Föhn

Mit der Unerbittlichkeit eines Scherenschnitts, in den urplötzlich Blut einschießt, blecken die Gebirgskämme dich an. Du möchtest dich abwenden, aber ein unabänderliches Geschick kettet dich an deinen Platz: Du bist der Atlas, der die Welt zu tragen hat, schmerzhaft lastet ihr Gewicht auf deinem Haupt.

Während dein Blick sich in dem Gitterwerk der Bäume verfängt, spürst du, wie etwas Fremdes in dich eindringt, ein brennender Wurm, der sich unaufhaltsam durch deine Adern schlängelt. Wenn du an deine Stirn fasst, kannst du das Zucken seiner Schwanzspitze ertasten.

Nicht lange, und du siehst die Welt mit den Augen der Schlange in dir. Mit der Klarheit eines Fiebernden erkennst du: Dein Nachbar ist von einer ebensolchen Schlange bewohnt, auch sein Blick ist verdüstert von dem verdächtigen Zucken unter seiner Stirn. Sofort begreifst du, was das bedeutet: Er oder du! Jetzt, nachdem einer den anderen erkannt hat, ist für euch beide kein Platz mehr auf dieser Welt.

Als du ins Haus zurückirrst, zeigen alle Spiegel dir das Bild deines Nachbarn. Einer Windung des Wurms in deinen Adern folgend, zerschlägst du alles Glas, das du zu greifen bekommst. Dann schulterst du dein Bündel und entschwindest in die Wildnis. Mit märtyrerhafter Entschlossenheit wirfst du dich in die Arme der Windsbräute, die sich schon unheilvoll am Horizont versammeln.

Bild: Frans S. Sonnegger: Föhnmauer

3 Antworten auf „Föhn

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