Kopfreise nach Nordkarelien, 6. und letzter Teil
In der Nacht verfange ich mich auf meinem fliegenden Teppich im Dickicht eines Alptraums: Ich möchte mich in den See hinabgleiten lassen, den ich noch immer unter mir vermute, lande jedoch nicht im Wasser, sondern im Wipfel einer alten Eiche. Mühsam taste ich mich an dem hohen Stamm herab. Unten, auf dem Waldboden, ist es stockfinster. Man sieht kaum die Hand vor den Augen. Nur hier und da zittern die dürren, bleichen Finger des Mondes zwischen den Zweigen.
Ich stolpere ein paar Schritte voran, gebe dann aber rasch auf: In der Dunkelheit würde ich mir nur blaue Flecken holen und wahrscheinlich die ganze Nacht im Kreis herumirren.
Ich habe mich gerade in die Nische eines hohlen Baumes gekauert, da höre ich von hinten ein Knacksen, wie wenn jemand auf ein Stück morsches Holz tritt. Wahrscheinlich irgendein Tier, das im Unterholz nach Nahrung sucht, sage ich mir. Dann aber meine ich Stimmen zu hören – flüsternde, raunende Stimmen. „Komm, wir holen ihn uns“, höre ich jemanden sagen.
Darauf ein kauziges Rufen: „Komm doch zu uns, Fremder! Wir hätten noch ein Plätzchen frei an unsrem Lagerfeuer. Komm doch, komm! Es gibt frisch gegrilltes Fleisch, hier aus dem Wald …“
Das Blut gefriert mir in den Adern. Ich möchte weglaufen, aber da windet der Baum, an den ich mich angelehnt habe, plötzlich seine Arme um mich, seine alten, stachligen Zweige bohren sich in meine Haut, ein heiserer Schrei entringt sich meiner Kehle … Keuchend schrecke ich aus dem Schlaf hoch.
Später gestand mir der Teppichgeist, dass er nach Estland weitergeschwebt war. Die Winde wären gerade so günstig gewesen, und ich hätte ihn ja auch nicht in der Luft verankert. Weil er dann aber doch ein schlechtes Gewissen gehabt habe, hätte er mir ein paar musikalische Schmankerl aus der Region serviert – er wisse ja, dass man mir damit eine Freude machen könne. Und eines dieser Lieder habe sich dann wohl in meine Träume verirrt …
So ist er halt, mein Teppichgeist: immer etwas sprunghaft … Aber man kann ihm nicht böse sein, schließlich entdecke ich so ja auch immer wieder etwas Neues. Also habe ich mir einfach das Lied noch einmal in Ruhe angehört, das mich in meine Träume verfolgt hat: Das Waldbruderspiel von Mari Kalkun.
Waldbrüder … Nannte man so nicht die Widerstandskämpfer, die sich gegen die sowjetischen Besatzer gewandt und sich vor diesen in den dichten Wäldern versteckt hatten? Hatten mich im Traum also die Geister dieser Verfemten heimgesucht, Untote, die mit mir, der ich an dem Ort ihrer Entbehrungen Erholung suchte, ihren Schabernack trieben?
Der Wald, der mir eben noch wie ein Palast aus grünem Bernstein erschienen war, wandelte sich für mich auf einmal zu einem verfallenen Spukschloss, in dem durch jede Ritze das unheilvolle Pfeifen und dunkle Rufen der Gespenster drang. Eilig gab ich meinem Teppich den Befehl zum Aufbruch. In welches unbekannte Land er mich wohl entführen wird?
Mari Kalkun: Mõtsavele mäng;
aus: Ilmamõtsan („Im Wald der Welt“, 2017)
Album mit Song (Nr. 4) auf bandcamp.com
Website der Sängerin mit Infos und Texten mit engl. Übers. (Mõtsavele mäng: Text Nr. 4)
Weitere Infos auf global-music.de
Übertragung ins Deutsche:
Das Waldbruderspiel
Ich bin durch den Wald gegangen,
sii-saale-soo-saale-seira!
Durch den Wald habe ich mir meinen Weg gebahnt,
durch den Morast, durch den Sumpf.
Und wen habe ich auf meinem Weg getroffen?
Ich habe fünf Brüder auf meinem Weg getroffen.
Männer so stark wie Ochsen,
Frauen mit schneidenden Stimmen
saßen um ein Feuer.
Dort aßen sie ihr Rehfleisch,
sie tranken Moossuppe,
sie kochten sich Moorwasser,
sie schliefen in Moosbetten.
Sii-saale-soo-saale,
sii-saale-soo-saale …
Der Wald ernährt sie,
der Wald beschützt sie,
die Flügel des Waldes bedecken sie.
[Sie leben] im Wald wie Tiere,
wie die kleinen Vögel des Himmels.
„Komm heraus, Bruder,
ich werde dich bestimmt nicht fangen!“
„Nein, heute kann ich nicht kommen …“
Waldbrüder: Zu den baltischen Widerstandskämpfern gegen die sowjetische Besatzung vgl. den Beitrag von Ruth Leiserowitz auf alles-über-litauen.de: Waldbrüder – Kampf um Litauen. Danach lebten „die Waldleute (…) in kleinen unterirdischen Bunkern, die meistens nur einen Ausgang hatten. Wurden sie dort aufgespürt, blieb ihnen praktisch keine Verteidigungsmöglichkeit. Bunker gab es in Wäldern, auf Höfen und auch an den Dorfperipherien. Mit der Zeit mangelte es, auch bedingt durch die Erhöhung des Abgabensolls und die Kollektivierung, an Lebensmitteln.“
Der folgende Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen eines Widerstandskämpfers (Lionginas Baliukevičius, Deckname Dzukas) zeigt, dass der Wald sich zwar als Rückzugsort anbot, zugleich aber auch die Gefahr des Überwältigtwerdens durch den Feind erhöhte: „In einem großen Wald kriegt man schwer mit, dass Gefahr droht, und wenn sie kommt, dann so unerwartet, dass sie große Verluste bewirkt. Am wichtigsten ist, dass große Wälder die Wachsamkeit vermindern, ist man doch in waldlosen Gebieten an Gefahren gewöhnt, lebt mit ihnen und ist auf diverses Unglück vorbereitet“ (zit. nach ebd.).
Tipp: Mehr über Musik aus Estland: Estland: Von der Lust am Experimentieren
Bilder: Pixabay: Titelbild: Henry Murumaa. Halbinsel Paripea, Estland; 1. Lukas Bieri: Mond hinter Zweigen; 2. Simon Wijers: Hände; 3. Tim Striker: Baum