Ausflug ins Paradies/1: Eine Fähre ins Nonnenkloster / A Trip to Paradise/1. A Ferry to the Nunnery

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Versteckt in einer Truhe, lassen sich Theo und Albertus ins Nonnenkloster schmuggeln. Der Weg ins Liebesnest erweist sich dabei als recht abenteuerliche und vor allem wacklige Angelegenheit.

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Sonntag, 27. März 1485

Albertus hat tatsächlich Wort gehalten! Gestern Nachmittag – es läutete gerade wieder zu einer der unzähligen Andachten – klopfte er plötzlich an meiner Tür.
„Na, bereit für einen Ausflug ins Paradies?“ scherzte er, den Kopf zur Tür hereinsteckend.
Auf meinen verständnislosen Blick hin fragte er: „Hast du etwa unser Stelldichein mit unseren Schwestern im Geiste vergessen?“
„Nein, natürlich nicht“, log ich. „Aber die Gebetsstunden … Müssten wir nicht …?“
Albertus zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Ich habe Bruder Eberhart darüber informiert, dass wir leider wegen einer dringenden Privataudienz verhindert sind – und ganz falsch ist das ja auch nicht.“
Schnellen Schrittes führte er mich zu einer Abstellkammer neben dem Pförtnerhäuschen. „Bitte einzusteigen“, lud er mich ein, auf eine große Truhe in der Mitte des Raumes deutend. „Dies ist das Schiff, das uns zu der Insel der Seligen übersetzen wird.“
Die beiden Träger, die er für unsere kleine Reise gedungen hatte, stimmten in sein Grinsen ein, setzten jedoch gleich wieder ihr vorheriges dienstbeflissenes Gesicht auf, als Albertus‘ strenger Blick sie traf. Mir war zwar etwas mulmig zumute, als ich in die Truhe kletterte – zumal es darin doch enger zuging, als Albertus versprochen hatte. Für einen Rückzieher war es aber jetzt zu spät.
Tatsächlich kam unsere „Überfahrt“ in das Nonnenkloster einer Schiffsreise recht nahe. Wie im dunklen Bauch eines Schiffes wurde ich in der Truhe vom künstlichen Seegang, den unsere beiden Träger erzeugten, hin und her geschüttelt. Ich kam mir vor wie ein blinder Passagier, der durch eine seinen Blicken verborgene Welt einem unbekannten Ziel entgegentreibt.
Natürlich hatte Albertus die beiden Laienbrüder, die den Handkarren mit unserer Truhe durch die Gassen schoben, hinreichend mit Schweigegeld versorgt. Das bewahrte uns aber nicht vor den Schlaglöchern, in denen der Handkarren ein ums andere Mal versank. Mehrmals wäre die Truhe dabei beinahe zu Boden gefallen, was uns alle in eine Situation mit recht unangenehmen Folgen gebracht hätte.
Durch die massiven Holzwände der Truhe drangen die Stimmen der Passanten zwar nur undeutlich an unsere Ohren, aber es war doch unschwer zu erkennen, dass wir uns durch belebte Gassen bewegten. Sicher hätte sich rasch ein Menschenauflauf um uns gebildet, wenn die Truhe umgekippt wäre. Sie war zwar mit einem Schloss versehen, aber wer weiß, ob das gehalten hätte, wenn sie mit voller Wucht auf den Boden aufgeschlagen wäre – ganz abgesehen von den Verletzungen, die wir uns dabei hätten zuziehen können.
Der heikelste Teil unseres Weges begann freilich erst, als wir endlich an dem Frauenkloster angelangt waren. Für den Transport innerhalb des Klosters war der Handkarren zu breit und zu dreckig. Da zudem die Truhe schon unbeladen so schwer war, dass sie von zwei kräftigen Männern nur mit Mühe getragen werden konnte, mussten unsere beiden Laienbrüder sich Verstärkung bei den Bettlern holen, die vor dem Kloster gerade auf die Armenspeisung warteten.
Auf unserem Weg durch die Klostergänge fürchtete ich die ganze Zeit, die zusätzlichen Träger könnten sich über das ungeheure Gewicht der Truhe wundern und sich gegenüber den Nonnen, die ihnen die Suppe austeilten, entsprechend äußern. Zeitweise hielt ich sogar den Atem an, um mich nicht zu verraten.
Schließlich vernahm ich ein lautes Poltern, verbunden mit einer heftigen Erschütterung – die Träger hatten die Truhe abgesetzt. Im nächsten Augenblick hörte ich sie schnaufen und sich beratschlagen. Offenbar überlegten sie, wie sie die Truhe am besten in die Kammer bugsieren sollten, in der wir uns mit unseren beiden Schwestern im Geiste verabredet hatten. Diese traten so für mich zuerst als körperlose Wesen in Erscheinung: als zwei zarte Stimmchen, welche die Träger an den Ort dirigierten, der für das neue Möbelstück vorgesehen war.
Nachdem die Träger von den Auftraggeberinnen noch einmal entlohnt und verabschiedet worden waren, vernahmen wir ein verschwörerisches Tuscheln und Kichern. Offenbar war die Luft nun rein!
Tatsächlich öffnete sich kurz darauf der Deckel unseres engen Verlieses, und uns begrüßte die kecke, in ein prustendes Lachen übergehende Frage: „Wollt ihr zu uns kommen oder sollen wir zu euch kommen?“
Als ich meinen Kopf blinzelnd aus der Truhe streckte, blickte ich in zwei neugierige Augenpaare. In der Einschnürung ihrer Hauben erinnerten mich unsere beiden Gastgeberinnen an die Mondgesichter, wie man sie von Kinderzeichnungen kennt.
„Schau, Mechildis, das ist der Neue, von dem Albertus mir erzählt hat“, sagte diejenige, die sich mir als Margaretha vorstellte, zu ihrer Freundin und Mitschwester.
Ich hätte erwartet, dass diese daraufhin leicht erröten und die Augen senken würde. Stattdessen sah sie mich jedoch mit wohlwollendem, etwas schalkhaftem Interesse an. So war es an mir, die Augen zu senken.
Margaretha schmunzelte. „Er ist noch etwas schüchtern. Aber du wirst schon warm werden mit ihm – spätestens nach dem ersten Becher Wein!“
„Gewiss doch!“ stimmte Mechildis ihr zu, wobei sie mich aufmunternd anlächelte.
„Wir müssen nun noch die Vesper über uns ergehen lassen“, erklärte Margaretha seufzend. „Ich hoffe, ihr bleibt uns so lange treu!“
Damit zogen sie kichernd von dannen. Während ich mir mit Albertus die Zeit beim Schachspiel vertrieb und dabei im Rekordtempo eine Partie nach der anderen verlor, nahm meine Nervosität von Minute zu Minute zu. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen!

English Version

A Trip to Paradise/1. A Ferry to the Nunnery

Hidden in a chest, Theo and Albertus are smuggled into the nunnery. The way to the love nest proves to be a pretty adventurous and, above all, shaky affair.

Sunday, March 27, 1485

Albertus actually kept his word! Yesterday afternoon – just as the bell rang again for one of the countless services – he suddenly knocked on my door.
„Well, ready for a trip to paradise?“ he joked, looking in at the door.
As I stared at him uncomprehendingly, he asked: „Have you forgotten about the tryst with our spiritual sisters?“
„No, of course not,“ I lied. „But the service … Don’t we have to …?“
Albertus winked at me conspiratorially. „I have already told Brother Eberhart that we are unfortunately prevented from attending the service due to an urgent private audience – which is not entirely wrong, after all.“
With quick strides he led me to a storeroom next to the gatehouse. „Please enter,“ he invited me, pointing to a large chest in the middle of the room. „This is the ship that will take us to the Isle of the Blessed.“
The two strong lay brothers he had hired as palanquin bearers joined in his grin, but immediately put on their previous officious faces again when Albertus‘ stern gaze met them. I felt a little queasy when I climbed into the chest – especially since it was tighter inside than Albertus had promised. But now it was too late to back out.
In fact, our passage to the nunnery came very close to a ship’s voyage. As if in the dark belly of a sailboat, I was shaken back and forth in the chest by the artificial swell created by our two porters. I felt like a stowaway drifting through a world hidden from view towards an unknown destination.
Of course, Albertus had provided the two men who pushed the handcart with our chest through the alleys with adequate hush money. But that did not protect us from the potholes in which the handcart repeatedly sank. Several times the chest almost fell to the ground, which would have put us all in a situation with quite unpleasant consequences.
Through the solid wooden walls of the chest, the voices of the passers-by only reached our ears indistinctly. Yet I could make out that we were moving through busy alleys. Surely a crowd would have quickly formed around us if the chest had tipped over. It was firmly locked, of course, but who knows whether the lock would not have broken if it had hit the ground with full force – not to mention the injuries we could have suffered from this.
The most delicate part of our journey began when we finally arrived at the women’s convent. The handcart was too big and too dirty to be transported inside the monastery. Moreover, even unloaded, the chest was so heavy that it could only be carried with difficulty by two strong men. So our two lay brothers had to get help from the beggars waiting outside the monastery for alms.
On our way through the monastery corridors, I feared all along that the additional porters might wonder about the enormous weight of the chest and make appropriate comments to the nuns handing out soup to them. Temporarily, I even held my breath to avoid being discovered.
Finally, I heard a loud thump, combined with a violent shake – the porters had set the chest down. The next moment I heard them panting and discussing. Obviously they were thinking about how to move the chest into the chamber where we had arranged to meet the two nuns. Thus, our spiritual sisters first appeared to me as disembodied beings: as two delicate, soft voices directing the bearers to the place intended for the new piece of furniture.
After the porters had been paid once more by the two ladies, we heard a conspiratorial whispering and giggling. Apparently the coast was clear now!
Indeed, shortly afterwards the lid of our narrow dungeon opened and we were greeted by a mischievous question: „Do you want to come to us or shall we come to you?“
Blinking as I stuck my head out of the chest, I looked into two pairs of curious eyes. In the constriction of their bonnets, our two hosts reminded me of the moon faces familiar from children’s drawings.
„Look, Mechildis, this is the new one Albertus told me about,“ the one who introduced herself to me as Margaretha instructed her fellow sister, pointing at me.
I would have expected Mechildis to blush slightly and lower her eyes in response. Instead, she looked at me with benevolent, somewhat roguish interest. So it was my turn to lower my eyes.
Margaretha sniggered. „He’s still a little shy. But you’ll soon warm up to him – at the latest after the first cup of wine!“
„Of course I will!“ Mechildis agreed with her, smiling at me encouragingly.
„We still have to endure Vespers now,“ Margaretha explained with a sigh. „I hope you will remain faithful to us in the meantime!“
With that they left, still giggling. While I passed the time playing chess with Albertus, losing game after game at record speed, my nervousness increased with every passing minute. What the hell had I gotten myself into!

Bilder / Images: Hölzerne Brauttruhe (spätes 15. Jahrhundert), überzogen mit bemaltem Leder; Pamplona, Museo de Navarra / Wooden bridal chest (late 15th century), covered with painted leather; Pamplona, Museo de Navarra(Wikimedia commons); Truhe mit bemaltem Deckel / Chest with painted lid; Lissabon, Museum Nacional de Arte Antiga (Wikimedia commons)

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