Der Tod ist eine Pilgerin / Death is a Woman on Pilgrimage

Ilona Lays dichterischer Textzyklus Gesichter des Todes / Ilona Lay’s Poetic Text Cycle Faces of Death

Heute der zweite Text aus Ilona Lays Zyklus Gesichter des Todes. Dieses Mal ist der Tod eine Pilgerin, in der sich Lebens- und Todesreise miteinander verbinden.

Der Tod ist eine Pilgerin, die einen steilen Berg erklimmt. Immer höher steigt sie empor. Bald wird sie die Wolken erreichen, die das mächtige Massiv durchstößt.

Sie atmet schwer, mühsam schleppt sie sich die steinigen Wege und die schroffen Felswände hinauf. Nur kurz hält sie zwischendurch inne, um zu verschnaufen – sie spürt, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, um ihr Ziel zu erreichen. So viele hitzeflirrende Ebenen hat sie schon durchschritten, sich durch so viele vom Licht verlassene Schluchten gekämpft – da wird auch diese letzte Hürde ihr den Weg nicht versperren, auch wenn sie noch so steil ist.

Du aber, der du ihr vom Fuß des Berges aus zuschaust, nimmst sie schon bald nur noch als dünnen Strich wahr, als unsichtbare Schrift, die langsam, aber unaufhaltsam den Berg hinaufwächst.

Nicht lange, und du hast sie endgültig aus den Augen verloren. Nur ihr schweres Atmen hallt noch in dir nach, dieses immer neue Sich-Aufbäumen eines unbeirrbaren Willens, dieses leidenschaftliche Sich-Verschwistern mit der Welt, so unwirtlich sie auch sein mag, das immer neue Werfen eines Ankers in stürmischer See, das Sich-Festklammern der Seele an den Klippen, an denen sie zu zerschellen droht.

Selbst dann, als auch die letzte Spur der Pilgerin sich verflüchtigt, der Berg sie vollständig in sich aufgenommen hat, malt dein Blick ihr Bild noch in das schwerelos wogende Wolkengebirge. Du stellst dir vor, dass sie mit ihrer unbeugsamen Kraft die Wolken durchschritten, dass sie den Gipfel des Berges erreicht und dort ihre Flügel ausgebreitet hat.

Wenn du deine Augen tief genug im nächtlichen Himmel vergräbst, meinst du dort sogar den neuen Sternenvogel zu erahnen, in den die Pilgerin sich verwandelt hat. Mit einem heimlichen, nur dir erkennbaren Leuchten schimmert er dir aus den allumfassenden Fittichen des Firmaments entgegen.

English Version

Death is a Woman on Pilgrimage

Today the second text from the cycle Faces of Death by Ilona Lay. This time, death is a woman on pilgrimage in whom life’s journey and death’s journey are interwoven.

Death is a woman who climbs a steep mountain on pilgrimage. Higher and higher she ascends. Soon she will reach the clouds that pierce the mighty massif.

She breathes heavily, laboriously dragging herself up the stony paths and the craggy rock faces. Only briefly does she pause in between to catch her breath – she senses that she doesn’t have much time left to reach her destination. So many heat-shimmering plains she has already crossed, through so many gorges abandoned by the light she has fought her way – so this last hurdle will not block her path either, no matter how steep it is.

But you, watching her from the foot of the mountain, soon perceive her only as a thin line, as an invisible writing that slowly but unstoppably grows up the mountain.

It is not long before you have completely lost sight of her. Only her heavy breathing still echoes in you, this ever new rearing up of an unswerving will, this passionate uniting with the world, however inhospitable it may be, the ever new dropping of an anchor in a stormy sea, the soul’s clinging to the cliffs on which it threatens to be shattered.

Even when the last trace of the pilgrim has disappeared and the mountain has completely absorbed her, your gaze still paints her image in the weightlessly billowing mountains of clouds. You imagine that she has passed through the clouds with her indomitable strength, that she has reached the summit of the mountain and spread her wings there.

If you bury your eyes deep enough in the nocturnal sky, you even think you can glimpse the new starbird into which the pilgrim has transformed herself. With a secret glow, recognisable only to you, it shimmers towards you from the all-encompassing wings of the firmament.

Bilder / Images: Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Gebirgslandschaft mit Regenbogen /: Mountain landscape with rainbow (1809/10); Essen, Museum Folkwang (Wikimedia commons). Farblich verändert; Arnošt Hofbauer (tschechischer Maler, 1869 – 1944): Pilger / Pilgrim (1905); Wikimedia commons. gepixelt

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