Die Dichtung konstituiert bei Mallarmé eine eigene Welt. Sie ist hermetisch in dem Sinne, dass sie sich jeder Berührung mit dem flüchtigen Alltagsleben verweigert. Dies gilt für das künstlerische Werk, das sich einer raschen „Konsumierbarkeit“ entzieht, ebenso wie für den Dichter, dessen Wirken sich abseits des Tagesgeschehens vollzieht. Seine Aufgabe ist es nicht, auf unmittelbare Veränderungen hinzuwirken. Vielmehr hat er mit seinem Werk dazu beizutragen, dass die Dinge neu und anders gesehen und dadurch überhaupt erst in ihrer etwaigen Veränderungsbedürftigkeit erkennbar werden.
Um diesem Ziel gerecht zu werden, darf die dichterische Sprache nicht mimetisch sein. Anstatt die Gegenstände des Alltags unmittelbar abzubilden, werden sie sprachlich verwandelt, um der Erfahrung unabhängig von den alltäglichen Deutungs- und Verweisungszusammenhängen zugänglich zu werden.
Mallarmé operiert dabei jenseits der Ebene der rationalen Wahrnehmung. Sein Ziel ist es, durch eine andeutend-beschwörende Wortwahl innere Seelenzustände so unmittelbar abzubilden und wachzurufen, wie es sonst nur in der Musik möglich ist. Die „träumerische“ Qualität eines Gedichts ergibt sich für Mallarmé somit, wie er selbst einmal ausgeführt hat, gerade daraus, dass der „Gegenstand“, um den die Verse kreisen, „in der Schwebe“ gelassen wird. Eben dadurch werde er zu einem „Symbol“, das auf einen bestimmten „Seelenzustand“ verweise.
Der hierin zum Ausdruck kommende symbolistische Kern von Mallarmés Dichtungsverständnis lässt sich beispielhaft an seinem Gedicht Le sonneur („Der Glöckner“) veranschaulichen. Der Glöckner steht hier für den Künstler, der mit seiner Kunst zwar das „Ideal“ eines vollkommenen Lebens und einer vollkommenen Kunst beschwören, dessen Erfüllung aber selbst nie erfahren kann. Die „reine“ Luft des Morgens bleibt außerhalb der Kirchenmauern, unerreichbar für ihn. Er, der anderen den Weg zum Himmel weist, fühlt deshalb in seinem Innern einen satanischen Ennui aufsteigen, der seine Seele bis hin zu Selbstmordgedanken verdüstert.
Das Gedicht evoziert damit den Seelenzustand eines Menschen, der zwischen dem Streben nach dem Ideal eines vollkommenen, mit sich selbst versöhnten Daseins und dem Bewusstsein von der Unmöglichkeit, dieses Ideal zu erreichen, hin- und hergerissen ist.
Mit diesem Beitrag endet die kleine Mallarmé-Reihe auf LiteraturPlanet. Ein längeres Essay zu Mallarmé mit weiteren Nachdichtungen folgt am 18. März, dem Geburtstag Mallarmés, auf rotherbaron.com.
Mallarmé-Zitate entnommen aus: Huret, Jules: Enquête sur l’évolution littéraire, S. 55 – 65. [Gespräch mit Mallarmé]. Paris 1891: Bibliothèque-Charpentier.
Originaltext
Der Glöckner
Derweil die Glocke ihre klare Stimme schwingt
in die reine, taugesättigte Luft des Morgens
und eine junge Mäherin, ihr zu Gefallen, singt
ein Angelus, das nach Lavendel und nach Thymian duftet,
vernimmt im fahlen Kerzenflackern
nur einen dumpfen Widerhall der Glöckner.
Lateinische Litaneien murmelnd, greift er
über den Stein, der das uralte Glockenseil spannt.
Dieser Mann bin ich. So viel ich auch in dunkler Nacht
das glockenhelle Ideal erklingen lasse –
dem finst’ren Herzen bleibt das Finstere doch treu,
die Glockenstimme klingt gebrochen ihm und hohl.
Doch eines Tages, müde vom vergeblichen Geläute,
wird das Seil, o Satan, schwerelos zu dir mich tragen.
(Le sonneur; Erstveröffentlichung 1862; für die Nachdichtung wurde auch eine frühere handschriftliche Fassung berücksichtigt)
Ausführliches Essay zur Poesie Mallarmés: Ausfstand gegen das Leben. Stéphane Mallarmés hermetischer Symbolismus