Frühstück im Kreml / Breakfast in the Kremlin

Mord im Reichstag, Kapitel 14 / Murder in the German Parliament, Chapter 14

Überzeugt davon, dass Russland in den Mord an Richard Groß verwickelt ist, ruft Lidia Afanasjewna kurzerhand ihren Freund Wladimir im Kreml an. Dieser schickt ihr kurzerhand seine Präsidentenmaschine vorbei, um sie zu einem gemeinsamen Frühstück abholen zu lassen.

English Version

Spur nach Russland

Durch das überraschende Ende des Observationsabenteuers war Lidia Afanasjewna plötzlich wieder hellwach. Zu Hause angekommen, setzte sie sich umgehend vor den Computer und durchforstete noch einmal gezielt Umfeld und Arbeitsschwerpunkte von Richard Groß.
So fand sie heraus, dass der ermordete Politiker nicht nur Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestags gewesen war. Vielmehr hatte er sich in dieser Funktion auch massiv für Waffenlieferungen an die Ukraine eingesetzt. Dass Russland etwas mit seinem Tod zu tun haben könnte, war demnach keineswegs aus der Luft gegriffen.
Hinzu kam, dass auch die Indizien auf eine russische Einmischung hindeuteten. Giftmorde – zumal mit Substanzen, die sich im Körper von Getöteten kaum nachweisen ließen – waren, wie sie sehr wohl wusste, eine Spezialität des russischen Geheimdienstes. Und auch die Art, wie hier über ein eng gestricktes Netz von Strohmännern die Befehlsketten verschleiert wurden, so dass am Ende niemand die wahren Auftraggeber benennen konnte, kam ihr nur allzu bekannt vor.
Lutz gegenüber hätte sie diese Überlegungen allerdings gar nicht erst zu erwähnen brauchen. Für ihn war Russland das gelobte Land, die Heimat der wahren Menschlichkeit, der Ort des Guten.
Sie selbst hatte ja schon oft von dieser Idealisierung alles Russischen durch Lutz profitiert – nicht zuletzt, als er in seiner Eigenschaft als Kaufhausdetektiv über Julias Langfingerattacke hinweggesehen hatte. Nun aber, da in Russland einmal nicht die russische Seele, sondern der Auftraggeber für ein Mordkomplott ausfindig gemacht werden sollte, war seine Russlandeuphorie nicht eben hilfreich.
So beschloss Lidia Afanasjewna, die Angelegenheit ab sofort selbst in die Hand zu nehmen. Gleich am nächsten Morgen wollte sie sich einen Plan zurechtlegen. Wie genau der aussehen sollte, war ihr zwar noch nicht klar. Aber sie war überzeugt, dass ihr, wenn sie erst einmal eine Nacht darüber geschlafen hätte, schon etwas einfallen würde.
Leider musste sie dann jedoch feststellen, dass sie den richtigen Zeitpunkt zum Schlafengehen verpasst hatte. Ihr toter Punkt war überwunden. Als sie endlich im Bett lag, wälzte sie sich nur unruhig hin und her.
In einem endlosen Reigen zogen die Gesichter der Akteure in diesem Drama mit ungewissem Ausgang an ihrem inneren Auge vorüber. Sie sah in die zuckenden Augen der von Krämpfen geschüttelten Leona, ihre Hände waren eng verschränkt mit denen von Lutz, der von ihrem Anfall angesteckt wurde wie bei einem elektrischen Schlag. Julia fingerte kokett an einem adretten Herrn herum, dessen lüsternes Grinsen unvermittelt in das erstarrte Staunen von Richard Groß überging, während Igor in seinen Hausschlappen kopfschüttelnd auf den Balkon entschwand. Ein Mann, den sie nur von hinten sah, lief vor ihr weg, sie folgte ihm, tiefer und tiefer hinein in das Gassengewirr einer Altstadt, in der sie noch nie gewesen war.

Telefonat mit Wolodja

Lidia Afanasjewna setzte sich im Bett auf, tastete nach dem Smartphone, das sie auf dem Nachttisch abgelegt hatte, und drückte gedankenverloren darauf herum. Plötzlich zeigte das Display ihr die Nummer eines „Wolodja“ an – es war die Nummer des Privathandys von Wladimir Putin!
Lidia Afanasjewna schnippte mit den Fingern. Natürlich – das war es! Dass ihr das nicht gleich eingefallen war! Wie hatte sie nur vergessen können, dass Wolodja ein alter Freund der Familie war?
Zwar war es in Moskau bereits zwei Stunden später, doch war Wolodja schon immer ein Nachtmensch gewesen. Und da man sich in Russland unter Freunden auch spätabends noch anrufen konnte, drückte sie spontan die Wähltaste.
Wolodja nahm das Gespräch sofort an: „Allo?“
„Hier ist Lidia“, meldete sie sich, „Lidia Afanasjewna.“
Wolodja schien ehrlich erfreut zu sein. „Ah – Lidotschka!“ rief er aus. „Das ist aber mal eine angenehme Überraschung. Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“
Lidia Afanasjewna holte tief Luft. „Ich muss mit dir reden, Wolodja.“
„Das merke ich“, scherzte Wolodja. „Und was wird das Thema unserer Unterredung sein?“
„Der Weltfrieden“, erklärte Lidia Afanasjewna knapp.
„So-so – der Weltfrieden …“ Wolodja unterdrückte ein Gähnen. „Aber ist das nicht ein etwas zu komplexes Thema für ein Telefonat – noch dazu zu so später Stunde?“
„Da hast du natürlich nicht Unrecht“, räumte Lidia Afanasjewna ein. „Wenn du möchtest, können wir uns auch treffen.“
Sofort war Wolodja wieder hellwach. „Eine gute Idee! Soll ich zu dir kommen, oder kommst du zu mir?“
„Ich kann auch nach Moskau fliegen“, bot Lidia Afanasjewna großzügig an.
„Dann schicke ich dir aber meine Präsidentenmaschine, um dich abholen zu lassen“, entschied Wolodja.
„Danke, aber …“
„Keine Widerrede!“ insistierte Wolodja. „Das bin ich unserer Freundschaft schuldig.“
Sie verabredeten sich kurzerhand für den nächsten Morgen zum Frühstück. Lidia Afanasjewna zog sich um, packte rasch das Nötigste ein und fuhr dann zum Flughafen.

Nächtlicher Trip nach Moskau

Im Morgengrauen landete Wolodjas Dienstjet mit ihr an Bord im Moskauer Schneetreiben. Die Straßen in die Innenstadt waren wie immer total verstopft, aber Wolodja hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Chauffeur samt schwarz glänzender Limousine zum Flughafen zu schicken. So rauschte sie mit präsidialem Segen am morgendlichen Stau vorbei und traf pünktlich zum Frühstück im Kreml ein.
Als sie Wolodjas Privatgemächer betrat, absolvierte dieser gerade seine morgendlichen Judo-Übungen. Schwungvoll warf er einen Sparringspartner zu Boden, der entfernt an den amerikanischen Präsidenten erinnerte.
„Ah – Lidotschka!“ rief er aus, als er die Besucherin erblickte. „Da bist du ja schon – pünktlich wie eine Deutsche!“ Eine leichte Röte überzog sein Gesicht – ob wegen der körperlichen Anstrengung oder wegen seines nackten Oberkörpers, war schwer zu entscheiden.
„Kunststück!“ entgegnete Lidia Afanasjewna. „Dein Fuhrpark hat ja auch immer Vorfahrt.“ Auch sie spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten, als sie Wolodja so vor sich sah. Zudem fiel ihr erst jetzt auf, dass sie in der Eile ihre Kleider mit denen Leonas vertauscht hatte und nun deren Popart-Leggings und Glitzer-Shirt trug. Hoffentlich verstand Wolodja das nicht falsch!
Wolodja ließ von seinem Sparringspartner ab und wischte sich mit einem Handtuch über Oberkörper und Gesicht. „Gleich können wir den Weltfrieden verfrühstücken“, witzelte er. „Ich gehe mich nur noch schnell frisch machen.“
Zu Ehren Lidia Afanasjewnas hatte Wolodja extra in dem Prunksaal eindecken lassen, in dem sonst seine Krönungsfeierlichkeiten stattfanden. Das war natürlich sehr aufmerksam von ihm, und sie fühlte sich auch durchaus geschmeichelt deswegen. Allerdings wirkte sich die Größe des Saales doch sehr hinderlich auf die Unterhaltung aus.
Die Rittertafel, an deren gegenüberliegenden Enden sie saßen, war so lang, dass man sein Gegenüber mehr erahnen als erkennen konnte. Um das Wort an den anderen zu richten, musste man in ein neben dem Teller stehendes Babyphon sprechen. Und wenn man seinem Gesprächspartner ins Gesicht blicken wollte, musste man dafür eine Art Lorgnon benutzen, das mit einer Fernglasfunktion ausgestattet war.
Hinzu kam, dass Lidia Afanasjewna das sehr üppige russische Frühstück gar nicht mehr gewohnt war – zumal die Üppigkeit in einem Präsidentenpalast natürlich noch etwas ausgeprägter war. Es gab „kotljety“ – die von ihr ohnehin nicht sonderlich geschätzten Fleischklößchen –, dazu Kartoffeln, Rührei mit Speck und sogar „pjelmjeni“ – jene Maultaschen, die ihre Großmutter früher an Feiertagen immer selbst für die ganze Familie angefertigt hatte.
Daneben war aber auch für die gewöhnlichen Frühstücksfreuden gesorgt. Man konnte zwischen verschiedenen Sorten von „kascha“ wählen – Lidia Afanasjewna entschied sich für Buchweizengrütze –, dazu stand eine ganze Batterie von Gläsern mit „warenje“ zur Auswahl. Eine dieser Konfitüren duftete so verführerisch nach Himbeeren, dass Lidia Afanasjewna sich gleich einen ganzen Esslöffel voll in ihre Grütze rührte.

Debatte über den Weltfrieden

Das Babyphon neben ihr surrte. „Die ist fein, nicht?“ meldete sich Wolodja. „Habe ich alles selbst gepflückt – und meine Babuschka hat’s eingekocht!“
Babuschka? wunderte sich Lidia Afanasjewna. Aber Wolodja hatte doch gar keine Großeltern mehr! Sie griff nach dem Lorgnon und sah zu ihrem Gastgeber herüber. Feixend spießte er eines der Fleischklößchen auf. „Ha-ha“, antwortete sie in das Babyphon. „Wer’s glaubt …“
„Von der Datscha sind die Früchte aber!“ verteidigte sich Wolodja. „Und selbst gepflückt sind sie auch – nur leider nicht von mir, wie ich zugeben muss.“
Fauchend lachte es aus dem Babyphon. Dann lenkte Wolodja zum Thema über: „Aber wollten wir uns nicht über den Weltfrieden austauschen?“
Lidia Afanasjewna beschloss, gar nicht erst lange um den heißen Brei herumzureden. „Es geht um die Ukraine, Wolodja“, sagte sie geradeheraus. „Schau mal: Dein Reich ist doch schon so groß – ich bin überzeugt, dass du noch gar nicht überall warst. Wozu brauchst du also noch die Krim, den Donbass oder gleich die ganze Ukraine? Damit halst du dir doch nur unnötige Scherereien auf – und teuer ist es auch noch!“
Aus dem Babyphon drang ein unheilvolles Rauschen an ihr Ohr. Beunruhigt hielt sie sich das Lorgnon vor die Augen: Wolodjas Miene hatte sich verfinstert. Eine tiefe Furche hatte sich zwischen seinen Augenbrauen aufgetan.
„Aber Lidotschka! Was ist nur mit dir los?“ redete er schließlich auf sie ein. „Hast du etwa in Deutschland dein russisches Herz verloren? Wir können doch unsere Landsleute nicht im Stich lassen, wenn die Knute fremder Herrscher sie niederdrückt!“
Lidia Afanasjewna hätte sich fast an ihrer Kascha verschluckt. „Welche Knute denn?“ fragte sie. „Bevor du da mit deinen grünen Männchen und Todesschwadronen einmarschiert bist, gab es doch gar keine Probleme! Außerdem sind unsere Landsleute mittlerweile über die ganze Welt verstreut – da müsstest du am Ende ja die ganze Welt erobern!“
„Keine schlechte Idee!“ schmatzte es aus dem Babyphon.
Lidia Afanasjewna seufzte. „Jetzt mal im Ernst, Wolodja: Meinst du wirklich, dass du deine Leute im Ausland schützen kannst, indem du deine Nachbarn überfällst?“
Das Babyphon vibrierte – Wolodjas Stimme wurde lauter: „Was heißt denn hier ‚überfallen‘? Ich unterstütze Volksbefreiungsbewegungen – das hat doch mit ‚überfallen‘ gar nichts zu tun!“
Aber Lidia Afanasjewna ließ nicht locker. „Und was ist mit den Menschen, deren Städte du in Schutt und Asche legen lässt? Meinst du etwa, die fühlen sich von deinen Volksbefreiungsbewegungen beglückt?“
Das Babyphon schnaubte – Wolodja schätzte es nicht, wenn man ihm widersprach. „Ohne dir zu nahe treten zu wollen, Lidia – aber die Weltpolitik solltest du doch besser den Weltpolitikern überlassen. Ich mische mich ja auch nicht in deine Küchenarbeit ein.“
Macho! dachte Lidia Afanasjewna. Laut aber mahnte sie: „Sei doch wenigstens ehrlich zu dir, Wowa! Du willst dich ja nur als neuer Zar verewigen, als Neubegründer des russischen Imperiums. Die Freiheit ist dir doch ganz egal!“
„Und selbst wenn – was ist denn so schlecht am russischen Imperium?“ tönte es aus dem Babyphon. „Je größer dieses Imperium ist, desto weniger Grenzen gibt es doch – und desto mehr Freiräume haben folglich die Menschen, die darin leben.“
Lidia Afanasjewna erhob nun auch ein wenig die Stimme: „Und was ist mit der geistigen Freiheit?“
„Pah – geistige Freiheit!“ echote das Babyphon. „Das ist doch nur so ein amerikanischer Kampfbegriff. In Wahrheit sind die meisten Menschen dankbar, wenn vor ihrem armen kleinen Geist ein Führer auftaucht, der sie von der Last der Freiheit befreit. Zu viel Denken führt zu Zweifeln, und Zweifel sind wie Zahnweh – wer braucht das schon? Wenn du aber die Freiheit meinst, die eigene Sprache und Kultur zu pflegen – dafür ist ein starker Staat doch der beste Garant! Oder meinst du, man könnte seine Kultur pflegen, wenn man sich ständig von äußeren Feinden bedroht fühlt? Oder wenn man nicht genug zu essen hat?“
„Du vergisst, dass jedes Volk auch eine geistige Individualität verkörpert“, widersprach Lidia Afanasjewna. „Und die kann es nur ausleben, wenn es über sein Schicksal selbst bestimmen kann. Ohne nationale Selbstbestimmung sind folglich auch der kulturellen Selbstbestimmung enge Grenzen gesetzt.“
„Individualität!“ echauffierte sich Wolodja. „Wenn ich das schon höre! Diese westliche Propaganda hängt mir langsam zum Hals heraus. Natürlich sind wir alle Individuen, jeder ist anders als der andere. Na und? Soll deshalb jeder seinen eigenen Staat gründen? Dann haben wir morgen die Anarchie, und übermorgen sitzen wir alle wieder als grunzende Affen auf den Bäumen.“
Provozierend fragte Lidia Afanasjewna: „Und um die Zivilisation – wie du sie verstehst – zu schützen, gehst du also buchstäblich auch über Leichen?“
Wolodja blieb erstaunlich ruhig. „Ja – wenn es sein muss …“, bekannte er kühl, um dann mit weicherer Stimmer hinzuzufügen: „Versteh doch, Lidia: Heute ist das eine begrenzte militärische Operation, im Weltmaßstab sozusagen ein minimal-invasiver Eingriff. Führen wir diesen Eingriff aber nicht durch, ist morgen vielleicht der ganze Organismus des Russischen Reichs von dem Krebsgeschwür der Zersetzung befallen. Zersetzung aber ist der Dünger des Terrors – und dann wird aus dem kleinen Eingriff eine ganz große Operation, die die ganze Welt an den Rand des Untergangs bringt.“

Wolodjas Tränen

Was du „Zersetzung“ nennst, ist für mich geistige und kulturelle Vielfalt, dachte Lidia Afanasjewna. Und der Dünger des Terrors ist für mich das, was du unternimmst, um die angebliche „Zersetzung“ zu unterdrücken. Sie zog es allerdings vor, das Gespräch nicht fortzusetzen. Ihre Positionen lagen einfach zu weit auseinander.
Außerdem war sie ja nicht eigens nach Moskau gereist, um eine solche Grundsatzdiskussion mit Wolodja zu führen. Das Gespräch lenkte doch nur von dem eigentlichen Ziel ihrer Reise ab – herauszufinden, ob Wolodja oder seine Wasserträger etwas mit den mysteriösen Geschehnissen, in die sie hineingeraten war, zu tun hatten.
Aber welche Möglichkeiten hatte sie eigentlich, diesem Ziel näher zu kommen? Sollte sie ihren Gastgeber etwa direkt auf die Sache ansprechen? In der Art von: „Jetzt mal Hand auf’s Herz, Wowa – hast du den Auftrag für den Mord an Richard Groß erteilt?“
Nein, das hätte sie sicher nicht weitergebracht. Auf so vertrautem Fuß stand sie nun auch wieder nicht mit Wolodja. Wahrscheinlich hätte er einfach sein sphinxhaftes Lächeln aufgesetzt und die Frage an sich abprallen lassen. Vielleicht hätte er ihr aber auch – selbst wenn er gewollt hätte – nichts zu der Angelegenheit sagen können. Denn würde jemand, für den ein paar Leichen vor den Toren seines Palastes nur lästige Stolpersteine auf dem Weg zur Weltherrschaft waren, nicht heute schon vergessen haben, über welchen toten Körper sein allmächtiger Fuß gestern hinweggeschritten war?
Einer spontanen Eingebung folgend, holte Lidia Afanasjewna ihr Smartphone aus der Tasche. Sie suchte nach etwas, von dem sie selbst noch nicht genau wusste, was es war. Etwas wie ein Foto des toten Richard Groß. Ein Foto, das es nicht gab, auch weil sie selbst nicht auf die Idee gekommen war, eines zu schießen.
Dann aber stieß sie auf ein Bild, das sie unmittelbar ansprach. Es zeigte zerbombte Häuser in einer ukrainischen Stadt, davor die Leiche eines etwa fünfjährigen Jungen. Sie schickte Wolodja das Foto auf sein Smartphone, versehen mit dem Kommentar: „Ist es das wert?“
Sie hörte den Klingelton von Wolodjas Handy, sie sah, wie er danach griff und auf das Display starrte. Anschließend herrschte sekundenlang Schweigen.
Einige Augenblicke später drang eine Art Schnaufen aus dem Babyphon. Es klang, als würde jemand ruckartig ein- und ausatmen. Beunruhigt führte Lidia Afanasjewna das Lorgnon vor ihre Augen. Wolodja hatte seinen Kopf in den Händen vergraben, sein Oberkörper bebte. Rasch erhob sie sich von ihrem Platz und begab sich ans andere Ende der Tafel.
Wolodja schluchzte. „Da bemüht man sich nun tagein, tagaus, die Welt zu einem besseren Ort zu machen – und dann das!“ Er holte tief Luft. „Ich kann dir versichern, liebe Lidia: Diejenigen, die für dieses Verbrechen verantwortlich sind, werden ihre Taten bitter bereuen! Das waren bestimmt die ukrainischen Faschisten. Denen werde ich den Arsch vom Klo wegschießen, das verspreche ich dir!“
Er sah sie aus verheulten Augen an: „Entschuldige – aber wenn ich so was sehe …“
Lidia Afanasjewna nahm ihn in den Arm und streichelte über sein schütteres Haar. „Und wenn das doch deine eigenen Leute waren?“ fragte sie vorsichtig.
„Dann werde ich die Verantwortlichen genauso unnachgiebig zur Rechenschaft ziehen“, schniefte Wolodja. „So was macht doch den ganzen schönen Weltfrieden kaputt – stimmt’s?“
Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht. „Apropos Weltfrieden – ich muss mich jetzt doch mal an die Arbeit machen. Ehrlich gesagt: Unser Gespräch hat mich ziemlich mitgenommen. Wenn’s dir recht ist, würde ich es lieber heute Abend fortsetzen, bei einem Gläschen Wodka auf meiner Datscha. Du bleibst doch über Nacht?“
Das hatte Lidia Afanasjewna eigentlich nicht vorgehabt. Weil es aber nun einmal um den Weltfrieden ging, willigte sie doch ein, noch einen Tag dranzuhängen. Wolodja empfahl ihr ein paar aktuelle Ausstellungen, aber sie war plötzlich todmüde – schließlich hatte sie ja die ganze Nacht nicht geschlafen. Also vereinbarten sie, dass sie schon einmal auf die Datscha hinausfahren und dort auf Wolodja warten würde.
Während sie im Labyrinth des Palastes nach einer Toilette suchte, ließ Wolodja seinen Chauffeur rufen, um die nötigen Anweisungen zu erteilen. Als Lidia Afanasjewna zurückkam, redete er noch immer mit ihm, verstummte aber, als er sie kommen sah. Ob er sie wohl mit etwas überraschen wollte?


English Version

Breakfast in the Kremlin

Convinced that Russia is involved in the murder of Richard Gross, Lidia Afanasyevna spontaneously calls her friend Vladimir in the Kremlin. Without further ado, he sends his presidential plane to pick her up for breakfast.

Russian Involvement in the Murder?

After the surprising end of the observation adventure, Lidia Afanasyevna was suddenly wide awake again. When she got home, she immediately sat down in front of the computer and once again searched through the murdered politician’s environment and main areas of work.
So she found out that Richard Gross had not only been a member of the Defence Committee of the Parliament. In this function, he had also been a strong supporter of arms deliveries to Ukraine. The assumption that Russia might have something to do with his death was therefore by no means made up out of thin air.
In addition, the circumstantial evidence also pointed to Russian interference. Poison murders – especially with substances that could hardly be detected in the bodies of those killed – were, as she knew very well, a specialty of the Russian secret service. And the way in which chains of command were concealed through a tightly knit network of straw men, so that in the end no one could name the real instigators, seemed also quite familiar to her.
Mentioning these considerations to Lutz, however, would have been completely pointless. For him, Russia was the promised land, the home of true humanity.
In fact, she herself had often benefited from Lutz’s idealisation of everything Russian – not least when he, in his function as a department store detective, had overlooked Julia’s little pickpocket attack. But now that it was not the Russian soul that was to be tracked down in Russia, but the instigator of a murder plot, his euphoria about Russia was not exactly helpful.
So Lidia Afanasyevna decided to take matters into her own hands from then on. The very next morning she wanted to work out a plan. She was not yet sure what it would look like. But she was convinced that once she had slept on it, she would come up with something.
Unfortunately, she had missed the right time to sleep. When she finally went to bed, she only tossed and turned restlessly.
In an endless round dance, the faces of the actors in this drama with an uncertain outcome passed by her inner eye. She looked into the twitching eyes of the convulsively shaken Leona, her hands were tightly clasped with those of Lutz, who was infected by her seizure as if by an electric shock. Julia was coquettishly fingering a dapper gentleman whose lascivious grin abruptly merged with the frozen amazement of Richard Gross, while Igor shuffled off to the balcony, shaking his head in disapproval. A man she only saw from behind ran away from her, she followed him, deeper and deeper into the meandering alleys of an old town she had never been to before.

Phone Call with Volodya

Lidia Afanasyevna sat up in bed, reached for the smartphone she had placed on the bedside table and fumbled with it, lost in thought. Suddenly the display showed her the number of a certain „Volodya“ – it was the number of Vladimir Putin’s private mobile phone!
Lidia Afanasyevna snapped her fingers. Of course – that was it! Why hadn’t she thought of that right away! How could she forget that Volodya was an old friend of the family?
It was already two hours later in Moscow, but Volodya had always been a night owl. And since friends in Russia could still call each other late at night, she spontaneously pressed the dial button.
Volodya took the call immediately: „Allo?“
„This is Lidia,“ she answered, „Lidia Afanasyevna.“
Volodya seemed sincerely pleased. „Ah – Lidochka!“ he exclaimed. „Now that’s a pleasant surprise. To what do I owe the honour of your call?“
Lidia Afanasyevna took a deep breath. „I must talk to you, Volodya.“
„I’ve already noticed,“ Volodya quipped. „And what will be the subject of our conversation?“
„World peace,“ Lidia Afanasyevna stated tersely.
„Well, well – world peace …“ Volodya stifled a yawn. „But isn’t that rather too complex a subject for a telephone conversation – even more so at such a late hour?“
„You’re not wrong about that, of course,“ Lidia Afanasyevna conceded. „If you want, we can arrange a meeting as well.“
Immediately Volodya was wide awake again. „A good idea! Shall I come to you, or will you come to me?“
„I can come to Moscow. After all, you are busier than I am,“ Lidia Afanasyevna generously offered.
„All right. But then I’ll send my presidential plane to pick you up,“ Volodya decided.
„Thank you, but …“
„Don’t argue!“ insisted Volodya. „I feel I owe it to our friendship.“
Without further ado, they decided to meet for breakfast the next morning. Lidia Afanasyevna changed her clothes, quickly packed the essentials and then drove to the airport.

Night Flight to Moscow

At dawn, Volodya’s presidential jet landed with her on board in the Moscow snow flurry. The roads to the city center were, as usual, totally clogged, but Volodya had sent his chauffeur to the airport with a shiny black limousine. So she whizzed past the morning traffic jam with presidential blessing and arrived at the Kremlin in time for breakfast.
When she entered Volodya’s private chambers, he was just finishing his morning judo exercises. With great verve, he threw a sparring partner to the floor who looked vaguely like the American president.
„Ah – Lidochka!“ he exclaimed when he caught sight of the visitor. „There you are already – punctual as a German!“ A slight blush came over his face – whether because of the physical exertion or because of his naked upper body was hard to decide.
„No wonder!“ replied Lidia Afanasyevna. „Your car pool always has the right of way.“ She too felt her cheeks heat up when she saw Volodya like that in front of her. Moreover, she only now noticed that in her hurry she had confused her clothes with Leona’s and was now wearing the latter’s pop art leggings and glitter shirt. Hopefully Volodya didn’t misunderstand!
Volodya let go of his sparring partner and wiped his upper body and face with a towel. „A few more minutes and we can have world peace for breakfast,“ he joked. „I’m just going to freshen up.“
In honour of Lidia Afanasyevna, Volodya had ordered to lay the table in the ceremonial hall where usually his coronation festivities were held. Of course, that was very attentive of him, and she felt quite flattered about it. Nevertheless, the size of the hall was not quite conducive to conversation.
The knights‘ table, at whose opposite ends they sat, was so long that one could more guess at one’s counterpart than recognise him. To address the other person, you had to speak into a kind of baby phone standing next to the plate. And if you wanted to look your conversation partner in the face, you had to use a lorgnette equipped with a binocular function.
Furthermore, Lidia Afanasyevna was no longer used to the very sumptuous Russian breakfast – especially as the opulence was of course even more pronounced in a presidential palace. The morning menu included „kotlyety“ – the meatballs she did not particularly appreciate anyway – along with potatoes, scrambled eggs with bacon and even „pyelmyeni“ – those Russian ravioli that her grandmother used to make herself for the whole family on holidays.
Apart from that, the usual breakfast treats were also at hand. Lidia Afanasyevna could choose between different kinds of „kasha“ – she opted for buckwheat porridge –, and there was a whole range of jars with all kinds of „varenye“. One of these jams smelled so seductively of raspberries that Lidia Afanasyevna immediately stirred a whole tablespoonful into her porridge.

Debate on World Peace

The baby phone beside her buzzed. „Delicious jam, isn’t it?“ asked Volodya. „I picked all the fruit myself – and my babushka boiled it down!“
Babushka? wondered Lidia Afanasyevna. If she remembered correctly, Volodya didn’t have any grandparents left! She reached for the lorgnette and looked over at her host. With a smile, he speared one of the meatballs.
„Very funny,“ she replied into the baby phone. „Whoever believes this also believes in Father Christmas.“
„But the fruits are from the dacha – that was no lie!“ insisted Volodya, laughing. „And they were in fact picked by hand – but unfortunately not by me, I have to admit.“
The laughter made a hissing sound in the baby phone. Then Volodya turned to the subject: „But didn’t we want to talk about world peace?“
Lidia Afanasyevna decided not to beat about the bush. „It’s about Ukraine, Volodya,“ she said straightforwardly. „Look: your empire is already so big – I’m convinced you haven’t been to all places yet. So why do you need Crimea, the Donbass or even the whole of Ukraine? You’re just causing yourself unnecessary trouble with that expansion – not to mention the costs you’re imposing on your country!“
An ominous roaring sound reached her ears from the baby phone. Worried, she held the lorgnette in front of her eyes: Volodya’s expression had darkened. A deep furrow had opened up between his eyebrows.
„Lidochka!“ he finally exclaimed. „What’s the matter with you? Have you lost your Russian heart in Germany? We just can’t abandon our compatriots when they’re being mistreated by foreign rulers!“
Lidia Afanasyevna almost choked on her kasha. „Who’s mistreating whom here?“ she asked back. „Before you marched in there with your little green men and your death squads, there were no problems at all! Besides, our compatriots are now scattered all over the world – so you’d have to conquer the whole world in the end!“
„Not a bad idea!“ it smacked from the baby phone.
Lidia Afanasyevna sighed. „Seriously, Volodya, do you really think you can protect your people abroad by assaulting your neighbours?“
The baby phone vibrated – Volodya’s voice got louder: „What do you mean by ‚assaulting‘? I support people’s liberation movements – that has nothing to do with ‚assaulting‘!“
But Lidia Afanasyevna did not let up. „And what about the people whose cities you let be reduced to rubble? Do you think they feel released by your people’s liberation movements?“
The baby phone snorted – Volodya did not appreciate being contradicted. „No offence, Lidia – but you’d better leave world politics to the world leaders. After all, I don’t interfere with your kitchen work either.“
Macho! thought Lidia Afanasyevna – but still tried to keep her gentle tone. „At least be honest with yourself, Vova! You only want to immortalise yourself as the new Tsar, the new founder of the Russian Empire. You don’t give a damn about freedom!“
„And even if so – what’s so bad about the Russian Empire?“ it sounded from the baby phone. „After all, the bigger this empire is, the fewer borders there are – and consequently the more freedom the people living in it will enjoy.“
Lidia Afanasyevna now also raised her voice a little: „And what about spiritual freedom?“
„Pah – spiritual freedom!“ echoed the baby phone. „That’s just one of those American fighting terms. In truth, most people are grateful when a leader appears to relieve their poor little minds from the burden of freedom. Too much thinking leads to doubt, and doubt is like a toothache – who needs it? But if you mean the freedom to cultivate one’s own language and culture – surely a strong state is the best guarantor of that! Or do you think you can unfold your culture if you constantly feel threatened by external enemies? Or if you don’t have enough to eat?“
„You forget that every people also embodies a spiritual individuality,“ objected Lidia Afanasyevna. „And this can only be lived out if the people can determine its own destiny. Consequently, without national self-determination, there are also narrow limits to cultural self-determination.“
„Individuality!“ returned Volodya indignantly. „I just can’t stand that word anymore! I’m really fed up with this Western propaganda. Of course we are all individuals, each one is different from the other. So what? Does that mean everyone should set up their own state? Then tomorrow we’ll have anarchy, and the day after tomorrow we’ll all be sitting in trees again as grunting monkeys.“
Provokingly, Lidia Afanasyevna asked: „And so, in order to protect civilisation – as you understand it – you literally go over dead bodies?“
Volodya remained surprisingly calm. „Yes – if necessary …“ he confessed coolly, then added in a softer voice: „You must understand this, Lidia: today this is a limited military operation, on a global scale a minimally invasive intervention, so to speak. But if we don’t carry out this operation, tomorrow the whole organism of the Russian Empire may be infected by the cancer of decomposition. But decomposition is the fertiliser of terror – and then the small operation becomes a very big operation that brings the whole world to the brink of destruction.“

Volodya’s Tears

What you call „decomposition“ is, in my view, spiritual and cultural diversity, thought Lidia Afanasyevna. And the terror results precisely from what you are undertaking to suppress the alleged „decomposition“! However, she preferred not to continue the conversation. Their positions were simply too far apart.
Besides, she had not travelled to Moscow to have such a fundamental debate with Volodya. The conversation only distracted her from the real goal of her trip – to find out whether Volodya or his henchmen had something to do with the mysterious events she had become involved in.
But what possibilities did she actually have to get closer to this goal? Should she approach her host directly about the matter? In the manner of: „Let’s be honest, Vova – did you give the order for the murder of Richard Gross?“
No, that would certainly not have been helpful. After all, she wasn’t on such familiar terms with Volodya. He probably would have simply put on his sphinx-like smile and let the question bounce off him. Possibly, however he really couldn’t give her any information about the matter, even if he wanted to. Wouldn’t someone for whom a few corpses at the gates of his palace were just annoying obstacles on the way to world domination promptly forget over which dead body his almighty foot stepped yesterday?
Following a spontaneous inspiration, Lidia Afanasyevna took her smartphone out of her pocket. She was looking for something that she herself did not yet know exactly what it was. Something like a photo of the dead Richard Gross. A photo that didn’t exist, also because she herself hadn’t thought of taking one.
But then she came across a picture that immediately spoke to her. It showed bombed-out houses in a Ukrainian town, with a dead boy of about five years in front of it. She sent the photo to Volodya’s smartphone with a comment: „Is it worth this?“
She heard the ringtone of Volodya’s mobile phone, she saw him reach for it and stare at the display. Then there was silence for several seconds.
A few moments later, a kind of gasp came from the baby phone. It sounded as if someone was breathing in and out jerkily. Worried, Lidia Afanasyevna brought the lorgnette to her eyes. Volodya had buried his head in his hands, his upper body was trembling. She quickly rose from her seat and went to the other end of the table.
Volodya sobbed. „Look, I strive day in and day out to make the world a better place – and then things like this happen!“ He took a deep breath. „I promise you, dear Lidia: those responsible for this crime will bitterly regret their actions! It must have been the Ukrainian fascists. I will shoot their asses off the toilet, I give you my word of honour!“
He looked at her from tear-stained eyes: „Excuse me – but when I see something like this …“
Lidia Afanasyevna took him in her arms and stroked his sparse hair. „And if your own people are responsible for this after all?“ she asked cautiously.
„Then I will be just as adamant about bringing the perpetrators to justice,“ Volodya sniffed. „Such deeds will ruin all our beautiful world peace in the end, don’t you agree?“
A smile twitched across his face. „By the way, world peace … I have to get down to work finally. To be honest, our conversation has put quite a strain on me emotionally. If it’s all right with you, I’d rather continue it tonight, over a glass of vodka at my dacha. You’ll stay overnight, won’t you?“
Actually, this was not what Lidia Afanasyevna had intended. But because world peace was at stake, she agreed to stay another day. Volodya recommended a few current exhibitions to her, but she was suddenly dead tired – after all, she hadn’t slept all night. So they agreed that she would leave for the dacha right away and wait for Volodya there.
While she was looking for a toilet in the labyrinth of the palace, Volodya had his chauffeur called to give him the necessary instructions. When Lidia Afanasyevna returned, he was still talking to him, but fell silent when he saw her coming. Did he want to surprise her with something?

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..