Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Schorsch äußert einen sehr unangenehmen Verdacht – er glaubt zu wissen, woher die Krankheitserreger kommen.
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Mittwoch, 25. März 2521 (84/113)
Gerade hatte ich ein Bildschirmtelefonat mit dem virtuellen Klosterbruder Schorsch – bei seinem Stoppelhaarschnitt wirkt der Haarausfall so, als hätte er sich eine Tonsur schneiden lassen.
Es war nicht gerade ein ermutigendes Gespräch. Schorsch meint, dass sie die Epidemie hier wahrscheinlich auf einen Biowaffen-Angriff zurückführen.
„Und weißt du, wer die Terroristen sind?“ fragt er mit seinem Draufgängerton – der allerdings dieses Mal nicht so überzeugend rüberkommt wie sonst.
Ich weiß natürlich keine Antwort: „Nein – weißt du es etwa?“
„Aber klar doch: Wir selbst sind die Terroristen!“ Er blickt mich triumphierend an – trotz unserer misslichen Lage genießt er es, sich an meinem Unverständnis zu weiden. Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Man könnte es auch das ‚Indianersyndrom‘ nennen.“
Ich schaue ihn verständnislos an. „Was soll das heißen – ‚Indianersyndrom‘?“
„Du brauchst nur ungefähr so weit in der Zeit zurückzugehen, wie wir in die Zukunft gereist sind“, rät er mir. „Dann hast du die Lösung.“
Die Jahreszahl, die bei diesem Rechenspiel herauskommt, ist – wie ich von den Überlegungen über die Intervallschaltung der Notfalluhr weiß – 1485. Ich war nie eine Leuchte in Geschichte, aber in Verbindung mit dem Stichwort „Indianer“ fällt selbst mir die Lösung des Rätsels nicht schwer.
„Du meinst, wir hätten die Erreger aus unserer Zeit hierhergebracht?“ frage ich zögernd. „Aber dann … dann wären wir ja keine Terroristen, sondern lebende Biowaffen!“
„Nenn es, wie du willst“, erwidert Schorsch lapidar. „Jedenfalls müssen wir jetzt schleunigst versuchen, wieder von hier wegzukommen – und zwar nicht nur als Schutzmaßnahme für die Menschen hier, sondern auch, um uns selbst zu schützen.“
Das Blut pocht in meinen Schläfen. „Meinst du, die suchen schon nach den Terroristen? Dann dürften wir uns hier auf keinen Fall einfach so unterhalten! Das Gespräch wird doch bestimmt abgehört!“
Schorsch ist mal wieder durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Nur seine rechte Hand, die er gewohnheitsmäßig auf den Bauch presst, deutet an, dass ihn das Ganze mehr aufregt, als er zugibt.
„Das glaube ich nicht“, beruhigt er mich. „Von der Logik eines Kegelstaates aus betrachtet, ist es doch viel wahrscheinlicher, dass jemand die Filtersysteme außer Betrieb gesetzt und die Krankheitserreger auf diese Weise eingeschleust hat. Hast du dir mal die neuen Computersimulationen angeschaut, die sie heute Abend übertragen haben?“
Ich schüttle den Kopf – mir reicht schon das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.
„Das würde ich an deiner Stelle aber schleunigst nachholen“, empfiehlt er mir. „Die Simulationen deuten nämlich meiner Meinung nach genau auf ein solches Erklärungsmuster hin! Menschen in die feindliche Stadt einzuschmuggeln, wäre doch viel schwieriger – und außerdem für diesen Zweck auch gar nicht notwendig! Nein, die Gefahr für uns ist eher, dass sie mit einer unspezifischen Erreger-Suche anfangen – und das wird spätestens dann der Fall sein, wenn die Inkubationszeit für die anderen Erreger, die wir hier ausgesetzt haben, abgelaufen ist. Dann sind wir geliefert, weil wir nach deren Maßstäben ja ein regelrechtes Biowaffenlabor darstellen.“
„Aber dann hätten wir doch längst von den Handsondenkontrollen erfasst werden müssen!“, wende ich ein.
„Nicht unbedingt“, mutmaßt Schorsch. „Wahrscheinlich schlagen die Sonden erst bei einer bestimmten Konzentration von Krankheitserregern im Blut an.“
„Was hindert uns dann eigentlich daran, auf der Stelle abzuhauen?“ dränge ich ihn. „Wir brauchen doch nur das Rad der Notfalluhr zu betätigen – und schon ist das Problem gelöst!“
Aber Schorsch hält gar nichts von meiner plötzlichen Betriebsamkeit. „Nicht so voreilig!“ bremst er mich. „Die Nacht über sind wir ja ohnehin in unseren futuristischen Zellen eingesperrt. Da sind wir gewissermaßen als Bio-Bomben neutralisiert. Also können wir die Zeit auch nutzen, um uns besser auf unsere Rückkehr in die Gegenwart vorzubereiten.“
Schorsch hat Recht: Überstürztes Handeln bringt uns jetzt auch nicht weiter. Vielleicht stoßen wir mit etwas mehr Geduld auch doch noch auf Lina und Yvonne. Schließlich könnten sie der anderen Alltagsgruppe zugeteilt worden sein, für die es Nacht ist, während es für uns Tag ist. In diesem Fall hätten wir uns leicht verpassen können.
Sollten sie nicht hier gelandet sein, hätte das zudem recht unangenehme Konsequenzen – insbesondere dann, wenn sie auch nach unserer Rückkehr in die Gegenwart nicht aufzuspüren sein sollten. Dann nämlich wäre davon auszugehen, dass sie in eine andere Zeit geschleudert worden sind. Ich müsste dann letztlich das gesamte Raum-Zeit-Kontinuum nach ihnen absuchen.
Gut, ich würde mich dabei nur in den von der Uhr vorgegebenen Intervallen bewegen – aber es wäre trotzdem eine kaum lösbare Aufgabe. Denn wer sagt denn, dass ich den beiden direkt in die Arme laufe, sobald ich in der jeweiligen Zeit anlange? Außerdem könnten sie diese ja auch gerade wieder verlassen haben, wenn ich ankomme. Dann würden wir als intertemporäre Fluggeschosse mit Lichtgeschwindigkeit aneinander vorbeisausen, ohne es zu bemerken.
Das Fluggefühl – unter anderen Umständen hätte ich es wohl genossen … Natürlich durfte ich mich mit der Flugdüse, schon um nicht aufzufallen, nur auf den vorgeschriebenen Bahnen bewegen: von den Ruhehäusern zu den Platzanweisersonden, von dort in den mir zugewiesenen Beobachtungssaal und wieder zurück. Dennoch war es ein phänomenales Gefühl, einfach per Knopfdruck die Schwerkraft zu überwinden und wie von einem unsichtbaren Vogel getragen durch die Luft zu gleiten.
Nur beim Aufsteigen in die Luft musste ich ein wenig aufpassen, dass ich nicht die Orientierung verliere. Das Mini-Triebwerk beschleunigt sofort auf 100 Prozent! Anfangs kam ich mir daher vor, als hätte ich beim Start in einem Rennwagen das Gaspedal voll durchgetreten. Sobald ich aber in der Luft war, war der Rest ein Kinderspiel. Der Schutzanzug verfügt vorne über einen Regler, mit dem sich die Richtung bestimmen lässt, und Ausweichmanöver leitet das Lenksystem – soweit erforderlich – selbsttätig ein.
Jetzt habe ich doch das Gefühl, mich bei irgendjemandem angesteckt zu haben – jedenfalls rumort es verdächtig in meinem Bauch. Sollte Schorsch sich am Ende mit seiner Theorie geirrt haben? Ist die Epidemie doch auch für uns gefährlich? Oder ist das bei mir nur psychosomatisch bedingt?
Ich muss unbedingt daran denken, Schorsch zu fragen, ob er mir ein paar von seinen Magentropfen abgeben kann!
English Version
The Native American Syndrome
Shorsh expresses a very unpleasant suspicion – he thinks he knows where the pathogens come from.
Wednesday, March 25, 2521 (84/113)
I just had a video call with the virtual monk Shorsh – with his stubble haircut, his hair loss resembles a tonsure.
It was not exactly what I would call an encouraging conversation. Shorsh believes that they probably attribute the epidemic here to a bioweapons attack.
„And do you know who the terrorists are?“ he asked in his go-getter tone – though this time it doesn’t sound as convincing as usual.
I don’t know the answer, of course: „No – do you?“
„Sure: we ourselves are the terrorists!“ He looked at me triumphantly. Despite our awkward situation, he was enjoying my lack of understanding. After a short pause, he added: „You could also call it the ‚Native American Syndrome‘.“
„Native American Syndrome?“ I echoed. „What do you mean by that?“
„You only need to go back in time about as far as we travelled into the future,“ he helped me. „Then you’ll find the solution.“
The year that results from this arithmetic game is – as I know from thinking about the interval circuit of the emergency watch – 1485. I’ve never been a whiz at history, but in connection with the keyword „Native Americans“, even I had no difficulty solving the riddle.
„You mean we brought the pathogens here from our time?“ I asked hesitantly. „But then … then we would not be terrorists, but living bioweapons!“
„Call it what you want,“ Shorsh replied succinctly. „In any case, we must now try to get away from here as quickly as possible – and this not only as a protective measure for the people here, but also to protect ourselves.“
The blood throbbed in my temples. „Do you think they’re already looking for the terrorists? Then we definitely shouldn’t be talking here just like that! Surely the conversation is being tapped!“
Once again, Shorsh couldn’t be fazed by anything. Only his right hand, which he pressed tensely to his stomach, indicated that the whole thing was upsetting him more than he wanted to admit.
„I don’t think so,“ he reassured me. „From the logic of a cone state, it’s much more likely that someone disabled the filter systems and introduced the pathogens that way. Have you looked at the new computer simulations they broadcast tonight?“
I shook my head – what I had seen with my own eyes was enough for me.
„Then do that right away,“ he recommended. „In my opinion, the simulations point to exactly such an explanation pattern! Smuggling people into the enemy city would be much more difficult – and besides, not even necessary for this purpose! Therefore, the danger for us is rather that they start with an unspecific pathogen search – and that will be the case at the latest when the incubation period for the other pathogens we have exposed here has expired. Then we’re screwed, because from their perspective we’re a veritable bioweapons laboratory.“
„But why weren’t we already busted during the hand probe checks?“ I pondered.
Shorsh shrugged his shoulders. „The probes presumably only sound the alarm at a certain concentration of pathogens in the blood.“
„Then what’s actually keeping us from leaving right away?“ I urged him. „All we have to do is turn the wheel of the emergency watch – and the problem is solved!“
„Don’t be so hasty!“ admonished Shorsh. „During the night we are locked up in our futuristic cells anyway. So our bioweapon effect is suspended for the time being. Thus, we can also use the time to better prepare ourselves for our return to the present.“
Shorsh is right: rash actions won’t get us anywhere now. Maybe we’ll even come across Lina and Yvonne in the end if we are a little more patient. After all, they could have been assigned to the other everyday group, for whom night falls when day dawns for us. In that case, we could easily have missed each other.
Furthermore, in case they should not have landed here, this would have quite unpleasant consequences – especially if they cannot be tracked down even after our return to the present. This would suggest that they have been hurled to another time. The search for them would then have to cover the entire space-time continuum.
Admittedly, I would only move within the intervals predetermined by the emergency watch – but it would still be an almost unsolvable task. After all, who says that I will run straight into them as soon as I arrive in the respective time? Moreover, they could have just left this time again when I arrive. Then we would fly past each other as intertemporal projectiles at the speed of light without noticing it.
The feeling of flying by oneself – under other circumstances I would probably have enjoyed it … Of course, I could only fly along the prescribed paths, so as not to attract attention: from the recreation houses to the place-assigning probes, from there to the observation room and back again. Nevertheless, it was a fantastic feeling to overcome gravity simply by pressing a button and to glide through the air as if carried by an invisible bird.
Only when rising into the air did I have to be a little careful not to lose my bearings. The mini-engine immediately accelerates to 100 per cent! So at first I felt as if sitting in a racing car with the accelerator fully depressed at the start. But once I was in the air, the rest was a piece of cake. The protective suit has a regulator at the front to determine the direction, and evasive manoeuvres are initiated automatically by the steering system if necessary.
Unfortunately, I feel like I’ve been infected by someone – at least there’s a suspicious rumbling in my stomach. So is Shorsh wrong with his theory? Is the epidemic dangerous for us too? Or do the problems in my case only have psychosomatic causes?
I must remember to ask Shorsh for some of his stomach drops tomorrow!
Bilder / Images: Mysticsartdesign: Apokalyptische Szenerie / Apocalyptic scenery (Pixabay); Arek Socha: Bakterien/Bacteria (Pixabay)