Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Nachdem er die Notfalluhr betätigt hat, die eine Flucht aus der Zeit ermöglichen soll, findet sich Theo in einer fernen Zukunft wieder.
English Version
Text hören (mit Hintergrundmusik von Pjotr Witowski, Pixabay)
Mittwoch, 18. März 2521
Jetzt weiß ich es also: Georges Notfalluhr funktioniert tatsächlich! Eine Drehung im Uhrzeigersinn, und das Rad an der Seite verwandelt sich in ein Zeitkatapult, das einen in eine unvorstellbar ferne Zukunft schleudert. Das hier ist einfach zu real, zu detailreich, als dass es nur eine Ausgeburt meiner Phantasie sein könnte.
Klar, zuerst habe ich das alles für ein raffiniertes Spiel mit Illusionen gehalten. Ich habe mich sogar gefragt, ob die Uhr vielleicht eine unsichtbare Substanz abgibt, einen ganz feinen Zauberstaub, der einen die Umgebung wie durch den Filter eines Drogenrauschs wahrnehmen lässt. Dann aber müsste die Wirkung irgendwann nachlassen, und alles wäre wieder wie vorher. Stattdessen verfestigt sich das Bild dieser bizarren, unendlich fremden Wirklichkeit aber immer mehr.
Aber wie kann es sein, dass ich etwas als real wahrnehme, das nach den Gesetzen der Physik unter keinen Umständen real sein kann? Ist das Ganze am Ende doch nur ein Traum? Oder vielleicht ein Horrortrip? Bin ich in einen Strudel aus Visionen gestürzt, der mich in seinen labyrinthischen Windungen hin und her wirft und für alle Zeiten von meiner gewohnten Wirklichkeit abschneidet?
Wenn es nur nicht so grell wäre hier! Die gesamte Umgebung ist von gewaltigen Flutlichtstrahlern erhellt. Und wo immer ich hinschaue, überall trifft mein Blick auf ein Material, das die Lichtblitze in die Augen zurückwirft wie einen Pfeil, der auf eine Gummiwand trifft.
Alle Häuser sind um einen einzigen großen Platz herum angeordnet. Es sind wahre Glaspaläste, die so hoch aufragen, dass sie an ihrer Spitze aufeinander zuzustürzen scheinen. Der Platz selbst sieht aus wie ein Flickenteppich aus Glasbausteinen, die in den verschiedensten Farben leuchten.
Das Schlimmste ist, dass es keinerlei Möglichkeit gibt, sich dem Licht zu entziehen. Selbst in dem Zimmer, in dem ich untergebracht bin, dringt es bis in die hinterste Ecke. Es ist einfach überall, es lässt nicht den kleinsten Spalt aus. Lange schon habe ich meine Schattenlosigkeit nicht mehr so stark empfunden. Es ist, als würde ich nackt auf dem Spielfeld eines großen Fußballstadions stehen, mit Tausenden von Menschen um mich herum, die gelangweilt die einzige Attraktion anstarren, die sich ihnen bietet: mich.
In Wirklichkeit scheint freilich niemand Notiz von mir zu nehmen. Was mich beunruhigt, ist eher das Gefühl, nicht für sich sein zu können – ein Gefühl, das einen automatisch überkommt, wenn man sich in einem viel zu hellen Raum befindet und weder das Licht ausschalten kann noch eine Verdunklungsmöglichkeit hat. Dadurch, dass vor der Glasfront, die das Zimmer nach außen hin abschließt, riesenhafte Flutlichtstrahler im Dauerbetrieb leuchten, stellt sich einfach kein Eindruck von Privatheit und Zurückgezogenheit ein – zumal die Scheiben so durchsichtig sind, dass es scheint, als wären sie gar nicht da.
Wie gerne wäre ich jetzt wieder in der Klosterhöhle, in meiner Mönchszelle, die mir längst zu einem zweiten Zuhause geworden war! Aber leider kann ich ja nicht einfach aus der Zukunft bei George anrufen und nachfragen, ob die Luft rein ist. Außerdem steckt mir noch der letzte Sprung durch die Zeit in den Knochen.
Es war ein Gefühl völliger Schwerelosigkeit, gleichzeitig aber auch eines ungeheuren Drucks auf meinen Körper – so, als wäre ich von einer Windhose erfasst worden. Ein bisschen erinnerte es mich auch an den Kreislaufkollaps, den ich einmal erlitten hatte. Während ich in Wirklichkeit wohl bewusstlos wurde, hatte ich die Empfindung einer völligen Klarheit des Bewusstseins, eines gesteigerten Existenzgefühls, das mich mein Leben wie im Rausch überblicken ließ.
Als ich auf dem Platz in der anderen Welt wieder zu mir kam, habe ich zunächst nichts wahrgenommen außer dem grellen Licht, in das er getaucht war. Also habe ich angenommen, ich wäre bei der Anti-Kriegsaktion mit den Dunkelmännern verletzt worden und würde nun durch die Schleier der Betäubung in die Lampen irgendeines Operationssaals blinzeln. Erst dann habe ich mich allmählich wieder an die Notfalluhr erinnert – und daran, wie ich mit zitternden Fingern das schwerfällige Rad an ihrer Seite in Bewegung gesetzt hatte.
Ich könnte heulen, wenn ich an den herrlich klapprigen Holztisch denke, an dem ich gestern noch die Spuren meines Geistes nachgezeichnet habe! – Gestern? Kann ich in meiner Situation überhaupt von gestern, heute und morgen sprechen? Die Notfalluhr zeigt als Datum unmissverständlich Mittwoch, den 18. März 2521 an. Gestern war also Dienstag, der 17. März 2521. Aber dieses Gestern ist nicht mein Gestern, denn mein Gestern war in einer anderen Zeit und in einem anderen Leben, das mir allmählich ebenso unwirklich vorkommt wie die Welt, in die ich hier hineingeraten bin.
Ups! Eine kleine Bewegung, und schon passt sich dieses verdammte Möbelstück, auf dem ich sitze, meiner neuen Haltung an. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich getraut habe, darauf Platz zu nehmen. Beim ersten Hinsehen wirkt es eher wie ein Koffer, der aus allen Nähten platzt. Sobald man es aber berührt, gerät es in Bewegung und verändert unmerklich seine Form. Offenbar ist es mit einem Sensor ausgestattet, der die Körperwärme an einen Bewegungsmelder überträgt, durch den dann der Mechanismus des Gerätes in Gang gesetzt wird.
Anfangs habe ich gedacht, das Ding wäre eine Falle und würde mich – als unbefugten Eindringling – festhalten, sollte ich es wagen, mich darauf niederzulassen. Nachdem ich dies trotz allem gewagt hatte, fing es regelrecht zu wachsen an und umschloss mich von allen Seiten. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Teich aus Watte versinken. Dann wurde das Material am Rücken und unter den Armen allmählich fester, bis es sich schließlich ganz der Körperform und der gerade eingenommenen Haltung angepasst hatte.
Vom ergonomischen Standpunkt aus mag ein solches „intelligentes Möbelstück“ zwar nützlich sein, aber beim Schreiben ist es doch sehr hinderlich. Ich hoffe, dass ich meine Krakelschrift später noch entziffern kann!
Ich frage mich, ob auch die Menschen hier sich im Notfall noch handschriftlich ausdrücken könnten. Gibt es für sie überhaupt noch so etwas wie Schrift? – Ich habe da so meine Zweifel. Schließlich existiert in diesem Raum ja noch nicht einmal ein Laptop! Zwar gibt es einen riesigen Bildschirm, der fast die Hälfte der Wand rechts neben der Glasfront ausfüllt. Er ist vollständig in die Wand integriert, so dass er wie ein Teil davon wirkt. Nach einer Tastatur habe ich aber vergeblich gesucht. So kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie hier etwas schriftlich festgehalten werden soll.
Ich kann von Glück sagen, dass ich noch meinen Bleistift und das Rätselheft, mit dem ich mir als Security-Mitarbeiter vor den Überwachungsmonitoren die Zeit vertrieben hatte, bei mir habe. Natürlich – recht komfortabel ist es nicht gerade, die Seiten nach leeren Stellen abzusuchen, in die ich meine Anmerkungen kritzeln kann. Ich muss verrückt sein, dass ich das überhaupt versuche! Woher kommt nur diese Sucht nach dem geschriebenen Wort? Nun, die Menschen der Zukunft scheinen damit jedenfalls keine Probleme mehr zu haben.
Ob Lina, Schorsch und Yvonne wohl auch hier sind? Gesehen habe ich sie jedenfalls noch nicht. Allerdings war ich bei meiner Ankunft hier auch so benommen, dass ich alles nur wie in einem Film wahrgenommen habe, der im Zeitraffertempo vor dem inneren Auge abläuft. Insofern ist es durchaus denkbar, dass ich sie auf dem Platz einfach nicht bemerkt habe. Aber wie soll ich jetzt nach ihnen suchen?
English Version
Arrival in the Year 2521

After activating the emergency clock that is supposed to allow an escape from time, Theo ends up in a distant future.
Wednesday, March 18, 2521
So now I know: George’s emergency watch really works! One turn clockwise and the wheel on the side turns into a time catapult that hurls you into an unimaginably distant future. This is just too real, too detailed to be a mere figment of my imagination.
Sure, at first I thought it was all a clever play with illusions. I even wondered whether the clock might be emitting an invisible substance, a very fine magic dust that makes you perceive your surroundings as if through the filter of a drug high. But then the effect would have to wear off at some point, and everything would be the same again. Instead, however, the image of this bizarre, infinitely alien reality becomes more and more concrete.
But how can it be that I perceive something as real that, according to the laws of physics, cannot be real under any circumstances? Is the whole thing just a dream in the end? Or perhaps a horror trip? Have I fallen into a vortex of visions that tosses me back and forth in its labyrinthine twists and cuts me off from my usual reality for all time?
If only it wasn’t so glaring here! The whole area is lit up by huge floodlights. And wherever I look, my gaze meets a material that reflects the flashes of light back into my eyes like an arrow hitting a rubber wall.
All the houses are arranged around a single large square. They are veritable glass palaces, towering so high that they seem to collide at their tops. The square itself looks like a patchwork quilt of glass blocks glowing in all kinds of colours.
The worst thing is that there is no way to escape the light. Even in the room I’m accommodated in, it penetrates to the farthest corner. It’s just everywhere, it doesn’t leave out the smallest crack. For a long time I have not sensed my shadowlessness so strongly. It feels as if I were standing naked on the pitch of a big football stadium, with thousands of people around me, staring boredly at the only attraction on offer: me.
In reality, though, no one seems to take any notice of me. What worries me is rather the lack of privacy – a feeling that automatically comes over you when you are in a brightly lit place and can neither switch off the light nor have a way to darken the room. The fact that huge floodlights shine continuously in front of the glass front separating the room from the outside simply does not allow for an impression of privacy and retreat – especially since the panes are so transparent that it seems as if they were not there at all.
How I would love to be back in the monastery cave, in my monk’s cell, which had long since become a second home to me! But unfortunately I can’t just call George from the future and ask if the coast is clear. And besides, the last leap through time is still in my bones.
It was a feeling of complete weightlessness, but at the same time an enormous pressure on my body – as if I had been caught in a whirlwind. It also reminded me a bit of the circulatory collapse I had once suffered. While in reality I probably lost consciousness, I had the sensation of a complete clarity in my mind, a heightened sense of existence that made me overlook my life as if in a frenzy.
When I regained consciousness on the square in the other world, I initially perceived nothing except the glaring light it was bathed in. So I assumed I had been injured in the anti-war action with the Disciples of Darkness and was now blinking through the veils of anaesthesia into the lamps of some operating room. Only gradually did I remember the emergency watch again – and how I had set the ponderous wheel at its side in motion with trembling fingers.
I could cry when I think of the rickety wooden table where I tried to capture my thoughts in writing just yesterday! – Yesterday? Can I actually speak of yesterday, today and tomorrow in my situation? The emergency watch shows as date unmistakably Wednesday, March 18, 2521. Yesterday was therefore Tuesday, March 17, 2521. But this yesterday is not my yesterday, because my yesterday was in another time and in another life, which gradually seems as unreal to me as the world into which I got here.
Oops! One little movement, and this damned piece of furniture I’m sitting on adjusts to my new posture. It took me a while before I dared to take a seat on it. At first glance, it looks more like a suitcase bursting at the seams. But as soon as you touch it, it starts moving and imperceptibly changes shape. Apparently, it is equipped with a sensor that transmits the body heat to a motion detector, which then sets the mechanism of the device in motion.
At first I thought the thing was a trap and would detain me – as an unauthorized intruder – if I should dare to sit down on it. After I ventured to do so in spite of everything, it suddenly started to grow and enclosed me from all sides. It felt like I was sinking into a pond of cotton wool. Then the material gradually became firmer at the back and under the arms until it finally completely adapted to the shape of my body and the posture I had just assumed.
From an ergonomic point of view, such a „smart piece of furniture“ may be useful, but when writing, it is quite a hindrance. I hope that I will be able to decipher my scribbled writing later!
I wonder whether people here could also still express themselves by handwriting in an emergency. Is there even such a thing as writing for them? – I have my doubts about that. After all, I couldn’t even find a laptop in this room! Admittedly, there is a huge screen that fills almost half of the wall to the right of the glass front. It is completely integrated into the wall, so that it seems to be part of it. But I searched in vain for a keyboard. So I just can’t imagine how anything could be written down here.
Fortunately, I still have my pencil and the puzzle booklet I used for distraction in front of the surveillance monitors when working as a security guard. Of course, it’s not exactly comfortable to scan the pages for empty spaces where I can scribble my notes. I must be crazy to even try! Where does this addiction to the written word actually come from? Well, the people of the future don’t seem to have any problems with this kind of quirk anymore.
I wonder whether Lina, Shorsh and Yvonne are here too. In any case, I haven’t seen them yet. However, when I arrived here I was so dazed that I only perceived everything as if in a film running in fast motion before my inner eye. So it’s quite possible that I simply didn’t notice them in the square. But how am I supposed to look for them now?
Bilder / Images) Pete Linforth (TheDigitalArtist): Scheinwerfer / Spotlight (Pixabay; Ausschnitt / detail); : Geschwister Brontée: Glasstown, Angria (1829
Elias M.
Sehr schöne Reihe. Toll, dass es auch eine Audio-Version gibt. Hat mir gut gefallen.
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Gretchen
Thank you. Interesting.
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