Die Fremdheit der Welt / The Strangeness of the World

Paul Verlaines Gedicht Gaspard Hauser chante (Kaspar Hauser singt) / Paul Verlaine’s Poem Gaspard Hauser chante (Kaspar Hauser Sings)

In seinem Kaspar-Hauser-Gedicht spiegelt Verlaine im Schicksal des berühmten Findelkindes seine eigene innere Zerrissenheit und das Gefühl, keinen Platz zu haben in dieser Welt.

English Version

Kaspar Hauser singt

Ein stummes Waisenkind, erhellt
nur von dem Leuchten meines stillen Blicks,
so kam ich in der Städte fremde Welt.
Doch niemand las die stumme Schrift meines Geschicks.

Zum Mann gereift, das Herz erfasst
von unbestimmtem Liebesflehen,
zog es mich zu der Frauen duftendem Palast.
Doch keine wollt‘ den Glanz in meinen Augen sehen.

Ohne Heimat, ohne König, ohne Mut,
beschloss ich, mich dem Tod zu weihen,
und sprang mitten in des Krieges Glut.
Doch auch dieser wollt‘ mich nicht befreien.

Bin nur Treibgut ich im Meer der Zeit?
Wo findet meine Seele einen Hafen?
Welches Gebet versöhnt dies stumme Leid,
dies Herz, das früh die Pfeile der Verzweiflung trafen?

Paul Verlaine: Gaspard Hauser chante; aus: Sagesse (Weisheit; 1880).Oeuvres complètes (Sämtliche Werke), Bd. 1, S. 269 f. Paris 1902: Vanier

Paul Verlaine: ein gewalttätiger Feingeist

Paul Verlaine (1844 – 1896) persönlich kennenzulernen, wäre wahrscheinlich nicht sehr reizvoll gewesen. Nach allem, was wir über ihn wissen, war er ein äußerst launischer, impulsiver Mensch, der immer wieder bis zum Exzess soff und unter Alkoholeinfluss zudem ausgesprochen gewalttätig wurde.

Seine Gedichte freilich sprechen eine andere Sprache. Sie zeichnen das Bild einer sensiblen, zerbrechlichen Seele, eines Menschen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang  zu  leben.

Ein Leben in Widersprüchen … Vielleicht lässt sich der Riss, der sich durch Verlaines Leben zog, dieses unverbundene Nebeneinander von rohem Alltagsleben und feinfühliger Dichtung, am besten unter Zuhilfenahme der Psychoanalyse erklären.

Ein psychoanalytischer Blick auf Verlaine

Verlaine litt in seiner Kindheit unter einem autoritären Vater, der als Offizier alles daransetzte, seinen Sohn in das Korsett eines bürgerlichen Lebens zu zwängen. Wohl als eine Art Schutzreflex hiergegen entwickelte Verlaine eine sehr enge Beziehung zu seiner Mutter.

Dies erschwerte es ihm später, seine Libido anderen Frauen zuzuwenden: Verlaine hatte offensichtlich homosexuelle Neigungen. Ein Beleg dafür ist nicht nur seine leidenschaftliche Dichterfreundschaft mit Arthur Rimbaud, sondern auch die spätere Beziehung zu Lucien Létinois, einem Schüler, den Verlaine als Lehrer an einer englischen Schule kennengelernt hatte.

Heutzutage wäre eine solche homoerotische Neigung nicht weiter problematisch. Zu Verlaines Zeiten war es – zumal mit dem internalisierten Über-Ich eines pflichtversessenen Vaters – hingegen kaum möglich, sich hierzu zu bekennen. So gelang es Verlaine nicht, sich selbst als denjenigen anzunehmen, der er war.

Gebrochenes Verhältnis zur eigenen Homosexualität

Anstatt Halt in einer stabilen homoerotischen Beziehung zu suchen, bemühte Verlaine sich daher, den Anschein eines bürgerlichen Lebens aufrechtzuerhalten. Er ging sogar eine Ehe ein – bezeichnenderweise mit einer Frau, die noch ein Kind war, als er sie kennenlernte, also wohl eher geschwisterliche Gefühle in ihm geweckt haben dürfte (was ihn allerdings nicht daran hinderte, einen Sohn mit ihr zu zeugen).

Da er sich selbst und seine Homosexualität ablehnte, ja sich noch nicht einmal bewusst eingestehen konnte, die gleichgeschlechtliche Liebe zu bevorzugen, nahm Verlaine das, was er an sich selbst zurückwies, als Projektion auf anderen wahr. Anstatt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, attackierte er all jene, in denen sich sein innerer Zwiespalt widerspiegelte: Er schlug seine Frau, schoss im Streit auf Rimbaud und griff seine Mutter tätlich an.

Für die Schüsse auf Rimbaud wurde Verlaine zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Gedichte fasste Verlaine 1880 in dem Band Sagesse (Weisheit) zusammen. Darunter befinden sich auch die Kaspar Hauser in den Mund gelegten Verse.

Kaspar Hauser als Spiegelbild Verlaines

Für Verlaine war die Geschichte des Jugendlichen, der nach einem Leben in der Dunkelheit eines Kellerverlieses mit 16 Jahren in die Zivilisation hinausgeworfen wurde, wie ein Spiegelbild seines eigenen Lebens. Sie diente ihm dazu, den seiner Existenz zugrunde liegenden inneren Konflikt dichterisch darzustellen – den Konflikt eines Menschen, der in seiner inneren Zerrissenheit nicht weiß, wo sein Platz ist auf der Welt.

Auf der anderen Seite könnte Verlaine in dem von aller Zivilisation und Kultur unberührten Knaben aber auch ein Bild für den geistigen Neuanfang gesehen haben, den er sich während seiner Haftzeit erträumte. Wie der „Reichtum“ des Waisenknaben aus nichts als dem reinen, unverbildeten Staunen seiner „stillen Augen“ besteht, sehnte auch er sich wohl danach, sich selbst und die Welt noch einmal mit neuen Augen zu sehen.

Innere Dissonanz, äußerer Wohlklang

Verlaines Kaspar-Hauser-Gedicht steht damit sinnbildlich für sein Gefühl, wie ein Fremder durch das eigene Leben zu irren. Die Dissonanz zwischen dem eigenen, unvollkommenen Leben und der Utopie eines vollständig mit sich selbst im Einklang befindlichen Lebens spiegelt sich dabei auch auf der Ebene des Gedichts wider – nämlich in dem Kontrast zwischen der dissonanten inhaltlichen Ebene und der auf Harmonie und formale Vollkommenheit abzielenden formalen Gestaltung der Verse.

Hieran setzt auch die Vertonung des Gedichts durch Georges Moustaki an. Die „melodische Melancholie“, die das Chanson grundiert, hat, wie der Wohlklang der Verse Verlaines, eine tröstende Wirkung. Fast erinnert sie an die Magie von Wiegenliedern, die das unruhige Kind mit ihrem gleichmäßig-hypnotischen Klang in jene andere, traumhafte Welt entführen, wo alle Zwietracht ruht.

Georges Moustaki: Gaspard

aus dem Album Le voyageur (Der Reisende/The Traveller, 1969)

Studiofassung

Live-Aufnahme (1969)

Weiteres Lied von Moustaki mit Biographie des Sängers:

Das Mittelmeer: Friedlicher Anschein, tödliche Realität (Über das Chanson En Méditerranée)

Bilder:

1.      Louis Anquetin (1861 – 1932): Porträt von Paul Verlaine; Albi/Südfrankreich, Musée Toulouse-Lautrec (Wikimedia commons)

2.      Frédéric Bazille (1841 – 1870): Porträt von Paul Verlaine; Zürich, Galerie Chichio Haller (Wikimedia commons)

3.      Johann Georg Laminit (1775 – 1884): Porträt von Kaspar Hauser; getuschte Federzeichnung nach einer im August 1828 entstandenen Radierung von Friedrich Fleischmann (1791 – 1834). Das Bild spielt auf den Brief an, den Kaspar Hauser bei seinem plötzlichen Auftauchen in Nürnberg an Pfingsten 1928 bei sich hatte. Der anonyme Briefautor teilte darin mit, Kaspar Hauser als Findelkind aufgezogen zu haben und ihn nun zur Erfüllung seines Berufswunschs (Reiter) in die Welt zu entlassen. Das Bild ist enthalten in: Mayer, Johannes / Tradowsky, Peter: Kaspar Hauser, S. 306. Stuttgart 1984: Urachhaus.

Mehr zu Kaspar HauserNeumaier, Rudolf: Der junge Mann, der aus dem Nichts kam.Süddeutsche Zeitung, 19. April 2019.

English Version

The Strangeness of the World

Paul Verlaine’s Poem Gaspard Hauser chante (Kaspar Hauser Sings)

In his Kaspar Hauser poem, Verlaine reflects his own inner conflicts and the feeling of having no place in this world in the fate of the famous foundling.

Kaspar Hauser Sings

A speechless orphan, gifted
only with the richness of my tranquil eyes,
that’s how I came into the noisy city world.
Its inhabitants did not find me clever.

Matured into a man, the heart inflamed
by an uncertain longing for love,
I sought admittance to the world of women.
But they did not find me beautiful.

Without a home, without a king and without courage,
I felt the wish to sacrifice my life
and jumped into the world of war.
But death rejected me as well.

Was I born too early or too late?
In which world am I at home?
Please pray, pray for this mute,
wounded and orphaned heart!

Paul Verlaine: Gaspard Hauser chante (Kaspar Hauser sings) from: Sagesse (Wisdom; 1880). Oeuvres complètes (Complete Works, Vol. 1, p. 269 f. Paris 1902: Vanier

Paul Verlaine: A Violent Aesthete

Getting to know Paul Verlaine (1844 – 1896) personally would probably not have been very appealing. According to what we know about him, he was an extremely moody, impulsive person who repeatedly drank to excess and even became violent under the influence of alcohol.

His poems, however, speak a different language. They draw the picture of a sensitive, fragile soul, of a person who longs for nothing more than to live in harmony with himself and his environment.

A life full of contradictions … Perhaps the rift that ran through Verlaine’s life, this disconnected juxtaposition of raw everyday life and sensitive poetry, can best be explained with the help of psychoanalysis.

A Psychoanalytical View of Verlaine

In his childhood, Verlaine suffered from an authoritarian father who, as an army officer, did everything in his power to force his son into the corset of a bourgeois life. Probably as a kind of protective reflex against this, Verlaine developed a very close relationship with his mother.

As a result, he later had difficulties in turning his libido to other women: Verlaine obviously had homosexual tendencies. Evidence of this is not only provided by his passionate poetic friendship with Arthur Rimbaud, but also by his later relationship with Lucien Létinois, a pupil whom Verlaine had met as a teacher at a British school.

Nowadays, such a homoerotic inclination would not be problematic. In Verlaine’s time, however, it was hardly possible to openly admit to it – especially with the internalised superego of a father obsessed with duty. Thus, Verlaine did not succeed in accepting himself as the person he was.

Unsettled Attitude towards Homosexuality

Instead of seeking support in a stable homoerotic relationship, Verlaine therefore strove to maintain the appearance of a bourgeois life. He even entered into a marriage – tellingly, with a woman who was still a child when he met her, thus presumably arousing more sibling-like feelings in him (which did not prevent him from begetting a son with her, though).

Because he denied his homosexuality – and probably could not even consciously admit to preferring same-sex love –, Verlaine perceived what he rejected in himself as a projection onto others. Instead of coming to terms with himself, he aggressed against all those in whom his inner conflict was reflected: he beat his wife, shot at Rimbaud during a quarrel and physically attacked his mother.

For the shots at Rimbaud, Verlaine was even sentenced to two years in prison. The poems written in this context were collected by Verlaine in the volume Sagesse (Wisdom; 1880). Among them are the verses put into the mouth of Kaspar Hauser.

Kaspar Hauser as a Counterpart of Verlaine

For Verlaine, the story of the young man who, after a life in the darkness of a cellar dungeon, was thrown out into civilisation at the age of 16, was like a mirror image of his own life. It served him to poetically portray the inner conflict underlying his existence – the conflict of a person who, in his inner turmoil, does not know where his place is in the world.

On the other hand, Verlaine could also have seen in the boy, untouched by all civilisation and culture, an image of the spiritual new beginning he dreamed of during his time in prison. Just as the „riches“ of the orphan boy consist of nothing but the pure, unspoilt amazement of his „silent eyes“, he too probably longed to see himself and the world once again through different eyes.

Inward Dissonance, Outward Harmony

Thus, Verlaine’s Kaspar Hauser poem exemplifies his feeling of wandering through his own life like a stranger. The dissonance between his own imperfect life and the utopia of a life in complete harmony with itself is also reflected at the level of the poem – namely in the discrepancy between the content and the formal composition of the verses, which aims for euphony and formal perfection.

This is also taken up in Georges Moustaki’s setting of the poem. The „melodic melancholy“ that underpins the chanson has, like the sonority of Verlaine’s verses, a comforting effect. It is almost reminiscent of the magic of lullabies, which, with their evenly hypnotic sound, carry the restless child away into another, dreamlike world where all discord disappears.

Georges Moustaki: Gaspard

from the album Le voyageur (The Traveller, 1969)

Studio recording

Live performance  (1969)

Another song by Moustaki with biography of the singer:

The Mediterranean Sea: Peaceful Appearance, Deadly Reality (About the chanson En Méditerranée)

Pictures:

1.        Louis Anquetin (1861 – 1932): Portrait of Paul Verlaine (1867); Albi/Southern France, Musée Toulouse-Lautrec (Wikimedia Commons)

2.        Frédéric Bazille (1841 – 1870): Portrait of Paul Verlaine (1867); Zurich, Gallery Chichio Haller (Wikimedia Commons)

3.        Johann Georg Laminit (1775 – 1884): Portrait of Kaspar Hauser; pen-and-ink drawing after an etching by Friedrich Fleischmann (1791 – 1834), created in August 1828. The picture alludes to the letter Kaspar Hauser had with him when he suddenly appeared in Nuremberg/Bavaria at Pentecost 1828.  In it, the anonymous author of the letter announced that he had raised Kaspar Hauser as a foundling and was now releasing him into the world to fulfil his dream of becoming a horseman. The picture is included in: Mayer, Johannes / Tradowsky, Peter: Kaspar Hauser, p. 306. Stuttgart 1984: Urachhaus.

More about Kaspar Hauser: The Unlikely Techie: The unsolved mystery of the lost prince. Historyofyesterday.com, January 14, 2021.

3 Antworten auf „Die Fremdheit der Welt / The Strangeness of the World

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