Ausflug ins Paradies/3: Die gefährliche Freiheit der Beginen / A Trip to Paradise/3: The Dangerous Freedom of the Beguines

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Mechildis gesteht Theo, dass sie eigentlich lieber bei den Beginen leben würde. Das freiere Leben dieser Laiengemeinschaften ist allerdings, wie sie aus eigener Erfahrung weiß, nicht ganz ungefährlich

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English Version

Sonntag, 27. März 1485, abends

Noch nie habe ich mich einem anderen Menschen so schnell so nahe gefühlt wie Mechildis. Es war, als wären wir Wesen aus einem anderen Universum, verbannt in eine fremde Welt, wo ein Zufall dazu geführt hatte, dass ihre Wege sich kreuzten. Was sie über die Wirkung der Predigten von Bruder Eberhart auf sie sagte, traf für mich auf sie zu: Sie sprach unmittelbar zu meiner Seele.
Den ursprünglichen Grund für meinen Besuch im Nonnenkloster – die Suche nach Lina und Yvonne – hatte ich daher anfangs ganz aus den Augen verloren. Erst nach einiger Zeit, als eine kurze Pause in unserem Gespräch eintrat, erinnerte ich mich wieder daran.
„Hat es bei Euch in letzter Zeit eigentlich viele Neuaufnahmen gegeben?“ fragte ich, bemüht, meine Nachforschungen auf möglichst unverfängliche Weise einzuleiten.
Mechildis schüttelte den Kopf. „Nein, schon seit längerem nicht mehr. Das Kloster ist erst vor wenigen Jahren geweiht worden. Die meisten von uns sind noch recht jung und werden das Feld nicht so bald für andere räumen.“
„Dann ist in dem Kloster also kein Platz für Novizinnen frei?“ schlussfolgerte ich.
„So ist es“, bestätigte sie. „Das ist hier nicht anders als in anderen Nonnenklöstern: Es gibt weit mehr Anfragen als Plätze.“ Mit einem Anflug von Sarkasmus fügte sie hinzu: „Wo sollen die Familien auch hin mit ihren überzähligen Töchtern? Heiraten ist teuer heutzutage.“
Ich nahm noch einen Schluck von dem schweren Wein. Allmählich spürte ich, wie sich sein Zauber auf meine Zunge legte. „Heißt das, dass du nur auf Wunsch deiner Eltern hier bist?“
„Bei mir sieht die Sache etwas anders aus“, erwiderte Mechildis ernst. „Ich habe mich schon als Klosterschülerin oft ganz berauscht gefühlt von dem Atem des Geistes, der mir aus den alten Schriften und den stillen Gängen entgegengeweht ist. Wäre ich eine Ehe eingegangen, so hätte ich darauf für immer verzichten müssen. Da traf es sich gut, dass meine Eltern drei Töchter haben, denen sie ohnehin nicht allen die Mitgift zahlen konnten. Aber ganz freiwillig ist mein Eintritt ins Kloster auch wieder nicht erfolgt. Wenn mein Vater mich gelassen hätte, wäre ich lieber zu den Beginen gegangen.“
Beginen? Was war das denn nun wieder? Vorsichtig fragte ich nach: „Und was wäre daran besser gewesen?“
Mechildis seufzte. „Nun ja … Auch unter euch Mönchen dürfte sich ja herumgesprochen haben, dass unsere Mutter Oberin die Ordensregel sehr streng auslegt. Zwar werden auch die Beginenhäuser von unserem Orden geistlich betreut. Insgesamt verfügen die Bewohnerinnen dort jedoch über eine viel größere Freiheit als wir Nonnen. Sie können ihre Meisterin frei wählen, über Neuaufnahmen nach eigenem Gutdünken entscheiden, und statt an eine Ordensregel müssen sie sich nur an eine Hausordnung halten, die ihnen manches erlaubt, was uns verwehrt ist. Auch leben in keinem der Häuser mehr als zwölf Beginen, was ihnen eine viel engere Gemeinschaft ermöglicht als uns Nonnen.“
Interessant, dachte ich. Dann wäre das wohl auch für Lina und Yvonne ein viel naheliegenderer Unterschlupf gewesen. „Und warum durftest du dich dann nicht den Beginen anschließen?“ erkundigte ich mich.
„Meinen Eltern erschien das wohl vor allem nicht standesgemäß genug“, erklärte Mechildis. „Zu den Beginen zieht es nun einmal oft verarmte Witwen, die andernfalls womöglich am Bettelstab enden würden. Zudem müssen die Beginen einige niedere Dienste verrichten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch die Kleider von euch Mönchen waschen sie ja und bessern sie aus!“
Der bizarre Gedanke, dass das Mönchsgewand, das ich am Leib trug, vielleicht schon durch die Hände von Lina und Yvonne gegangen sein könnte, schoss mir durch den Kopf. Inzwischen halte ich es allerdings für eher unwahrscheinlich, dass die beiden in einem der Beginenhäuser untergekommen sein könnten. Wie mir Albertus erklärt hat, müssen Aufnahmewillige eine Art von Eintrittsgebühr entrichten – und wo hätten Lina und Yvonne das Geld hernehmen sollen?
Mechildis war derweil in ihren Erklärungen fortgefahren: „Daneben fürchtete mein Vater aber auch, dass mein Leumund – und damit auch der unserer Familie – durch meinen Eintritt bei den Beginen hätte Schaden nehmen können. Leider stehen die Beginen wegen ihrer freieren Lebensführung ja schon lange im Ruch des Ketzertums.“
Sie atmete tief durch, dann ergänzte sie mit belegter Stimme: „Auch Bruder Heinrich, der … übermorgen in der Stadt predigen soll, hat … hat diesen Verdacht schon mehrfach geäußert.“
Ihre Rede geriet ins Stocken, als sie auf Bruder Heinrich zu sprechen kam. Wie um das Thema zu wechseln, sagte sie rasch: „Sicher hat Albertus dir schon von seinem Kommen erzählt.“
„Nein – hat er nicht“, musste ich zugeben.
Sie sah mich forschend an. „Aber gehört hast du doch wohl schon von ihm?“
Da ich auch diese Frage verneinen musste, sah sie sich veranlasst, mir mehr über Bruder Heinrich zu erzählen: „Nun, Bruder Heinrich genießt – zumindest in dieser Gegend – einen hervorragenden Ruf als Prediger. Ich habe ihn selbst schon mehrfach gehört, und er … er kann wirklich gut reden … aber … aber er ist doch … das heißt nicht, dass …“
Weiter kam sie nicht. Sie brach in ein Schluchzen aus, das mich umso mehr erschreckte, als ich völlig davon überrascht wurde. Natürlich war mir klar, dass es mit Bruder Heinrich zusammenhängen musste. Warum man aber beim Gedanken an einen Prediger in Tränen ausbrechen sollte, konnte ich mir in keiner Weise erklären.

English Version

A Trip to Paradise/3: The Dangerous Freedom of the Beguines

Mechildis confesses to Theo that she would actually prefer to live with the Beguines. However, as she knows from her own experience, the freer life of these lay communities is not entirely without danger.

Sunday, March 27, 1485, in the evening

Never before have I felt so close to another human being as quickly as I did to Mechildis. It was as if we were beings from another universe, banished to an alien world where a mere coincidence had caused our paths to cross. What she had said about the impact of Brother Eberhart’s sermons on her corresponded to her effect on me: She spoke directly to my soul.
At first, I had therefore completely forgotten about the actual goal of my visit to the nunnery – the search for Lina and Yvonne. Only after some time, when there was a short pause in our conversation, did I remember it again.
„By the way, have there been any new admissions to the monastery lately?“ I asked, trying to introduce my enquiries in the most innocuous way possible.
Mechildis shook her head. „No, there haven’t been any for quite some time. The convent was consecrated only a few years ago. Most of us are still quite young and won’t be making way for others any time soon.“
„So there is no room for novices in the convent?“ I concluded.
„That’s right,“ she confirmed. „It’s no different here than in other nunneries: there are far more requests than places.“ With a touch of sarcasm, she added: „Monasteries are simply a good repository for surplus daughters. What else are families to do with them? Marriage is expensive these days.“
I took another sip of the strong wine. Gradually, I felt its magic tingle on my tongue. „Does that mean you’re only here at your parents‘ request?“
„As for me, things are a little different,“ Mechildis replied seriously. „Even as a convent pupil I often felt almost inebriated by the breath of the spirit that wafted towards me from the ancient scriptures and the silent corridors. If I had entered into a marriage, I would have had to do without all that forever. So it was a fortunate coincidence for me that my parents have three daughters – which made it impossible for them to pay a dowry to all of us. Nevertheless, my entry into the monastery was not entirely voluntary. If my father had consented, I would have preferred to join the Beguines.“
Beguines? Never heard of that! Cautiously I asked: „And what would have been better about that?“
Mechildis sighed. „Well … unfortunately our abbess interprets the rule of the Order very strictly. The Beguines enjoy much greater freedom – although they are also mentored spiritually by our Order. They can freely choose their superior, decide about new admissions on their own, and instead of following a religious rule, they only have to abide by a house rule – which allows them to do a lot of things that we are denied. Moreover, no more than twelve Beguines live together in one house. So their community is much closer than in a convent.“
Quite interesting findings, I thought – after all, they meant that a Beguine community would be a much more obvious shelter for Lina and Yvonne. „And why weren’t you allowed to join the Beguines?“ I enquired.
„I guess my parents didn’t think it was befitting of my social standing,“ Mechildis explained. „The Beguines often attract impoverished widows who might otherwise end up begging. In addition, they have to perform some menial tasks to earn their living. By the way, they also wash and mend the clothes of you monks!“
The bizarre thought that the robe I was wearing might have already passed through the hands of Lina and Yvonne flashed through my mind. In the meantime, however, I consider it rather unlikely that the two of them could have moved into one of the Beguine houses. As Albertus explained to me, those who want to be admitted there have to pay the Beguines a sort of entrance fee – and where should Lina and Yvonne have taken the money from?
In the meantime, Mechildis had continued her explanations: „In addition, my father feared that my reputation – and thus also that of our family – could have been compromised by my joining the Beguines. Unfortunately, the Beguines are constantly suspected of heresy because of their more informal way of life.“
She took a deep breath, then added in a husky voice: „Brother Henry, who … is to preach on the marketplace the day after tomorrow, has … he has already expressed this suspicion several times.“
She faltered in her speech when she mentioned Brother Henry. As if to change the subject, she quickly asked: „Surely Albertus has already told you about his visit?“
„No – he hasn’t,“ I had to admit.
She looked at me inquiringly. „But you have heard of him, haven’t you?“
Since I had to answer this question in the negative as well, she felt compelled to tell me more about Brother Henry: „Well, Brother Henry enjoys – at least in this region – an excellent reputation as a preacher. I’ve heard him several times myself, and he … he is really a good orator … but … but he is … that doesn’t mean that …“
She didn’t get any further. Instead, she burst into sobs, which startled me all the more because it came completely out of the blue for me. Of course, it was clear to me that her tears had something to do with Brother Henry. However, I couldn’t understand why anyone should burst into tears at the thought of a preacher.

Bilder / Images: Joshgmit: Silhouette einer Nonne vor einem Kirchenfenster / Silhouette of a nun in front of a church window (Pixabay; modifiziert); Dorothée Quennesson: Kirchenfensterbild der Heiligen Gertrud /Church window image of Saint Gertrude (Pixabay; Ausschnitt)


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