einer Tastatur, das aus einer für mich nicht einsehbaren Nische neben dem Schreibtisch drang. Offenbar war dort eine Sekretärin oder Assistentin damit beschäftigt, meine Aussagen zu protokollieren. Da zusätzlich ein Tonbandgerät mitlief, um meine Äußerungen bis ins letzte, nur per Verstärker wahrnehmbare Wimmern meiner Stimme hinein aufzusaugen, erschien mir dies als fast schon luxuriös übersteigerte Perfektion.
„Und über die Schattenkonstellation in Ihrer Verwandtschaft können Sie uns also auch nichts mitteilen?“ fragte die Stimme weiter.
„Nein, sonst hätte ich es ja in das Formular eingetragen“, entgegnete ich leicht gereizt.
„Sie werden verstehen, dass wir einige Zweifel an Ihrer Auskunftswilligkeit hegen. Aber Sie müssen ja selbst wissen, was Sie tun!“ Es klang wie eine Drohung.
Etwas bewegte sich hinter dem Schreibtisch. Ich hoffte, das Verhör könnte – bedingt durch meine unbefriedigenden Auskünfte – vielleicht schneller beendet sein als bei den vor mir befragten Personen. Leider war jedoch das Gegenteil der Fall.
English Version
Tuesday/Wednesday, August 8/9
Almost midnight – and I just can’t fall asleep! As soon as I close my eyes, I have the impression that someone is turning on a spotlight and pointing it directly at my eyes. Or rather, as if this someone were placing it under my eyelids so that the light burns straight into my pupils.
A piercing voice then emerges from the surf of light. Half asleep, I feel as if it is materialising. Flickering wavy hair surrounds it like an avenging angel. And as soon as it reaches me, it transforms into a lightsaber that cuts glowingly into my throat.
There is no choice: I have to confront the interrogation by the shadow investigation officer once again. I must try to detach the interrogation from the nightmarish form it has taken in my memory. If I don’t succeed in forming the interrogation by writing it down, it will end up overwhelming me from the inside, breaking all forms.
Interrogation by the Shadow Investigation Officer
After I had handed in the shadow loss form, I had to wait for another good quarter of an hour. Then finally the number 487 flashed up. When I knocked, a buzz sounded, and I could enter.
The glaring light that hit me inside made me involuntarily close my eyes. The sudden brightness was in painful contrast to the dim light that prevailed in the corridor. Besides, I had been avoiding exposure to a bright light source for months.
„Theo C.?“ someone addressed me as if through a luminous mist.
„Yes, that’s me.“ I squinted into the light flooding in on me but could not recognise anyone.
„Sit down, please.“ I took a step forward and looked around the room. With my eyes now gradually adjusting to the change in light, I could make out a desk and a low chair in front of it. Blinking, I felt my way towards it.
„May I ask you to provide identifying information first?“ a disembodied voice prompted me.
„In what way?“ I asked into the mist of light.
„Only general information, please,“ the voice commanded.
The request seemed pointless to me, since I had already entrusted everything worth knowing to the form. Nevertheless, I complied without hesitation. The bright light had an intimidating effect on me. Moreover, I was unsettled by the fact that I could only vaguely make out the person sitting behind the desk.
„You have provided incomplete information here,“ the voice stated after I had rattled off the personal details once again. „I assume you are aware that knowingly withholding information can have very unpleasant consequences for you?“
„Yes, of course.“ Sweat broke out on my forehead – and not just because of the interrogation lamp pointed at me.
The rustling of paper could be heard. Then the next verbal blow followed: „The review of the recordings from our cameras installed in Lumenberg and Hadderstetten has shown that the loss of your shadow can be dated to the night of 18 to 19 November last year. Are you seriously saying that you can’t remember that?“
„I … Well, all these events …,“ I stammered. „It’s all so long ago …“
In a cutting tone, the voice made clear: „The fact that it was a long time ago has not escaped us either. Fortunately, we have some very committed colleagues who brought your case to our attention. You have been shadowless for over eight months now! Why didn’t you report the loss straight away? Apart from the social costs that a case like yours causes, the whole thing must also be very unpleasant for you personally.“
Was there a hint of empathy in the voice? Or was the seeming compassion only meant to make me submit to the arm of the law? Uncertain, I mumbled: „You are right, of course, but … I didn’t know anything about the existence of this agency, and no one gave me any information about the duties that …“
The voice took on a mocking tone: „No one gave you information? Don’t you follow the news? Are you not interested in the laws of your country? Do you want us to go from door to door and explain the rights and duties to each citizen individually?“
„No, of course not“, I confirmed meekly, „I just wanted to point out that I didn’t break the law on purpose.“
For a moment silence reigned. I heard a sound like a pen being tapped on a hand. In its impatience, it contrasted strikingly with the steady clatter of a keyboard coming from an out-of-side alcove beside the desk. Obviously a secretary or assistant was busy there writing down my statements. Since a recording device was also running to absorb my utterances down to the last whimper of my voice, this struck me as an almost luxuriously exaggerated attentiveness.
„And about the shadow constellation in your relationship, you can’t tell us anything either?“ the voice continued to ask.
„No, otherwise I would have entered it in the form,“ I replied, slightly irritated.
„You will understand that we have some doubts about your willingness to provide information. I hope you are aware of the consequences!“ It sounded like a threat.
Something moved behind the desk. I supposed that the questioning might be finished sooner than with the persons interrogated before me. Unfortunately, the opposite was the case.