Ostern mit Baustelle

Ostern mit Baustelle – das klingt nicht sehr einladend. Allerdings geht es hier nicht um Baustellenlärm, sondern um die italienische Band Baustelle, die das deutsche Wort als Name für ihr Projekt gewählt hat, weil sie damit „beau“ (frz. ’schön‘) und „stelle“ (ital. ‚Sterne‘) assoziiert sowie sich wohl auch an den französischen Dichter Charles Baudelaire erinnert gefühlt hat [1].

Die Bewunderung für Baudelaire bietet einen Anknüpfungspunkt an die Baudelaire-Nachdichtungen, die kürzlich auf literaturplanet erschienen sind. Die Band selbst hat auch ein Lied nach dem Dichter benannt. Dieses zitiert u.a. aus Baudelaires Gedicht La mort des amants (‚Der Tod der Liebenden‘; vgl. vorigen Beitrag auf dieser Seite), kreist ansonsten allerdings eher allgemein um Sinn und Bedeutung des Opfertodes. Eben deshalb scheint mir der Song auch ganz gut zu Ostern zu passen.

Das Lied unterscheidet anhand verschiedener Persönlichkeiten der Kulturgeschichte (vgl. die Kurzinformationen in den Anmerkungen zu dem Lied) zwischen zwei Arten von Opfertod. Im einen Fall gehen Menschen freiwillig in den Tod, weil sie der Überzeugung sind, nicht so leben zu können, wie es ihren Idealen entspricht. Dies gilt etwa für die griechische Dichterin Sappho und für Sokrates, aber auch für den italienischen Cantautore Luigi Tenco, der sich aus Protest gegen die Verflachung der Musikkultur das Leben genommen hat. Im anderen Fall leben Menschen so intensiv für ihre Ideale, dass sie sich dadurch – wie Baudelaire oder der Cantautore Piero Ciampi – selbst verzehren und früh sterben oder auf den Widerstand anderer stoßen und getötet werden. Letzteres gilt für Pier Paolo Pasolini ebenso wie für die biblischen Gestalten (Christus und Petrus), die am Anfang des Liedes erwähnt werden.

Beide Gruppen – die Selbstmörder und die Selbstverzehrer – treffen sich darin, dass sie zwar ihr physisches Leben früh verlieren, gleichzeitig aber gerade dadurch, dass sie ihr Leben bewusst aufs Spiel gesetzt haben, der Nachwelt etwas Bleibendes hinterlassen haben. Dies können künstlerische Werke oder, wie im Falle von Sokrates, neue geistige Paradigmen und Denkweisen sein. Daneben kann sich das Bleibende aber auch schlicht auf das Beispiel des gelebten Lebens beziehen, das die Betreffenden durch ihr Tun zu einem eigenen Kunstwerk geformt haben.

Das klassische Resultat des Opfertodes, das im Kern in der Aufopferung für andere besteht, ergibt sich damit hier nur als eine Art Nebenprodukt. Es entsteht dadurch, dass andere aus dem Opfer der zitierten Personen Nutzen ziehen können. Primär besteht dieses aber in der Selbstaufopferung für die eigenen Ideale, seien sie künstlerischer, philosophischer oder religiöser Art.

Die Bereitschaft, für die eigenen Ideale notfalls auch zu sterben, gibt dem gelebten Leben eine einheitliche Gestalt und damit einen Sinn, der die physische Existenz überdauert. Vor diesem Hintergrund wirft der 2010 veröffentlichte Videoclip zu dem Song die Frage auf, worin heute Ideale bestehen können, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt. So wird das Video mit dem Satz eingeleitet: „La domanda è, secondo te, a che cosa serve vivere.“ („Die Frage ist, wozu deiner Meinung nach das Leben dient“).

Der Clip ist zugleich eine Reverenz an Pasolinis Dokumentarfilm Comizi d’amore aus dem Jahr 1964, der in Deutschland unter dem Titel Das Gastmahl der Liebe oder Umfrage über Liebe erschienen ist. Für den Film war Pasolini quer durch Italien gereist und hatte Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft über ihre Auffassung von Liebe und ihre sexuellen Präferenzen befragt.

Als Drehort für das Video zu dem Song Baudelaire wurde ganz bewusst Sizilien gewählt, weil –  wie der Kopf der Band, Francesco Bianconi, erklärt – dort das Leben sowohl in sozialer Hinsicht (durch die Mafia) als auch durch Naturgewalten wie den Ätna in besonderer Weise bedroht ist [2]. Die Frage, wie und wodurch man die Gefahr eines fremdbestimmten Lebens und Sterbens überwinden und zu einer von eigenen Idealen geleiteten Existenz gelangen kann, ist vor diesem Hintergrund besonders drängend. Der in dem Lied, unter Anspielung auf Baudelaire, angesprochene Mut, den man brauche, um sich dem „Garten des Lebens“ mit seinen „Blumen des Bösen“ zuzuwenden, erhält so eine komplexe, mehrdimensionale Bedeutung.

In einem weiteren Lied – La morte (non esiste più): ‚Der Tod (existiert nicht mehr)‘ – greift die Band auch die Wiedergeburtssymbolik auf. Deutlich wird dies vor allem in dem Video zu dem Song – das man sich deshalb auf jeden Fall bis zur  Schluss-Sequenz anschauen sollte.

Zwar bezeichnet Bianconi sich als „nicht gläubig“ [3] und sieht in dem Text lediglich das Porträt eines alten Liebespaares. Es handle sich, wie der Sänger in einem Interview ausführt, um ein „Liebeslied, das auf der Perspektive zweier Personen beruht, die einander schon seit langer Zeit, seit vielen Jahren lieben“ [4]. Dabei finde einer der Liebenden in einer Art Mantra Trost vor dem näher rückenden Tod. Dieses beruht auf dem Glauben an die Überwindung des Todes durch die Liebe. Dass es dabei allerdings die Kraft der das physische Ende überdauernden Liebe ist, durch die der Tod seine Macht verliert, passt dann doch wieder ganz gut zu Ostern.

Nachweise:

[1]  nomix.it: i nomi delle rock band.

[2] musicattitude.it: Interview von Valentina Lonati mit Francesco Bianconi vom 17. Juni 2008.

[3] rockit.it: Baustelle – Duri a morire. Interview vom 28. Januar 2013; Interviewer: Marco Villa und Sandro Girello; die einschlägigen Zitate finden sich auch neben dem Liedtext auf genius.com.

 [4] Interviewäußerung von Bianconi auf Esclusiva.XL, transkribiert auf genius.com.

Baustelle: Baudelaire

aus: Amen, 2008

Liedtext

Übersetzung:

Baudelaire

Satan schmort in der Hölle für dich,
und er ist dir voraus,
wir werden Kissen haben, die so tief wie Gräber sind,
wie Baudelaire sagt,
Baudelaire, Baudelaire.

Christus ist am Kreuz für mich gestorben,
Petrus brennt am Kreuz für dich,
heilig ist die Schönheit,
ebenso wie die Angst,
mach es wie Baudelaire,
Baudelaire, Baudelaire.

Pasolini ist für dich gestorben,
erschlagen worden für dich,
im selben Moment,
in dem man sich an irgendeinem anderen Strand
geliebt hat,
vereint gegen die Welt.

Du musst glauben,
du musst schreiben,
dich dem Unbekannten entgegenstrecken,
erinnere dich an Baudelaire,
Baudelaire, Baudelaire.

Caravaggio ist für dich gestorben,
Luigi Tenco ist für dich gestorben,
zwischen den Wildblumen
lebt Piero Campi,
man muss Baudelaire studieren,
Baudelaire, Baudelaire.

Sappho hat sich für uns getötet,
Sokrates hat für uns Selbstmord begangen.
Um für immer zu leben,
braucht man Mut,
Hingabe an den Garten
mit den Blumen des Bösen.

Du musst glauben …

Caravaggio ist für dich gestorben …

Charles Baudelaire: Der 1867 46-jährig in Paris verstorbene Dichter gilt als einer der Wegbereiter der literarischen Moderne; Kurzbiographie in Baudelaires dunkelschöne Dichterblumen (Der Freitag, 9. April 2019);

Kissen (…), die so tief wie Gräber sind: Zitat aus dem Gedicht La mort des amants von Charles Baudelaire; Nachdichtung mit weiteren Links auf literaturplanet.de;

Pier Paolo Pasolini: 1922 in Bologna geborener, wegen seiner die italienische Gesellschaft kritisch sezierenden Werke von vielen Seiten angefeindeter Autor und Filmregisseur, der 1975 am Strand von Ostia erschlagen wurde;

Michelangelo Merisi da Caravaggio: Der 1610 im Alter von 38 Jahren verstorbene italienische Maler ist für sein ausschweifendes, von teils gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen geprägtes Leben bekannt. Die Kunst seiner Zeit hat er durch neuartige, realistische Darstellungsweisen mit sakralen Themen verbindende Maltechniken revolutioniert und so den Übergang vom Manierismus zum Barock geebnet.

Luigi Tenco: Der Cantautore hat sich 1967 im Alter von 29 Jahren in seinem Hotelzimmer erschossen, nachdem er es auf dem Musikfestival von San Remo mit seinem Beitrag nicht ins Finale geschafft hatte. Trotz eines Abschiedsbriefs, der bei dem Toten gefunden wurde, weckten die Umstände des Todes Zweifel an der Selbstmordthese. Diese führten 2006 zu neuen gerichtsmedizinischen Untersuchungen des Vorfalls (vgl. Helbert, Frank: Im Schatten von San Remo; Neue Zürcher Zeitung, 24. Dezember 2005). Die Neuaufnahme des Verfahrens bestätigte jedoch am Ende die Freitod-Diagnose. Zu Ehren des Cantautore wurde der bedeutendste italienische Musikpreis, der jedes Jahr in mehreren Kategorien vergebene Targa Tenco, nach ihm benannt.

Piero Ciampi: Cantautore, der 1980 nach einem rastlosen Leben 45-jährig an Speiseröhrenkrebs gestorben ist. Die Assoziation mit den Wildblumen hat Francesco Bianconi, der Autor des Songs, damit erklärt, dass Ciampis Lieder für ihn eine ähnliche Freiheit ausstrahlten wie die Wildblumen. Wie diese wachse Ciampis Kunst, „wo sie will, und entfaltet sich mit all ihrer Tragik und wunderschönen Impulsivität“ (vgl. arte.sky.it, Vorschau auf einen Dokumentarfilm über Piero Ciampi, 19. Januar 2015). Auch ihre „Widerspenstigkeit“ und Ciampis kurzes Leben erinnerten an Wildblumen (vgl. Paloscia, Fulvio: „Così Piero Ciampi ha raccontato il futuro con coraggio e poesia“; Gespräch mit Francesco Bianconi, La repubblica, 27. September 2014).

Sappho: antike griechische Dichterin, die sich der Legende nach um 570 vor Christus wegen unerfüllter Liebeshoffnungen durch einen Sprung von einem Felsen das Leben genommen haben soll;

Sokrates: Der griechische Philosoph hat sich im Jahr 399 vor Christus selbst mit einem Schierlingsbecher vergiftet, nachdem er wegen seiner angeblich die Götter entehrenden und die Jugend schädigenden Reden zum Tode verurteilt worden war;

Blumen des Bösen: Titel der Gedichtsammlung Baudelaires (Les fleurs du mal, Erstveröffentlichung 1857), in der auch das in der Anfangsstrophe des Songs zitierte Gedicht über den „Tod der Liebenden“ enthalten ist (s.o.).

Baustelle: La morte (non esiste più)

aus: Fantasma (‚Phantom/Gespenst‘), 2013

Liedtext

Übersetzung:

Der Tod (existiert nicht mehr)

In den Sonnenuntergängen in deinen Augen
und entlang der Alleen von Paris oder Los Angeles
finde ich die Welt wieder in den Wildblumen;
und in den Spatzen, die sich im Schnee
durchs Leben schlagen, ohne etwas zu essen zu haben,
finde ich Gott –  ich lasse ihn gewähren.

In manchen Nächten bin ich so unruhig,
dass ich ersticken könnte. Dann öffne ich das Fenster
und fliege fort, wie man so sagt.
Ich sehe mich kämpfen wie der Ginster, der auf dem Vulkangestein sprießt,
wie eine Fliege in einem berauschenden Getränk,
und doch lasse ich Gott gewähren.

Der Tod existiert nicht mehr, er ist verstummt,
er kann meinem Liebesrausch nichts mehr anhaben.
Das Leben tötet unsere Küsse nicht mehr,
und auch nicht unsere Träume und unsere Worte.

Die Zeit lässt sie nicht mehr verblassen
und in der Sonne verdorren.
Reich mir deine Hände, der Krieg kann uns nichts mehr anhaben.

Manche kalten Winter und manche Missgeschicke
machen mir Angst, ich möchte noch hier bleiben,
ich gebe mich noch meinen Illusionen hin,
und dann erscheinst du plötzlich, du lächelst, und ich denke,
dass ich keine Furcht mehr spüre, ich lasse den Dingen ihren Lauf,
es gibt keinen Schmerz mehr, und nichts stirbt [mehr], Baby.

Der Tod existiert nicht mehr …

Die Zeit …
Glaub mir, der Tod bedeutet nichts, wenn man keine Angst mehr hat.

Der Tod existiert nicht  mehr …

Die Zeit …
Sprich mir von der Liebe, trotz der dunklen Zeit, die kommen wird.

 

Bild: Julita (Pasja1000): Lovestory (Pixabay)

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