Der ewige Morgen der Eiskönigin
Gestern eine Mail von Udo Utopius: „Sag mal, Rother – Du denkst doch daran, dass morgen das russische Weihnachten ist? Da wirst Du doch hoffentlich was Russisches auswählen! Du darfst auch Dein Lieblingslied spielen …“
Hmm … Mein Lieblingslied … Das ist gar nicht so einfach. Welche Songs man wann hört, ist ja stark von den jeweiligen Situationen und Stimmungslagen abhängig. Mal wird dieser Song zum Lieblingslied, mal ein anderer. Die Favoriten wechseln, es gibt keinen unangefochtenen Spitzenreiter.
Also, lieber Udo, machen wir es doch einfach so: Ich suche etwas aus, das gut zu Weihnachten und vielleicht auch zu Dir passt. Und da fällt mir in der Tat ein ganz bestimmter Song ein: Utro Poliny („Polinas Morgen“) von Vjatscheslav Butussov und seiner Band Nautilus Pompilius.
Butussov wurde 1961 im sibirischen Krasnojarsk geboren. Noch während seines Architekturstudiums in Sverdlovsk (dem heutigen Jekaterinburg) gründete er 1982 zusammen mit einem Freund die Band Nautilus Pompilius. Nach dem Ende der Band startete er 1997 eine Solokarriere. Butussow hat zu diversen Filmen die Soundtracks geliefert und ist auch als Schriftsteller in Erscheinung getreten.
Utro Poliny kreist um das Leben einer Art Eiskönigin, in deren Kristallpalast die Sonne nie untergeht. Dies deutet bereits der Name „Polina“ an, bei dem es sich um eine Kurzform von „Apollinaria“, der weiblichen Form des Sonnengottes „Apollinaris“ (Apollon), handelt. Gleichzeitig verweist der Songtitel aber auch auf den Kern des Utopischen: den Morgen, der sich nie zum Tag häutet. Denn es gehört zum Wesen der Utopie, dass sie nie Wirklichkeit werden kann. Wo das „Nirgendwo“ des Utopischen Wurzeln schlägt, verzweigt es sich notwendigerweise mit der Realität und verliert eben dadurch seinen Charakter.
In dem Lied findet sich denn auch eine der schönsten Umschreibungen für das Wesen des Utopischen:
„Ich liebe dich dafür,
dass deine Erwartung auf das wartet,
was niemals geschehen kann.“
Nautilus Pompilius: Utro Poliny
aus: Titanik (1994)
Liedtext
Übersetzung:
Polinas Morgen
Polinas Hände sind wie ein vergessenes Lied unter harten Stacheln.
Träge Klänge kreisen wie Staubkörnchen über ihrem Kopf.
Schläfrige Augen warten auf den, der eintritt und das Licht in ihnen anzündet.
Polinas Morgen dauert 100 Milliarden Jahre.
Und in all diesen Jahren höre ich, wie ihre Brust sich hebt und senkt,
und von ihrem Atem beschlagen die Fenster.
Und ich bedaure es nicht, dass mein Weg so endlos ist.
In ihrem kristallenen Schlafzimmer ist es immer, immer hell.
Es gibt Menschen, die abwarten, und andere, die an ihrer Ungeduld zugrunde gehen.
Aber die einen sind ebenso langweilige Weggefährten wie die anderen.
Ich liebe dich dafür, dass deine Erwartung auf das wartet,
was niemals geschehen kann.
Polinas Finger sind wie Kerzen in nächtlichen Kandelabern.
Polinas Tränen haben sich in einen Bach verwandelt, der nie versiegt.
An der Schwelle zu Polinas Zimmer verharrt unschlüssig die Dämmerung.
Polinas Morgen dauert 100 Milliarden Jahre.
Und in all diesen Jahren …
Mehr russische Winterlieder: Der Winter als Hafen der Utopie – russische Winterphantasien. Vierter Teil der musikalischen Winterreise.
Bilder: Christian Birmingham: Illustration aus dem Buch „Hans Christian Andersen: The Snow Queen“, 2008 ; Liefdefjord, Svalbard: A look inside an iceberg (Wikimedia)
amanita
Sehr schöner Song! Du sag mal, singt der hier eigentlich russisch? Er klingt so. https://youtu.be/SJJ60pza6HU
LikeLike
rotherbaron
Nein, das ist kein Russisch. Reza Yazdani singt Persisch. Das klingt auch sehr schön.
LikeLike
amanita
Oh, ich habe gedacht, es ist Russisch😊Aber ich halte viel von seiner Musik.
LikeLike
rotherbaron
Nun hast du mich neugierig gemacht und siehe da: Hier ein Post, den du angeregt hast: https://literaturplanetonline.com/2020/01/09/der-persische-singer-songwriter-reza-yazdani/
LikeLike