Judas, der ungeduldige Liebende / The impatient love of Judas

14. Türchen des musikalischen Adventskalenders: Claudio Chieffo: Monologo di Giuda (Der Monolog des Judas)

English Version

Judas ist für uns heute der finsterste Verräter der Menschheitsgeschichte. Was aber, wenn er Jesus in Wahrheit mehr geliebt hat als alle anderen Jünger? Wenn es ein Verrat aus gekränkter Liebe war?

Mit Judas verhält es sich nicht anders als mit dem Satan: In einem Adventskalender scheint er nichts zu suchen zu haben. Schon seine bloße Erwähnung wirkt wie ein Frevel am Allerheiligsten.
Dabei gilt für Judas ebenso wie für den Teufel: Sein Tun dient letzten Endes dem göttlichen Heilsplan. Auch hier sind Dunkelheit und Licht in einer dynamischen Wechselwirkung miteinander verbunden. Schließlich ist der Opfertod Christi und damit auch das Aufblitzen des Lichts der Erlösung undenkbar ohne den vorherigen „finsteren“ Verrat seines Jüngers.
Derartige Überlegungen spielen für uns heute freilich keine Rolle, wenn wir an Judas denken. Wir sehen in ihm lediglich das Urbild des Parias, des für immer aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen, des bis in alle Ewigkeit Verdammten. Niemand würde sich deshalb auch bei Passionsspielen mit Judas identifizieren. Jeder möchte der Erlöser sein, niemand der Verräter.
In Wahrheit entspricht die Verräternatur von Judas allerdings weit eher unserem Wesen. Wir sind weit davon entfernt, jene vollkommene Friedfertigkeit an den Tag zu legen, wie Jesus sie in der Bergpredigt entworfen hat. Eher gehören wir zu jenen, die ihren Nächsten bedenkenlos verraten, wenn ihnen dies auch nur den geringsten Vorteil einbringt.
Sich dies einzugestehen, ist wichtig, wenn wir dem Reich Gottes näherkommen wollen. Dieses Reich nämlich wird sich keineswegs eines Tages von selbst vor uns auftun. Wir müssen es vielmehr selbst errichten. Dafür aber müssen wir uns der finsteren Anteile unseres Wesens bewusst sein. Denn nur dann können wir an uns arbeiten und uns so auch in unserem alltäglichen Leben jenem Ideal von Friedfertigkeit, Mitgefühl und gelebter Solidarität annähern, für das wir uns jedes Jahr an Weihnachten ein paar Tränchen abdrücken.
Ähnliche Gedanken liegen auch dem Monologo di Giuda (Monolog des Judus) des 2007 verstorbenen italienischen Cantautore Claudio Chieffo zugrunde. In dem Lied wird Judas uns als selbstgenügsamer Mensch vorgestellt, der sich an die Ordnung hält und seinem Gott jeden Sonntag im Tempel die Ehre erweist. Erst als Jesus in sein Leben tritt, wird er aus der Bahn geworfen und hofft auf das „Reich Gottes“, das dieser ihm verheißen hat. Als dieses Reich nicht kommt, fühlt er sich von Jesus verraten. Sein Verrat beruht hier also auf dem Gefühl, selbst verraten worden zu sein. Erst als es schon zu spät ist, im Augenblick des Todes, erkennt er, dass es sich bei Jesus tatsächlich um Gottes Sohn gehandelt hat.
Die Freveltat Judas‘ beruht damit in diesem Fall auf einer Ungeduld, die an einen bekannten Aphorismus Franz Kafkas erinnert. Danach gibt es „zwei menschliche Hauptsünden, aus denen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie [die Menschen] aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.“

Nachweis Kafka-Zitat: Kafkas Zürauer Aphorismen (zitierter Aphorismus darin Nr. 3) entstanden zwischen September 1917 und April 1918 in dem böhmischen Dorf Zürau, wo der Schriftsteller nach dem Ausbruch der Tuberkulose Erho­lung suchte. Sie erschienen zuerst 1931 im Verlag Kiepenheuer unter dem von Kafkas Freund und Nachlassverwalter Max Brod gewählten Titel Betrachtungen über Sünde, Hoffnung, Leid und den wahren Weg.

Claudio Chieffo: Monologo die Giuda

Liedtext

Übersetzung

Der Monolog des Judas

Es ging mir nicht um die 30 Silberlinge,
sondern um die Hoffnung,
dass Er an jenem Tag
in mir wiederauferstanden war.

Ich lebte ein ruhiges Leben,
begnügte mich mit dem, was ich hatte
und erwies Gott regelmäßig die Ehre in seinem Tempel.
Aber eines Tages kam dieser Mann,
redete vom Frieden und von der Liebe
und sagte, dass er der Messias sei und mein Erlöser.

Es ging mir nicht um die dreißig Silberlinge …

In den ausgetrockneten Winkeln der Erde,
in den Straßen jedes Landes –
überall empfingen uns die Menschen
mit offenen Armen.

Aber dann vergingen die Tage,
sein Königreich kam nicht,
ich hatte ihm nun alles gegeben,
und er hatte mich verraten.

Es ging mir nicht um die dreißig Silberlinge …

So bekam ich ein Herz aus Stein
und einen verschlagenen, fluchtbereiten Blick.
Er hatte die Angst in mein Herz gepflanzt,
deshalb musste er sterben.

Nun hängt an einem Baum ein Körper,
der gewiss nicht mehr der meine ist.
Und jetzt erst erkenne ich
das Licht in seinen Augen:
das Licht des Gottessohnes.

Es ging mir nicht um die dreißig Silberlinge …

Mehr italienische Lieder zu der Thematik:

Canzoni di Pasqua. Österliches aus der italienischen Indie-/Cantautori-Szene, Teil I: Die Gestalt des Judas bei italienischen Cantautori.

English Version

The impatient love of Judas

14th door of the musical Advent calendar: Claudio Chieffo: Monologo di Giuda (The Monologue of Judas)

For us today, Judas is the darkest traitor in human history. But what if he actually loved Jesus more than all the other disciples? What if it was a betrayal out of wounded love?

With Judas it is no different than with Satan: he seems to have no place in an Advent calendar. The mere mention of him appears to be a sacrilege against the Holy of Holies.
However, the same applies to Judas as to the devil: his actions ultimately serve the divine plan of salvation. In this case, too, darkness and light are connected with each other in a dynamic interaction. After all, the sacrificial death of Christ and with it the dawning of the light of salvation would have been impossible without the previous „dark“ betrayal of his disciple.
Of course, such considerations do not play a role for us today when we think of Judas. We see in him the archetype of the pariah, the one who has been cast out of the community forever, the one who is damned eternally. No one would therefore identify with Judas in passion plays. Everyone wants to be the saviour, no one the traitor.
In truth, however, Judas‘ traitorous nature corresponds much more to our character. We are far from realising the perfect peaceableness that Jesus outlined in the Sermon on the Mount. Rather, we belong to those who unhesitatingly betray their neighbour if it yields the slightest advantage.
Admitting this is important if we want to come closer to the kingdom of God. After all, this kingdom will by no means arise by itself one day. It is something we have to build ourselves. But for that we have to be aware of the dark sides of our nature. Only then can we work on ourselves and come closer in our daily lives to the ideals of peaceableness, compassion and practised solidarity, for which we squeeze out a few tears every year at Christmas.
Similar thoughts can also be found in the song Monologo di Giuda (The Monologue of Judas) by the Italian cantautore (singer-songwriter) Claudio Chieffo, who died in 2007. In the song, Judas is presented to us as a self-sufficient man who observes the rules and pays homage to his God every Sunday in the temple. It is only when Jesus appears in his life that he is thrown off track and hopes for the „kingdom of God“ that the latter has promised him. When this kingdom fails to come, he feels betrayed by Jesus. His betrayal here is therefore based on the feeling of having been betrayed himself. Only when it is already too late, at the moment of death, does he realise that Jesus was indeed the Son of God.
Judas‘ sacrilege is thus based in this case on an impatience reminiscent of a well-known aphorism by Franz Kafka. According to this, there are „two main human sins from which all others derive: impatience and laxity. Because of impatience they [human beings] were expelled from paradise, because of laxity they will not return. But perhaps there is only one main sin: impatience. Because of impatience they were banished, because of impatience they do not return.“

Kafka quote from the Zürauer Aphorismen:

Kafka’s Zurau Aphorisms (quoted aphorism therein No. 3) were written between September 1917 and April 1918 in the Bohemian village of Zürau, where the writer sought recovery after the outbreak of tuberculosis. They were first published in 1931 by the publisher Kiepenheuer under the title Betrachtungen über Sünde, Hoffnung, Leid und den wahren Weg (Reflections on Sin, Hope, Suffering and the True Path), chosen by Max Brod, Kafka’s friend and administer of his estate.

Claudio Chieffo: Monologo die Giuda

Song (1971)

Lyrics

Translation

The Monologue of Judas

I didn’t care about the 30 pieces of silver.
It was all about the hope
that on that day
he was resurrected in me.

I lived a quiet life,
contenting myself with what I had,
and paid regular homage to God in His temple.
But one day this man came,
talking about peace and love,
and said that he was the Messiah and my Saviour.

I didn’t care about the 30 pieces of silver …

In the parched corners of the earth,
in the streets of every country –
everywhere people welcomed us
with open arms.

But then the days passed,
and his kingdom did not come.
I had given him everything,
and he had betrayed me.

I didn’t care about the 30 pieces of silver …

So I ended up with a heart of stone
and a devious look, always ready to flee.
He had planted the fear in my heart,
so he had to die.

Now from a tree a body is hanging
that surely is no longer mine.
And only now do I see
the light in his eyes:
the light of the Son of God.

I didn’t care about the 30 pieces of silver …

Bilder / Pictures: José Ferraz de Almeida Júnior: Remorso de Judas (Die Gewissensbisse des Judas / The Remorse of Judas), 1880; Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro; Nikolai Ge: Judas (um 1880) Quelle: Wikimedia

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