Ausflug ins Paradies/2: Mechildis / A Trip to Paradise/2: Mechildis

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Nach dem Ende des Abendgottesdienstes findet sich Theo mit Schwester Mechildis allein in deren Kammer wieder. Sie legt ein überraschend ungezwungenes Verhalten an den Tag.

Text hören

English Version

Sonntag, 27. März 1485, nachmittags

Mechildis kommt mir ähnlich vertraut vor wie Bruder Eberhart. Ich werde das Gefühl nicht los, ihr schon einmal begegnet zu sein. Dabei ist das in ihrem Fall noch viel unwahrscheinlicher als bei dem Prior, der mir schlicht durch Albertus‘ Beschreibungen bekannt vorkommen könnte. Oder spielt mir hier nur die Erinnerung an unser gestriges Beisammensein einen Streich, durch das ich den Eindruck habe, Mechildis schon ewig zu kennen?
Vielleicht beruhen diese Déjà-vu-Empfindungen aber auch schlicht darauf, dass die Zeit nicht so linear verläuft, wie wir gemeinhin annehmen. Womöglich ist die Zeit eben doch keine Linie, sondern ein Kreis – ein Karussell, auf dem immer wieder dieselben Personen und Situationen auftauchen, nur im Gewand einer anderen Epoche.

  1. Mechildis

Sobald die Vesper zu Ende war, begab sich Albertus mit Margaretha, die er schon des Öfteren besucht hatte, auf deren Kammer. Nun war ich mit Mechildis allein. Es war ein bisschen wie in einem Stundenhotel. So zumindest empfand ich die unverhohlene Konzentration unseres Besuchs auf den Austausch von Intimitäten, durch die meine Befangenheit sich noch einmal steigerte.
Mechildis allerdings ließ sich von meiner Verlegenheit in keiner Weise anstecken. In aller Ruhe schloss sie die Tür und nahm dann wie selbstverständlich ihre Haube vor mir ab. Daraus quoll so dichtes rotblondes Haar hervor, dass ich mich fragte, wie sie es fertigbrachte, dieses unter die Haube zu zwängen.
Scheinbar ohne sich um meine Anwesenheit zu kümmern, wandte sie sich dem Wandbord in der linken Zimmerecke zu. Sie nahm den dort aufgehängten Handwaschkessel vom Haken, griff sich noch zwei schlichte Keramikbecher und kam dann zu mir an den Tisch.
Wie sich herausstellte, war der Handwaschkessel bis zum Rand mit Wein gefüllt. Diesen goss sie in die auf dem Tisch abgestellten Becher, wobei sie geschickt darauf achtete, dass das kostbare Getränk nicht durch die Gießvorrichtung auf der anderen Seite des Kessels auf den Boden schwappte.
„Die Mutter Oberin überprüft regelmäßig unsere Zimmer“, merkte Mechildis mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Dies macht es uns leider unmöglich, den Wein in einem passenderen Gefäß aufzubewahren.“
Da ich auf dem Schemel saß, nahm sie auf dem Bett Platz, wo zuvor Albertus gesessen hatte. „Seid Ihr nicht auch bei der Predigt von Bruder Eberhart gewesen?“ fragte sie, nachdem sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Becher genommen hatte.
Also war sie tatsächlich unter den Nonnen gewesen, die in der Kirche vor mir gesessen hatten! „Stimmt, ich war auch da. Hat Euch die Predigt gefallen?“ fragte ich höflichkeitshalber.
Mechildis freilich ging auf meinen Konversationston nicht ein, sondern beantwortete meine Frage mit großer Ernsthaftigkeit: „Solange ich hier im Kloster bin, habe ich noch keine Predigt von Bruder Eberhart versäumt. Von jedem seiner Worte fühle ich mich im Innersten berührt, auch wenn ich nicht fähig wäre, den Sinn seiner Rede mit meinen eigenen Worten wiederzugeben. Es ist, als spräche er unmittelbar zu meiner Seele, ohne den Umweg über den Verstand. Er selbst hat einmal gesagt, die in seinen Predigten aufleuchtende Wahrheit komme unmittelbar von Gott. Niemand solle sich grämen, wenn sich seinem Verstand nicht jedes Wort erschließe. Nicht der einzelne Gedanke, sondern die Botschaft als Ganzes müsse sich in der Seele entfalten.“
Während sie auf mich einredete und mich dabei mit ihren grünlich schimmernden Augen fixierte, war ich ganz gebannt von der Magie ihrer Stimme. Sie war ausgesprochen weich und weckte in mir Assoziationen an ein abendliches Bad in einem See, dessen Wellen noch die Wärme des Tages abstrahlen. Nur um sie weiter sprechen zu hören, fragte ich: „Heißt das denn nicht, dass nur diejenigen die Wahrheit vernehmen können, die sie schon kennen?“
„Du kannst auch in der Wahrheit sein, ohne die Wahrheit in dir zu fühlen“, antwortete sie unbeirrt. „Ich denke, dass das sogar bei den meisten so ist.“
Es überraschte mich, wie selbstverständlich sie zum Du überging. Der vertraute Ton war mir allerdings keineswegs unangenehm. Bereitwillig griff ich ihn auf: „Hast du den Prior auch schon außerhalb der Messen erlebt?“
Sie lächelte vielsagend: „Leider sind uns Begegnungen mit ihm nur in den engen Bahnen der klösterlichen Ordnung möglich. Aber natürlich habe ich bei ihm schon mehrfach die Beichte abgelegt.“
Unvermittelt fragte sie mich: „Sag, kennst du auch dieses Gefühl der Ohnmacht beim Gedanken an Christi Marterung?“
Ich wollte zunächst eine ausweichende Antwort geben. Als mein Blick sich mit Mechildis‘ Trost suchenden Augen traf, erschien mir das jedoch wie eine Art von Verrat. „Ja“, murmelte ich daher unbeholfen, „eine schreckliche Vorstellung.“
Mechildis nickte zufrieden. „Siehst du, und selbst hier hat mir Bruder Eberhart geholfen, als ich ihm von diesem Gefühl erzählt habe.“
„Was hat er denn dazu gesagt?“ wollte ich wissen.
Ein versonnenes Lächeln schimmerte auf Mechildis‘ Lippen. „Er meinte, diese Empfindung sei nur natürlich. Ich dürfe deshalb jedoch nicht an der Menschheit und meinem eigenen Menschsein verzweifeln, da dies mein Herz verhärten und es daher auch für Gott verschließen würde. Stattdessen solle ich in heiterer Gelassenheit auf die erlösende Hand Gottes vertrauen. Nur so könne ich mich gegen das Böse feien, das zum Verrat an Christus geführt habe.“
Mechildis trank erneut von dem Wein und griff dann nach dem als Karaffe dienenden Handwaschkessel. „Noch etwas Wein?“ fragte sie, während sie sich selbst den Becher vollgoss.
Während ich ihr meinen Becher hinhielt, konnte ich wohl mein Erstaunen über ihre eigene Trinkfestigkeit nicht ganz verbergen. Deshalb fügte sie erklärend hinzu: „Du weißt ja, was Aristoteles über den Wein schreibt: Weiber werden nur selten berauscht von ihm. Männern dagegen – vor allem älteren – steigt er leicht zu Kopfe.“
Auf meinen skeptischen Blick hin ergänzte sie: „Macrobius Theodosius liefert dafür eine einleuchtende Erklärung: Er weist darauf hin, dass im weiblichen Leib ein viel höherer Gehalt an Feuchtigkeit vorhanden ist als im männlichen. Wenn eine Frau Wein trinkt, dann versinkt er geradezu in diesem Flüssigkeitsüberschuss. Außerdem entweicht der Dunst des Weines auch rasch wieder durch die vielen Öffnungen, über die der weibliche Körper für seine Selbstreinigung verfügt.“
Ihr Vortrag endete mit einem Lächeln, das offen ließ, ob sie wirklich an diese Theorien glaubte oder sie nur als Rechtfertigung für ihr Verhalten nutzte. „So ist das weibliche Geschlecht vor der Trunkenheit also schlicht durch die Eigenheit seines Leibes geschützt“, schloss sie. „Ihr Männer solltet dagegen den Wein nur in Maßen genießen.“
Damit hob sie den Becher wieder an ihre Lippen – nicht ohne mich mit einem koketten Nicken aufzufordern, es ihr gleichzutun. So musste Eva gelächelt haben, als sie Adam den Apfel reichte, dachte ich, während meine Finger sich mit einem leichten Zittern um das Trinkgefäß schlossen.

Anmerkungen:

Wahrheit komme unmittelbar von Gott:  lehnt sich an eine Äußerung Meister Eckharts an: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.“ (Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, herausgegeben und übersetzt von Josef Quint, Predigt 32, S. 309. Zürich 1979: Diogenes.).

Gefühl der Ohnmacht beim Gedanken an Christi Marterung / in heiterer Gelassenheit auf die erlösende Hand Gottes vertrauen: basiert auf Berichten über Meister Eckharts Wirken als Beichtvater (vgl. Haas, Alois Maria: Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens, S. 468. Einsiedeln 1979: Johannes-Verlag).

Aristoteles / Macrobius Theodosius: Die Ausführungen von Mechildis basieren auf dem Briefwechsel zwischen der Äbtissin Heloisa (Héloїse) und ihrem Freund und Vertrauten Petrus Abaelard (Abélard). Im sechsten Brief der Sammlung begründet Heloisa ihre Forderung nach einer größeren Freiheit bei der Auswahl von Speisen und Getränken in Nonnenklöstern mit einem Zitat aus dem 7. Kapitel der Saturnalien des Macrobius Theodosius (der sich darin wiederum auf Aristoteles bezieht); vgl. [Petrus] Abaelard: Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Übertragen und herausgegeben von Eberhard Brost, S. 159. Mit einem Nachwort von Walter Berschin (1938). Heidelberg, 4., verb. Aufl. (Neuausg.) 1979: Lambert Schneider.

 English Version

A Trip to Paradise/2: Mechildis

After the end of the evening service, Theo finds himself alone with Sister Mechildis in her chamber. She behaves surprisingly easy-going in the presence of her guest.

Sunday, März 27, 1485, afternoon

Mechildis seems just as familiar to me as Brother Eberhart. I can’t shake the feeling that I have met her before. In her case, however, this is even less likely than with the Prior, who could simply seem familiar to me from Albertus‘ descriptions. Or am I only deceived by the memory of our meeting yesterday, which gives me the impression that I have known Mechildis for ages?
But maybe these feelings of déjà vu are simply due to the fact that time is not as linear as we generally assume. Perhaps time is not a line after all, but a circle – a merry-go-round on which the same people and situations appear again and again, only in the guise of a different era.

  1. Mechildis

As soon as our two ladies returned from Vespers, Albertus went with Margaretha, whom he had visited many times before, to her chamber. Now I was alone with Mechildis. It was a bit like in a no-tell motel. At least, that’s how I felt about the undisguised focus of our visit on the exchange of intimacies – which made me feel even more embarrassed.
Mechildis, however, was in no way affected by my awkwardness. She calmly closed the door and then, quite naturally, took off her bonnet in front of me. Her reddish-blond hair was so thick that I wondered how she managed to squeeze it under her bonnet.
Seemingly without caring about my presence, she turned to the wall shelf in the left corner of the room. She took the hand-washing kettle hanging there from the hook, grabbed two plain ceramic mugs and then joined me at the table.
As it turned out, the hand-washing kettle was filled to the brim with wine. This she poured into the cups placed on the table, skilfully making sure that the precious drink did not spill onto the floor through the pouring device on the other side of the kettle.
„Our abbess regularly checks our rooms,“ Mechildis noted with a waggish smile. „This unfortunately makes it impossible for me to keep the wine in a more suitable vessel.“
As I was sitting on the stool, she took a seat on the bed where Albertus had sat before. „Weren’t you also at Brother Eberhart’s sermon?“ she asked after taking a hearty sip from her mug.
So she had indeed been among the nuns who had sat in front of me in the church! „That’s right, I was there too. Did you like the sermon?“ I asked politely.
Mechildis, however, did not respond to my conversational tone, but answered my question with great seriousness: „As long as I have been here in the monastery, I have never missed a sermon by Brother Eberhart. I feel touched in my innermost being by his every word, even though I would not be able to reproduce the meaning of his speech in my own words. It is as if he speaks directly to my soul, without the detour of the intellect. He himself once said that the truth gleaming in his sermons comes directly from God. No one should grieve if his mind does not grasp every word. Not the individual thoughts but the message as a whole would have to unfold in the soul.“
While she spoke to me and fixed me with her greenish shimmering eyes, I was completely captivated by the magic of her voice. It was extremely soft and evoked in me associations with an evening swim in a lake whose waves still radiate the warmth of the day. Just to hear her speak further, I asked: „Doesn’t this mean that only those who already know the truth can experience it?“
„You can also be in the truth without feeling the truth inside you,“ she replied unperturbed. „I think that’s even the case with most people.“
It surprised me how naturally she talked to me about things that were obviously of particular importance to her. This reinforced my sense of familiarity with her. „Have you also encountered the Prior outside the fairs?“ I asked.
She smiled meaningfully: „Unfortunately, we can only meet him within the narrow confines of the monastic order. But of course I have made confession to him several times.“
All of a sudden she asked me: „Tell me, do you also know this feeling of helplessness at the thought of Christ’s martyrdom?“
At first I wanted to give an evasive answer. But when my gaze met Mechildis‘ comfort-seeking eyes, this felt like a kind of betrayal to me. „Yes,“ I therefore murmured awkwardly, „a terrible notion.“
Mechildis nodded approvingly. „You see, and even here Brother Eberhart helped me when I told him about this feeling.“
„And what did he say about that?“ I wanted to know.
A pensive smile appeared on Mechildis‘ lips. „He said that it was only natural to feel this way. However, I should not despair therefore of humanity and of being human myself, because this would harden my heart and hence also close it to God. Instead, I should calmly trust in God’s redeeming hand. Only in this way would I be able to arm myself against the evil that has led to the betrayal of Christ.“
Once again, Mechildis took a sip of the wine and then reached for the hand-washing kettle that served her as a carafe. „Some more wine?“ she asked as she filled her mug.
While I held my cup out to her, I couldn’t quite hide my amazement at her own drinking capacity. So she explained, unsolicited: „You know what Aristotle writes about wine? Women are rarely inebriated by it. Men, on the other hand – especially if they are a little older – easily get drunk on it.
At my sceptical look, she added: „Macrobius Theodosius provides a plausible explanation for this: he points out that the female body has a much higher moisture level than the male. So when a woman drinks wine, it virtually sinks into this abundance of fluid. Moreover, the vapour of the wine quickly escapes through the many orifices the female body has for its self-purification.“
Her speech ended with a smile that left open whether she really believed in these theories or was just using them as a justification for her behaviour. „Thus, women are protected from drunkenness by the peculiarity of their body,“ she concluded. „Men, by contrast, should enjoy wine only in moderation.“
With that, she raised the cup to her lips again – not without inviting me to do the same with a coquettish nod. This must have been how Eve smiled when she handed Adam the apple, I thought as my fingers closed around the mug, slightly trembling.

Annotations:

Truth (…) comes directly from God: The statement is based on a statement by Meister (Master) Eck(e)hart: „Whoever does not understand this speech should not worry about it. For as long as you do not resemble this truth, you will not understand this speech. For it is an unveiled truth that has come directly from the heart of God.“ (Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate / German Sermons and Tracts, edited and translated by Josef Quint, Sermon 32, p. 309. Zurich 1979: Diogenes.).

Feeling of helplessness at the thought of Christ’s martyrdom / calmly trust in God’s redeeming hand: based on reports of Meister Eckhart’s work as a confessor; cf. Haas, Alois Maria: Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens [Meister Eckhart as a Normative Figure of Spiritual Life], p. 468. Einsiedeln 1979: Johannes-Verlag.

Aristotle / Macrobius Theodosius: Mechildis‘ remarks are based on the correspondence between the abbess Heloisa (Héloїse) and her friend and confidant Peter Abaelard (Abélard). In the sixth letter of the collection, Heloisa justifies her demand for greater freedom in the choice of food and drink in nunneries with a quotation from the 7th chapter of the Saturnalia of Macrobius Theodosius (who in turn refers to Aristotle in it); cf. [Petrus] Abaelard: Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa [The Passion Story and the Correspondence with Heloisa]. Translated and edited by Eberhard Brost, p. 159. With an afterword by Walter Berschin (1938). Heidelberg, 4th, verb. (new edition) 1979: Lambert Schneider.

Bilder / Images: Dieter G.: Silhouette einer Nonne / Silhouette of a nun (Pixabay); Gebetbuch der Markgräfin von Brandenburg, 1520; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek (Wikimedia commons) /Prayer book of the Margravine of Brandenburg, 1520; Karlsruhe, Baden State Library (Wikimedia commons)

Eine Antwort auf „Ausflug ins Paradies/2: Mechildis / A Trip to Paradise/2: Mechildis

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..