Der Krieg als Teil des Alltags
Die 1998 gegründete spanische Band Vetusta Morla – der Name leitet sich von der Figur der uralten („vetusta“) Schildkröte in Michael Endes Unendlicher Geschichte her – versteht den „Krieg“ in einem weiteren Sinne. Dies unterscheidet den hier vorgestellten Song von klassischen Antikriegsliedern (vgl. auf diesem Blog etwa die Lieder von Bulat Okudschawa oderLéon Gieco).
Die Soldaten, die in dem Song ¡Alto! („Halt!“) unvermittelt auftauchen, lassen sich natürlich vordergründig als Söldner deuten, die in „geliehene[n] Uniformen“, also im Auftrag anderer, ihrem Kriegshandwerk nachgehen. Daneben kann ihr Tun jedoch auch metaphorisch verstanden werden. Denn ihre Aufgabe besteht keineswegs nur darin, Land zu erobern oder einen nicht näher bestimmten Gegner zurückzudrängen. Vielmehr sollen sie vor allem ‚Verwirrung stiften‘ und „jedem Ausdruck seine Bedeutung (…) entreißen“.
Die mysteriösen (weil nicht näher beschriebenen) Soldaten stehen damit hier nicht nur für reale Zerstörung, sondern erscheinen als Metapher für die ‚Vergiftung‘ der sozialen Beziehungen, die in einer ebensolchen ‚Vergiftung‘ der Worte resultiert. Die fehlenden Verständigungsmöglichkeiten führen wiederum zu einer umfassenden Entzweiung, zu einer sozialen „Unbehaustheit“, die der Song durch das von den Soldaten niedergebrannte „Dach“ des gemeinsamen Hauses andeutet. Dieser Zustand hat sich dabei schon so weit verfestigt, dass man, wie es in dem Song heißt, schon an ein „Wunder“ glauben muss, um auf seine Überwindung zu hoffen.
Auch die konkreten Zerstörungen, welche die Soldaten anrichten, können vor diesem Hintergrund in einem allgemeineren, nicht unmittelbar auf kriegerischen Aktivitäten beruhenden Sinn verstanden werden. Zu denken wäre dabei etwa an den von der Gier nach Energie und Rohstoffen angetriebenen „Krieg“ gegen die Natur, der die Lebensqualität anderer Menschen beeinträchtigt und sie im Extremfall sogar ihrer Lebensgrundlagen beraubt.
Dem entsprechen auch diverse Interviewäußerungen der Bandmitglieder. So äußert sich etwa Jorge González Giralda in einem Interview empört über das Ausmaß und die unverschämte Selbstverständlichkeit, mit der „ökonomische (…) Interessen über die Notwendigkeiten des Zusammenlebens und die einzelnen Personen gestellt werden“. Anstatt dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen, würden bestimmte Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Medien nur dafür genutzt, „persönliche Rendite zu erzielen“.
Trotz dieser düsteren Diagnose ist der Song nicht ohne Hoffnung. So wird darin ausdrücklich dem „Glauben“ Ausdruck verliehen, „dass dir ein Wunder widerfahren wird“. Und genau darauf hoffen doch alle Friedensbewegten dieser Welt!
Zitat entnommen aus: Vetusta Morla: „La Deriva abre una linea más potente y directa.“; Interview von Javier Decimavilla mit Vetusta Morla. In: B-Side Magazine vom 16. April 2014.
Vetusta Morla: ¡Alto!
(aus: La deriva, 2014)
Übersetzung:
Halt!
Halt!
Ich habe Hunderte von Soldaten
kommen sehen.
Sie tragen geliehene Uniformen,
sie stiften Verwirrung;
sie haben einen Auftrag.
Viele sind hierher gekommen,
seit zu vielen Jahren schon.
Sie sind entschlossen,
jedem Ausdruck
seine Bedeutung zu entreißen.
Jetzt sieh dich vor!
Die Lust, zurückzukehren, wird dich überallhin begleiten.
Das „nächste Mal“ dauert schon zu lange.
Ich aber bewahre mir den Glauben daran,
dass dir ein Wunder widerfahren wird.
Nichts wie weg!
Sie werden all diese Felder
niederbrennen.
Alle Worte dieses Ortes
sind vergiftet.
Wer hat mich von eurer Seite vertrieben?
Das Land, das ich bepflanzt habe, hat sich in Schlamm verwandelt.
Man riecht das Metall in der vergifteten Luft.
Ich aber bewahre mir den Glauben daran,
dass dir ein Wunder widerfahren wird.
Wer hat unser Dach niedergebrannt?
Der künstliche Regen hört nicht auf, uns zu vergiften.
Man riecht das Metall in der vergifteten Luft.
Ich aber bewahre mir den Glauben daran,
dass dir ein Wunder widerfahren wird.
Bild: Vasily Vereshchagin (1842–1904), Ruheort der Gefangenen (1878)
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