Die Schattenlosen der Zukunft / The Shadowless of the Future

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Voller Freude entdeckt Theo, dass es auch in der Zukunft Schattenlose gibt. Die Kontaktaufnahme mit den vermeintlichen Seelenverwandten verläuft jedoch alles andere als angenehm.

English Version

Text hören:

Mittwoch, 18. März 2521, etwas später

Jetzt hätte ich doch noch gerne einen Nachschlag von dem Säuglingsbrei aus dem Schlauch – oder zumindest etwas Wasser. Mein Mund fühlt sich ganz sandig an von dieser ausgetrockneten Raumluft hier. Nach einem Wasserhahn habe ich aber vergeblich gesucht. Gesäugt wird an diesem Ort offenbar nur zu genau festgelegten Zeiten.
Vielleicht wird der Raum aber auch in regelmäßigen Abständen mit Wasser bestäubt. Entsprechende Spritzdüsen habe ich zwar noch nicht entdeckt, aber meine Sehgewohnheiten müssen sich ja auch erst an das neue Umfeld anpassen. Alles ist so ungewohnt, so neu, so anders – da kann es leicht passieren, dass man etwas übersieht.
Das war vorhin, als ich auf dem großen Platz einem der Sammelpunkte entgegenstrebte, nicht anders. Da hatte ich verständlicherweise nur Augen für die Flugmenschen gehabt. Dass ich nicht der Einzige war, der zu Fuß ging, war mir deshalb zunächst gar nicht aufgefallen. Oder waren die Fußgänger erst später aus den Häusern der linken Platzhälfte herausgetreten?
Egal, jedenfalls empfand ich eine ungeheure Erleichterung, als ich sie sah. Sie weckten in mir die Hoffnung auf so etwas wie Solidarität unter Gleichartigen, wie irrational dies auch gewesen sein mag.
Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass die Fußgänger sackähnliche Umhänge trugen, von der Art, wie wir sie bei den Dunkelmännern während dieser ganz speziellen Messe angelegt hatten. Mein Herz überschlug sich fast vor Freude: Ich war also doch nicht als Einziger in dieser Zeit gelandet! So schnell ich konnte, lief ich auf die vermeintlichen Bekannten zu.
Leider stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte. Nicht nur, dass mir keiner der Kuttenträger bekannt vorkam. Ihre Blicke, die unruhig hin und her flackerten, als duckten sie sich vor irgendetwas, gingen durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da. Dennoch hatten sie mehr mit mir gemeinsam als nur die Tatsache, dass sie über keinen Fluganzug verfügten: Sie waren alle ebenso schattenlos wie ich.
Das äußere Erscheinungsbild der Kuttenträger ließ für mich keinen Zweifel daran, dass Schattenlosigkeit hier als ebenso großer Makel empfunden wurde wie in der Welt, aus der ich komme. Nicht nur, dass man ihnen offenbar die zur Fortbewegung in der Luft notwendigen Utensilien vorenthielt – auch ihr gehetzter Gang machte auf mich den Eindruck von Ausschluss und Verfolgung. Wie die versprengten Reste einer mittelalterlichen Springprozession bewegten sie sich über den Platz. Gerade dieser trostlose Anblick gab mir aber neue Hoffnung, bedeutete er doch, dass ich nicht der einzige gefallene Engel in dieser für mich völlig unverständlichen Welt war.
Als ich aber auf den ersten Schattenlosen zuging und ihn so unauffällig wie möglich ansprach, ging er einfach an mir vorbei. Ich war wie Luft für ihn! Mein zweiter Annäherungsversuch verlief ebenso erfolglos wie ein dritter, den ich wider besseres Wissen noch unternahm. Handelte es sich bei den lethargischen Gestalten vielleicht nur um Halluzinationen, die mir mein überreiztes, übermüdetes Hirn vorgaukelte?
Vorsichtig tippte ich einem der Kuttenträger von hinten auf die Schulter. Er zeigte keine Reaktion – aber er war ganz offensichtlich aus Fleisch und Blut. Die Schattenlosen waren also echt, ihre Erscheinung war so wirklich, wie sie es für mich unter den gegebenen Umständen nur sein konnte. Wenn sie auf mich nicht reagierten, so wollten sie mir offenbar schlicht keine Beachtung schenken.
Habe ich mit meinem Verhalten vielleicht irgendwelche Anstandsregeln verletzt? Oder bin ich für die anderen am Ende nur ein Gespenst? Nehmen sie nur deshalb keine Notiz von mir, weil ich – als Angehöriger einer fremden Zeit – für sie unsichtbar bin? Oder ist das Ganze ein rein sprachliches Problem? Schließlich weiß ich ja gar nicht, was für eine Sprache hier gesprochen wird.
Vielleicht sollte ich aber auch froh sein, dass die hiesigen Schattenlosen – aus welchen Gründen auch immer – nicht auf meine Ansprache reagiert haben. Was auch immer ich Ihnen gesagt hätte („Entschuldigung, ich bin leider fremd in Ihrer Zeit, könnten Sie mir sagen, wie man bei Ihnen Häuser betritt?“), es hätte doch in jedem Fall lächerlich gewirkt und mich suspekt erscheinen lassen. Wer weiß, was für Folgen das für mich gehabt hätte!
Tatsächlich schien es für mich im Moment vorteilhafter zu sein, keinen Kontakt zu den anderen Schattenlosen zu haben. So konnte ich einfach beobachten, was sie taten, und mein Verhalten danach ausrichten. Da sie sich alle zielstrebig auf einen Sammelpunkt am äußersten linken Rand der rechten Häuserfront zubewegten, begab ich mich ebenfalls dorthin. Dafür musste ich zwar quer über den ganzen Platz gehen und vergrößerte so für mein Empfinden die Gefahr, von irgendwelchen Kontrollorganen, die ich hinter den Glasfronten der Häuser vermutete, erkannt und festgesetzt zu werden. In meiner Situation blieb mir jedoch kaum etwas anderes übrig.
An dem Sammelpunkt angelangt, traten die Schattenlosen einzeln unter eine der Riesensonden, die dort wie Duschen in Freibädern aufgereiht waren. Daraufhin leuchtete an einer elektronischen Tafel unterhalb der Sonde ein Zifferncode auf. Diesen lasen die Schattenlosen ab, ehe sie sich in Richtung des Hauses begaben.
Ich schloss daraus, dass ihnen mit der Ziffer eine Unterkunft in dem Haus zugewiesen wurde. Sie verfügten also anscheinend nicht über eine feste Bleibe, sondern bekamen jeden Tag ein anderes Appartement zugeteilt. Dies schien allerdings auch für die „Flugmenschen“ zu gelten. Jedenfalls unterschied sich der Mechanismus der Einweisung bei ihnen nicht grundlegend von dem für die Fußgänger.
Endlich hatte der letzte Schattenlose die Sonde passiert. Jetzt durfte ich nicht länger warten, wollte ich den Anschluss an meine stummen Lehrer nicht verlieren. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stellte mich ebenfalls unter eine der Sonden.
Angstvoll blickte ich auf die elektronische Ziffernanzeige. Und tatsächlich: Sie wies mir umstandslos eine Nummer zu. Also hatte ich mir ganz umsonst Sorgen gemacht! Nicht mehr lange, und ich würde meine Beine hochlegen können wie alle anderen auch.
Dann aber ertönte auf einmal ein Alarmsignal. War ich also doch als fremder Eindringling enttarnt worden? Wie hatte ich auch annehmen können, mich in eine so perfekt ausgeleuchtete Welt, in der jede Bewegung einer vorgegebenen Choreographie zu folgen schien, unbemerkt einschleichen zu können?
Überzeugt, im nächsten Augenblick von einem gigantischen Polizei-Flugmenschen vernichtet zu werden, harrte ich unter der Sonde aus. Ich traute mich noch nicht einmal, mit der Wimper zu zucken. Jede Bewegung, fürchtete ich, könnte mit einem Laserstrahl beantwortet werden, der mich zu Asche zermalmen würde.


English Version

The Shadowless of the Future

Theo is delighted to discover that there are also shadowless people in the future. However, establishing contact with the supposed soulmates turns out to be anything but pleasant.

Wednesday, March 18, 2521, a bit later

My mouth feels terribly sandy from the dry air in this room. Now I would even take another portion of the baby mush from the hose. But apparently, suckling only takes place at precisely fixed times in this place. There’s not even a tap in this room!
Or is the apartment sprayed with water at regular intervals? True, I haven’t discovered any such spray nozzles yet, but my visual habits have to adapt to the new environment first. Everything is so unfamiliar, so new, so different – in such a situation, it’s easy to miss something.
This was also noticeable earlier, when I was striving towards one of the assembly points on the large square. Understandably, I had only had eyes for those who were flying through the air. That I wasn’t the only one walking was something that initially didn’t occur to me. Or had the pedestrians actually emerged later from the houses on the left half of the square?
Anyway, I felt a tremendous relief when I saw them. They awakened in me the hope of something like solidarity among like-minded people, however irrational this may have been.
On closer inspection, I saw that the pedestrians were wearing sack-like cloaks, of the kind the Disciples of Darkness put on during this very special worship service. My heart almost overflowed with joy: So I was not the only one who had ended up in that time! As quickly as I could, I ran towards the supposed acquaintances.
Unfortunately, it turned out that I was mistaken. Not only did none of the hooded figures look familiar to me. Their gazes, which flickered restlessly back and forth as if they were ducking something, passed through me as if I wasn’t there. Yet they had more in common with me than just the fact that they didn’t wear flight suits: they were all as shadowless as I was.
The outward appearance of the scurrying pedestrians left me in no doubt that shadowlessness was considered as big a stigma here as in the world I come from. Not only were they apparently deprived of the utensils necessary for locomotion in the air – their hurried gait gave me the impression of exclusion and persecution. They moved across the square like the scattered remnants of a medieval jumping procession. However, it was precisely this desolate scene that gave me new hope. After all, it showed me that I was not the only fallen angel in this alien world.
But when I approached the first shadowless one and spoke to him as inconspicuously as possible, he simply walked past me. I was like air to him! My second attempt was just as unsuccessful as a third, which I undertook against my better judgement. Were the lethargic figures perhaps only hallucinations conjured up by my overstimulated, overtired brain?
Cautiously, I tapped one of the supposed soulmates on the shoulder from behind. He showed no reaction – yet he was obviously made of flesh and blood. So the shadowless were real, their appearance was as real as it could be for me under these circumstances. If they did not react to me, they obviously simply did not want to pay any attention to me.
Did I perhaps violate any rules of decency with my behaviour? Or am I just a ghost to the others? Do they take no notice of me because I – as a person of a foreign time – am invisible to them? Or is the whole thing merely a problem of language? After all, I don’t even know what language is spoken here.
But maybe I should even be glad that the local shadowless – for whatever reason – did not react to me. No matter what I would have said to them („Excuse me, I’m a time refugee, could you tell me how to enter houses here?“), it would have sounded ridiculous and made me appear suspicious. Who knows what consequences that would have had for me!
In fact, it may have been more advantageous for me at the moment to have no contact with the other shadowless ones. This way I could simply observe what they were doing and adjust my behaviour accordingly. Since they were all moving purposefully towards a meeting point at the right-hand front of the houses, I also headed in that direction. Of course, this meant that I had to walk across the whole square, which increased the danger of being recognised and arrested by any surveillance systems I suspected behind the glass fronts of the houses. In my situation, however, I had little choice.
Once at the assembly point, the shadowless stepped one by one under one of the giant probes that were lined up there like showers in an outdoor swimming pool. Thereupon, a numerical code lit up on an electronic board underneath the probe. This the shadowless read off, then they walked towards the house.
I concluded that they were assigned accommodation in the house with the number. So apparently they did not have a permanent place to stay, but were given a different flat every day. However, this also seemed to apply to the „flying people“. In any case, the mechanism of their allocation was not fundamentally different from that of the pedestrians.
Finally, the last shadowless person had passed the probe. Now I couldn’t wait any longer if I didn’t want to lose touch with my silent teachers. I mustered all my courage and approached one of the probes.
Fearfully, I looked at the electronic number display. And indeed, it assigned me a number without further ado. So I had worried for nothing! It wouldn’t be long before I could put my feet up like everyone else.
But then suddenly an alarm signal sounded. Had I been unmasked as a foreign intruder after all? How could I have assumed that I could sneak into such a perfectly illuminated world, where every step seemed to follow a predefined choreography, without being noticed?
Convinced that in the next moment I would be destroyed by a gigantic flying police man, I waited under the probe. I didn’t even dare blink my eyes. The slightest movement, I feared, might be met with a laser beam that would reduce me to ashes.

Bilder / Images: Pete Linforth (TheDigitalArtist, Pixabay): Kapuzenmann / Hooded Man; Cyber-kriminalität / Cyber criminality.

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