Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Langsam findet Theo in die Automatismen seiner neuen „Heimat-Zeit“ hinein. Fremd bleiben sie ihm aber trotzdem.
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Mittwoch, 18. März 2521, abends
Was war das denn jetzt wieder? Erst gibt es nicht die geringste Verdunklungsmöglichkeit, und dann saust mit einem Mal ein riesiges Fallbeil vor den Scheiben herunter, das den Raum in völlige Dunkelheit hüllt. Deshalb also erschienen mir die Fenster auf dieser Seite des Platzes vorhin von außen dunkler als die auf der gegenüberliegenden Seite!
Ich habe mich gerade noch rechtzeitig in die winzige, säulenförmige Nasszelle im hinteren Teil des Zimmers flüchten können, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich schon eingeschlafen. Gleichzeitig mit der Verdunklung hat sich nämlich mein Möbelstück in die Waagerechte begeben, und von der Decke her verteilten sich wohlriechende Essenzen im Zimmer.
Die Dämpfe waren von so einschläfernder Wirkung, dass ich mich nur mit größter Mühe zu der Nasszelle schleppen konnte. Diese ist – wenn ich die Konstruktion richtig deute – offenbar mit den Nasszellen der über und unter mir liegenden Appartements in einem eigenen, von den sonstigen Räumlichkeiten unabhängigen System verbunden. Deshalb müsste ich hier eigentlich von den Dämpfen verschont bleiben.
Gemütlich ist es hier ja nicht gerade … Aus dem schlauchähnlichen Vorsprung in der hinteren Ecke der Nasszelle, in das ich vorhin – mangels Alternativen – schon einmal gepinkelt habe, dringt ein süßlich-antiseptischer Geruch in die Zelle. Die Notbeleuchtung ist so funzelig, dass ich kaum erkennen kann, wo in meinem Rätselheft noch Platz für meine Krakeleien ist.
Außerdem habe ich Angst, durch die geringste Bewegung irgendeinen Teil der Zelle zu einer „intelligenten“ Deutung meiner Bedürfnisse zu veranlassen – mit unter Umständen sehr unangenehmen Folgen für mich. Wer weiß, vielleicht gibt es hier auch so etwas wie eine Automatik-Wäsche für Menschen, die ähnlich funktioniert wie unsere Autowaschanlagen?
Ich sollte mich kurz fassen, schließlich ist die Anzahl freier Stellen in dem Rätselheft begrenzt. Für wen schreibe ich das eigentlich alles auf? Für diejenigen, die dieses Heft vielleicht nach weiteren 500 Jahren unter den Trümmern der Zukunft, die dann Vergangenheit sein wird, entdecken werden? Oder doch nur für mich selbst? Ist es einfach eine Art materialisiertes Selbstgespräch, das mir helfen soll, das Unfassbare fassbar zu machen?
Aber wird das Ganze wirklich weniger unglaublich, indem ich es schriftlich fixiere? Lässt es sich so besser verstehen oder wenigstens in seiner Unverständlichkeit ertragen, weil es geordnet erscheint?
Nein, das trifft es alles nicht … Was mich vor allem zum Schreiben antreibt, ist, glaube ich, dieses Gefühl, selbst nur ein Traum längst vergangener Tage zu sein, der sich in eine fremde Realität verirrt hat. Ohne den Halt des Schreibens, die Linien, die sich eine nach der anderen vor mir aufbauen, könnte ich einfach keinen klaren Gedanken fassen. Wahrscheinlich würde ich dann selbst nicht mehr daran glauben, dass ich existiere.
Tatsächlich würde ich ja auch nicht mehr existieren, wenn vorhin unter der Riesensonde das passiert wäre, was ich erwartet hatte: dass ein futuristischer Krieger auf mich zufliegen und mich mit seinem Laserschwert in Stücke hauen würde.
In Wirklichkeit ist nichts dergleichen geschehen. Niemand hat sich an dem Alarmsignal gestört, niemand hat mich beachtet, niemand ist gekommen, um mich festzunehmen oder wenigstens zu maßregeln. War der Warnton also nur ein Irrtum? Ein Fehler in diesem so perfekt wirkenden System? Oder haben die irgendwo im Verborgenen hockenden Wachleute den Alarm schlicht – aus welchen Gründen auch immer – überhört?
Egal! Ehe das unsichtbare Überwachungsauge es sich anders überlegen konnte, eilte ich von dem Sammelpunkt fort und folgte den anderen Schattenlosen zu dem Hochhaus.
In die Glasfront waren in regelmäßigen Abständen graue Nummern eingefügt, die von weitem nicht zu sehen waren. In der Tat dienten die Ziffern an den Leuchttafeln also dazu, einem bestimmte Appartements zuzuweisen. Da die Schattenlosen über keine Fluganzüge verfügten, erhielten sie ausschließlich Räume im Erdgeschoss.
Sobald man sich vor seine Nummer stellte, öffnete sich der entsprechende Abschnitt der Fensterfront und ließ einen ins Innere des Hauses. Ob es dabei nur deshalb nicht zu Verwechslungen kam, weil sich alle so diszipliniert verhalten haben, oder ob die Sonde der Glasfront eine Art Wärmefoto des Körpers übermittelt hat, das Irrtümer automatisch korrigiert, kann ich nicht sagen. Nach dem Alarm unter der Sonde hatte ich verständlicherweise keine Lust auf weitere Erkundungen und war heilfroh, als ich endlich in meinem Appartement anlangte.
Mittlerweile nehme ich an, das Warnsignal dadurch ausgelöst zu haben, dass ich trotz Schattenlosigkeit keine Kutte getragen habe. Anscheinend habe ich damit eine für Schattenlose geltende Vorschrift verletzt. So deute ich jedenfalls die frisch gewaschene Kutte, die ich in meinem Appartement vorgefunden habe – zusammen mit einer Art Gummianzug, der wohl unter der Kutte getragen wird. Wenn meine Vermutung zutrifft, dürfte die Sonde mich morgen ohne Alarmgezeter passieren lassen.
Morgen … Beginne ich etwa schon, mich in dieser Welt einzurichten? Mein Gott, das ist doch Irrsinn: Ich sitze hier und lebe mich in eine fremde Zeit ein, während in einer anderen („meiner“) Zeit die Sicherheitskräfte vielleicht gerade zum Sturm auf unser Kloster blasen! Oder haben sich die dort Zurückgebliebenen vielleicht auch in eine andere Zeit gerettet? Hatte George noch weitere Notfalluhren, mit denen er unsere ganze Gemeinschaft aus der Gegenwart evakuieren konnte?
Am meisten quält mich der Gedanke an Lina und Yvonne. Die Ungewissheit, was mit ihnen passiert ist, ist kaum zu ertragen. Vielleicht sollte ich doch noch einmal an dem Rad drehen, um zurückzukehren, möglichst fünf Minuten vor der Katastrophe, um doch noch das Schlimmste zu verhindern.
Aber leider lässt sich die Uhr nun einmal nicht auf eine sekundengenaue Ankunftszeit einstellen. Das Rad kann nur in die eine oder die andere Richtung gedreht werden – und dann landet man da, wohin die Schwingen des Glücksrads einen eben tragen.
English Version
Alarm!
Slowly Theo finds his way into the automatisms of his new „home time“. Nevertheless, they remain foreign to him.
Wednesday, March 18, 2521, evening
What was that? First there is not the slightest possibility of darkening, and then all of a sudden a huge portcullis whizzes down in front of the panes, shrouding the room in complete darkness. So that’s why the windows on this side of the square seemed darker to me than those on the opposite side when I was standing in the square!
Just in time, I managed to escape to the tiny wet cell in the back of the room, shaped like a column, otherwise I would probably have fallen asleep by now. Because just when it darkened, my piece of furniture moved to a horizontal position, and fragrant essences spread from the ceiling into the room.
The fumes were so soporific that I could only drag myself to the wet cell with great difficulty. If I interpret the construction correctly, the cell is connected to those of the flats above and below me in a separate system independent of the other rooms. So I should actually not be affected by the fumes here.
It’s not exactly cosy here … A sweet, antiseptic smell permeates the cell from the tube-like protrusion in the back corner of the wet room, where – for lack of alternatives – I already went to pee earlier. The emergency lighting is so sparse that I can hardly make out any space left in my puzzle book for my scribbles.
Moreover, I’m afraid that the slightest movement might cause the cell to „intelligently“ interpret my needs – with possibly very unpleasant consequences for me. Who knows, maybe there is also something like an automatic wash for humans here that works similarly to our car washes?
But I should keep this short. After all, the number of free spaces in the puzzle booklet is limited. For whom am I actually writing down all these things? For those who will perhaps discover this booklet after another 500 years under the rubble of the future, which will then be the past? Or is it just for myself? Is it simply a kind of materialised soliloquy to help me make the incomprehensible tangible?
But does the whole thing really become less incredible by giving it a written form? Does putting it in an orderly form make it easier to understand? Does this make it easier to come to terms with the incomprehensibility of my situation?
No, none of that hits the point … What drives me to write is, above all, this feeling of being nothing but a dream of long-gone days, lost in an alien reality. Without the support of writing, the lines that that flow evenly before my eyes, I simply could not grasp a clear thought. Then I would probably no longer believe I existed myself.
And indeed I wouldn’t exist anymore if what I expected had come true under the huge probe: that a futuristic warrior would fly towards me and cut me to pieces with his laser sword.
In reality, nothing of the sort happened. No one was disturbed by the alarm signal, no one paid any attention to me, no one came to arrest or at least reprimand me. So was the warning sound just a mistake? A flaw in this seemingly perfect system? Or did the guards crouching somewhere in secret simply miss the alarm – for whatever reason?
In any case, before the invisible surveillance eye could change its mind, I hurried away from the assembly point and followed the other shadowless ones to the high-rise building.
At regular intervals, grey numbers were inserted into the glass front, which could not be seen from a distance. So in fact, the numbers on the illuminated panels served to assign certain flats to those standing under the probes. Since the shadowless had no flight suits, they were only given rooms on the ground floor.
As soon as you stepped in front of your assigned number, the corresponding section of the window front opened and let you inside. Surprisingly, not the slightest confusion occurred, nor was there any mix-up. Perhaps this was because everyone behaved in such a disciplined manner. Or maybe the probe transmitted a kind of thermal photo of the body to the glass front that automatically corrected mistakes. However, after the alarm under the probe, I didn’t feel like exploring further and sighed with relief when I finally arrived at my flat.
By now I assume that I triggered the warning signal because I did not wear this sack-like robe despite being shadowless. Apparently I violated a rule that applies to the shadowless by this. At least that’s how I interpret the grey-brown robe I found in my flat – together with a kind of rubber suit that is probably worn under the robe. If my assumption is correct, the probe should let me pass tomorrow without alarm.
Tomorrow … Am I already about to settle into this world? Actually, this is sheer madness: I’m sitting here in a foreign time, while in another („my“) time the security forces are perhaps just about to storm our monastery! Or could those who stayed behind there possibly also escape to another time? Did George have any more emergency watches on hand with which he could evacuate our entire community from the present?
What torments me most is the thought of Lina and Yvonne. The uncertainty of what happened to them is almost unbearable. Maybe I should turn the wheel again and return to my „home time“, if possible five minutes before the catastrophe, to prevent the worst from happening.
But unfortunately, the watch cannot be set to an exact time of arrival. The wheel can only be turned in one direction or the other – and then you end up wherever the swings of the wheel of fortune take you to.
Bilder /Images: Gerd Altmann: Kopf mit Rauch / Head and smoke (Pixabay, modifiziert / modified); hris Martin: Bunter Rauch / Colourful smoke (Pixabay)
Manfred Ü.
Spannend!!!!!- Finde auch die Audio-Variante gut. Man muss allerdings schon ab und zu „vorblättern“ und auch die anderen Teile im Kopf haben, um mitzukommen. Ansonsten ist man etwas verwirrt.
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