Die Liebe, der Krieg und der Verrat
Bulat Okudshawa (1924 – 1997) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der russischen Gitarrenlyrik. Wie er selbst erläutert, wurde die Gitarrenlyrik in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts „in den Moskauer Küchen geboren“, wo sie „in einem engen Kreis Gleichgesinnter“ vorgetragen worden sei. Mit ihrem „Anspruch, (…) selbständig zu denken und offen ihre Ablehnung der orthodoxen Ideologie zum Ausdruck zu bringen“, habe die Gitarrenlyrik eine „Sprengladung aus Zivilcourage“ entfaltet. Aus diesem Grund sei sie „von der Macht verfolgt, aber von den Verfolgten verehrt“ worden (Okudshawa 1992, S. 7).
Das hier wiedergegebene Gedicht Okudshawas beruht auf einer Gegenüberstellung von Liebes- und Kriegsrausch: Wie man sich Hals über Kopf in die erste Liebe stürzt, so mag man auch den Krieg zunächst aus einem pubertär-leidenschaftlichen Heldenmut heraus bejahen. In diesem Sinne ‚passiert‘ der „erste Krieg“ wie die „erste Liebe“ einfach, ohne dass jemand dafür schuldig zu sprechen wäre.
Dauert der Krieg aber an, mündet die erste Kriegshandlung in weitere und lässt den Krieg zum Dauerzustand werden, so lässt sich dies nicht mehr wie eine kurze Aufwallung der Gefühle in einem Streit unter Freunden abtun. Da der Krieg dann gezielt geschürt werden muss, lassen sich auch konkrete Schuldige für ihn benennen. Geschieht dies nicht und dauert der Krieg nichtsdestotrotz weiter an bzw. zementiert sich als kriegerische Haltung des Staates, so ist es die Schuld jedes Einzelnen, wenn er sich dem nicht entgegenstellt.
Diese Überlegungen münden unmittelbar in die dritte Strophe, in der es um den „Betrug“ („obman“) geht – wobei dies hier wohl eher im Sinne eines Selbstbetrugs, der in Verrat an einem selbst und den eigenen Idealen mündet, zu verstehen ist. Auch hier lassen sich wieder Parallelen zur Liebe ziehen: Eine Liebe, die sich ihrer selbst nicht bewusst wird und damit auch nicht den konkreten Anderen meint, an dem sie sich entzündet, wird zur Selbstliebe und damit zum Selbstbetrug bzw. zum Verrat an sich und anderen.
Gleiches gilt für eine Auseinandersetzung mit dem Krieg, die auf einer emotional-pubertären Ebene verharrt und sich die langfristigen Folgen der Gewaltspirale nicht bewusst macht. Auch dies erscheint als Verrat am Selbst bzw. am Ideal der Menschlichkeit. Dabei mag dieser Selbstbetrug anfangs noch einer kleinen, entschuldbaren Schwäche, einem rauschhaften Zustand und dem daraus folgenden „betrunkene[n] Taumeln“ geschuldet sein. Als Dauerzustand ist er jedoch „schrecklicher als der Krieg“, da er dessen Herrschaft erst ermöglicht.
Liedtext (mit englischer/deutscher/türkischer Übersetzung)
Übersetzung:
Und die erste Liebe …
Und die erste Liebe – die verbrennt das Herz,
und die zweite Liebe – die schmiegt sich an die erste an,
nun, und die dritte Liebe – der Schlüssel zittert im Schloss,
der Schlüssel zittert im Schloss, der Koffer ist in der Hand.
Und der erste Krieg – der ist niemandes Schuld,
und der zweite Krieg – der ist irgendjemandes Schuld,
und der dritte Krieg – der ist ganz allein meine Schuld,
und meine Schuld – die ist für alle sichtbar.
Und der erste Verrat – Nebel in der Dämmerung,
und der zweite Verrat – betrunkenes Taumeln,
und der dritte Verrat – der ist finsterer als die Nacht,
der ist finsterer als die Nacht, der ist schrecklicher als der Krieg.
Nachweise:
Okudshawa-Zitat entnommen aus:
Okudshawa, Bulat: Geleitwort. In: Lebedewa, Katja: Komm Gitarre, mach mich frei! Russische Gitarrenlyrik in der Opposition, S. 7 f. Berlin 1992: edition q.
Bild: Bulat Okudshava mit Zuhörern, 1976 (im Hintergrund Wladimir Wyssotskij)
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