Über das Lied Csillag vagy fecske der ungarischen Band Kispál és a Borz / About the Song Csillag vagy fecske by the Hungarian Band Kispál és a Borz
English Version
Im Wartesaal des Lebens können wir angstvoll auf den Tod warten – wir können aber auch jeden Augenblick des Wartens genießen. Die Absurdität des Lebens löst sich so in heiterer Gelassenheit auf. – Über ein Lied der ungarischen Band Kispál és a Borz.
Stern oder Schwalbe
Ich saß in einer Bar und wartete auf dich,
wartete, nur mit der Zeit an meiner Seite.
Da habe ich mich angefreundet mit der Zeit
und wartete, mit ihr an meiner Seite,
in Kneipen, Bars und Pubs auf dich.
Uns gegenseitig auf die Schulter klopfend,
haben wir Drinks geschickt an and’re Tische,
wo Frauen saßen mit holunderblauen Kleidern
und Gesichtern, die von keinem Gestern wussten.
Bleib du nur ruhig zu Hause und sieh fern!
Alle Kanäle zeigen winterdunkle Züge,
sie rasen leer und einsam durch die Nacht,
rauschendes Leben gibt es nur
im überfüllten Speisewagen.
Da vorne, der, dem schlecht wird – das bin ich!
Was für ein ungünstiger Ritt durchs Bild –
gerade eben hab‘ ich noch zu Gott gebetet.
Auf dich wartend, haben wir mit nichts begonnen,
ich und die Zeit, meine neue Gespielin.
Was sollten wir schon anfangen
mit den paar Augenblicken bis zu deinem Kommen?
Doch als du nicht gekommen bist,
haben ich und die Zeit, meine Lebensgefährtin,
das Leben allmählich verwandelt
in einen Zug aus lauter Wartesälen.
Bleib du nur ruhig zu Hause …
Vielleicht ist es auch besser so,
wie hättest du auch kommen können,
du, die du bei Tage eine Schwalbe
und bei Nacht ein Stern am Himmel bist?
Alle Felder sind bestellt,
allen Frauen geht es gut,
alles and’re überlass‘ ich dir,
du Schwalbe oder Abendstern.
Bleib du nur ruhig zu Hause …
Kispál és a Borz: Csillag vagy fecske
aus: Turisták bárhol (Überall Touristen; 2003)
Live-Auftritt:
Kispál és a Borz mit dem János-Csík-Orchester (Csík zenekar):
Das Warten und die Welt des Absurden: Beckett und Kafka
Ein Mann, der in einer Bar vergeblich auf eine Frau wartet und dann, als sie nicht kommt, das ganze Leben in einen Wartesaal verwandelt – das erinnert natürlich stark an die großen Dramen, Erzählungen und Essays aus der Welt des Absurden.
Mit fruchtlosem Warten verbringen ihre Zeit auch die beiden Landstreicher in Becketts epochalem Theaterstück Warten auf Godot. Gleiches gilt für den „Mann vom Lande“, der in Franz Kafkas berühmter Kurzgeschichte Vor dem Gesetz so lange vergeblich um „Eintritt in das Gesetz“ bittet, bis der Türhüter das Tor dorthin im Augenblick seines Todes schließt.
Freilich fallen bei solchen Analogiebildungen auch sogleich die Unterschiede zu dem Lied von Kispál és a Borz ins Auge. Sowohl die Protagonisten in Becketts Theaterstück als auch Kafkas „Mann vom Lande“ verfehlen über dem Warten das Ziel ihres Lebens. Anstatt sich selbst aktiv um Sinngebung und Selbsterfüllung zu bemühen, warten sie darauf, dass ihnen dies durch eine fremde Macht zuteil wird.
Dies lässt sich zum einen im metaphyischen Sinn verstehen – worauf bei Beckett auch der an „God“ angelehnte Name „Godot“ hindeutet. Gerade im Fall dieses Theaterstücks verweist das passive Abwarten aber auch auf die versäumte Aufarbeitung der eigenen schuldhaften Verstrickung in vergangene Verbrechen bzw. ganz allgemein die Blindheit gegenüber menschlicher Zerstörungskraft und den daraus zu ziehenden Lehren.
Zur Entstehungszeit des Theaterstücks bezog sich das vor allem auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Dass wir vor unserem destruktiven Potenzial und seinem für das Überleben unserer Spezies bedrohlichen Charakter nicht die Augen verschließen dürfen, wird jedoch auch heute im Zusammenhang mit Klimakrise und neuen Vernichtungskriegen wieder überdeutlich.
Unterschiedliche Aktivitäten der Wartenden: Camus und Kispál és a Borz
Die Tragik, welche die Protagonisten bei Kafka und Beckett umgibt, fehlt in dem Lied Csillag vagy fecske (Stern oder Schwalbe). Hier macht der Held einen durchaus nicht unglücklichen Eindruck, und im Rahmen seiner Möglichkeiten ist er auch durchaus aktiv. Dabei ist diese Aktivität freilich – als Aktivität eines Wartenden – selbst wieder absurd.
So erinnert dieser fröhlich Wartende eher an Albert Camus‘ Deutung des Sisyphos-Mythos. Denn auch Sisyphos lässt sein Schicksal ja nicht passiv über sich ergehen, sondern nimmt es aktiv an. Immer wieder rollt er, wie es ihm die Götter als Strafe auferlegt haben, seinen Felsbrocken auf den Berg, auch wenn dieser, oben angelangt, nur wieder herabrollen wird. Eben darin aber besteht nach Camus das Glück des Absurden: sich im vollen Bewusstsein der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns handelnd gegen diese Sinnlosigkeit aufzulehnen.
Genau dieser Aspekt der Auflehnung unterscheidet nun allerdings auch den Helden aus Camus‘ Sisyphos-Essay von dem beschwingten Wartenden im Lied der Band Kispál és a Borz. Denn von Auflehnung ist hier nicht viel zu spüren. Stattdessen ist die Grundeinstellung eher: Vielleicht gewinne ich morgen im Lotto – vielleicht fällt mir aber auch der Himmel auf den Kopf. Bis dahin möchte ich aber auf jeden Fall mein Leben genießen.
Carpe diem: Freunde dich mit der Zeit an, anstatt ihr Vergehen zu beklagen
Konsequenterweise freundet sich der Anti-Held in dem Lied auch mit der Zeit – die doch eigentlich unsere größte Feindin ist – an, anstatt sie zu bekämpfen. Das ist ein sehr schlüssiges Bild für eine Carpe-diem-Lebenseinstellung, bei der jeder Augenblick im Wartesaal des Lebens genossen wird, anstatt verbissen um eine goldene Zukunft zu ringen.
Diese Lebenseinstellung lässt sich zum Teil wohl auf die Sozialisation in einem totalitären Staat – der Ungarn ja einmal war und auch heute wieder zu werden droht – zurückführen. In einem Staat, in dem Eigeninitiative tendenziell eher bestraft als gefördert wird, ist die Konzentration auf das Glück des Augenblick eine logische Reaktion.
Das heitere Sich-Einrichten im Wartesaal des Lebens muss dabei nicht notwendigerweise mit einer die eigene Zukunft untergrabenden Sorglosigkeit und Geschichtsvergessenheit einhergehen. Vielmehr kann daraus auch eine Gelassenheit resultieren, die das Mögliche tut, anstatt an der Unmöglichkeit der Utopie zu verzweifeln.
Über Kispál és a Borzund Csík zenekar

Die 1987 in Pécs gegründete Gruppe ist eine der bekanntesten Alternative Rockbands in der ungarischen Musikgeschichte. Ursprünglich sollte sie schlicht „Borz“ (Dachs) heißen. Frontmann András Kispál sah darin jedoch ein schlechtes Omen, da all seine früheren, wenig erfolgreichen Bands nach Tieren benannt waren. Als Kompromiss ergab sich dann der Name Kispál és a Borz (Kispál und der Dachs).
Die kreativste und auch erfolgreichste Zeit der Band fällt in die 1990er Jahre, als die Gruppe fast jedes Jahr ein neues Album herausbrachte. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends verlor die Band duch viele Wechsel in der Zusammensetzung allmählich ihren kreativen Schwung und löste sich schließlich 2010 auf.
Nach einigen kurzzeitigen Reunions auf Festivals hat die Band im Frühjahr 2022 ihre Wiedervereinigung bekanntgegeben und auch ein neues Album angekündigt.
Csík zenekar (wörtlich „Csík-Orchester“) – die Gruppe, mit der Kispál és a Borz in der Live-Aufnahme von Csillag vagy fecske auftreten – ist eine der populärsten Folk-Bands Ungarns. Sie wurde 1988 von János Csík in Kecskemét gegründet.
Links
Franz Kafka: Vor dem Gesetz (1915).
Samuel Beckett: Warten auf Godot (1952; Uraufführung Januar 1953); Aufzeichnung einer Aufführung am Berliner Schillertheater unter der Regie von Samuel Beckett, 1975.
Albert Camus: Le Mythe de Sisyphe (1942; PDF); dt. Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1950). Neuausgabe 2000 u.d.T. Der Mythos des Sisyphos. Reinbek: Rowohlt.

English Version
Happy Celebration in the Waiting Room of Life
About the Song Csillag vagy fecske by the Hungarian Band Kispál és a Borz
In the waiting room of life we can wait fearfully for death – but we can also enjoy every moment of waiting. The absurdity of life thus dissolves into cheerful serenity. – About a song by the Hungarian band Kispál és a Borz.
Star or Swallow
I sat in a bar waiting for you,
with only time by my side.
So I made friends with time
and waited, with her by my side,
in pubs and bars and clubs for you.
Patting each other on the back,
we sent drinks to other tables,
where women sat with tangerine dresses
and faces that knew nothing of yesterday.
Just stay at home and watch TV!
All the channels show dark trains in winter,
rushing lonely through the night.
The only place with buzzing life
is in the crowded dining car.
Over there, the one who feels sick – that’s me!
What an awkward ride through the picture –
just a moment ago I was praying to God.
Waiting for you, we didn’t start with anything,
me and Time, my new playmate.
What should we have begun
with the few moments until your arrival?
But when you didn’t come,
me and Time, my lifemate,
gradually turned life
into a train of waiting rooms.
Just stay at home …
Maybe it’s better that way,
how could you have come,
you who are a swallow by day
and a star in the sky by night?
All the fields are tilled,
all women are well,
all the rest I leave to you,
you swallow or evening star.
Just stay at home …
Kispál és a Borz: Csillag vagy fecske
from: Turisták bárhol (Tourists everywhere; 2003)
Live-Concert:
Kispál és a Borz mit dem János-Csík-Orchester (Csík zenekar)
Waiting and the World of the Absurd: Beckett and Kafka
A man who waits in vain for a woman in a bar and who, when she doesn’t come, turns his whole life into a waiting room – of course, this is strongly reminiscent of the great dramas, stories and essays from the world of the absurd.
Thus, the two tramps in Beckett’s groundbreaking play Waiting for Godot also spend their time waiting fruitlessly. The same applies to the „man from the countryside“ who, in Franz Kafka’s famous short story Vor dem Gesetz (Before the Law), asks in vain for „entry into the law“ until the gatekeeper closes the gate at the moment of his death.
Admittedly, such analogies also immediately reveal the differences to the song of Kispál és a Borz. Both the protagonists in Beckett’s play and Kafka’s short story miss the goal of their lives by waiting. Instead of actively striving for meaning and self-fulfilment, they wait for this to be granted to them by a foreign power.
On the one hand, this can be understood in a metaphysical sense – which in Beckett’s case is also indicated by the name „Godot“, obviously alluding to „God“. In the case of this play in particular, however, the passive waiting also refers to the failure to confront one’s own culpable involvement in past crimes or, more generally, the blindness to human destructive power and the lessons to be learned from it.
At the time the play was written, this referred primarily to the atrocities of the Second World War. However, the fact that we must not close our eyes to our destructive potential and its threatening character for the survival of our species is again becoming abundantly clear today in the context of the climate crisis and new wars of extermination.
Different Activities of Those Waiting: Albert Camus and Kispál és a Borz
The tragic atmosphere that surrounds the protagonists in Kafka’s and Beckett’s works is missing in the song Csillag vagy fecske (Star or Swallow). Here, the hero does not at all appear unhappy, and within the scope of his possibilities, he is also quite active. Yet this activity – as the activity of someone waiting – is in itself absurd.
The cheerfully waiting man in the song thus rather reminds us of Albert Camus‘ interpretation of the myth of Sisyphus. After all, Sisyphus does not passively accept his fate either, but actively takes it on. Again and again, as imposed on him by the gods, he rolls the boulder up the mountain, even if it only rolls back down once it reaches the top. Nevertheless, according to Camus, this is precisely the happiness to be drawn from the absurd: to rebel against the futility of one’s own actions while being fully aware of this futility.
However, it is exactly this aspect of rebellion that distinguishes the hero of Camus‘ essay on Sisyphus from the protagonist in the song by the band Kispál és a Borz. For there is not much sign of rebellion here. Instead, the basic attitude is more like: Maybe I’ll win the lottery tomorrow – or maybe the sky will fall on my head. But in any case, I want to enjoy my life until then.
Carpe Diem: Make friends with time instead of lamenting its passing
Consequently, the anti-hero in the song makes friends with time – which is actually our greatest enemy – instead of fighting it. This is a very coherent image of a carpe diem attitude to life, where every moment in the waiting room of life is enjoyed instead of struggling doggedly for a golden future.
This attitude to life can probably be attributed in part to socialisation in a totalitarian state – which Hungary once was and is threatening to become again. In a state where personal initiative tends to be punished rather than encouraged, focusing on the joy of the moment is a logical reaction.
Yet the cheerful settling down in the waiting room of life does not necessarily have to entail a carelessness and forgetfulness of history that undermines one’s own future. It can, on the contrary, also result in a serenity that does what is possible instead of falling into despair at the impossibility of utopia.
About Kispál és a Borz and Csík zenekar
The group, founded in Pécs in 1987, is one of the most famous alternative rock bands in Hungarian music history. Originally, they were to be called simply „Borz“ (Badger). However, frontman András Kispál saw this as a bad omen, as all his earlier, less successful bands were named after animals. As a compromise, the name Kispál és a Borz (Kispál and the Badger) was chosen.
The band’s most creative and successful period was in the 1990s, when the group released a new album almost every year. In the first decade of the new millennium, the band gradually lost its creative momentum due to many changes in the line-up and finally dissolved in 2010.
After a few short-term reunions at festivals, the band declared their definite reunion in spring 2022 and also announced a new album.
Csík zenekar (literally „Csík orchestra“) – the group with which Kispál és a Borz perform in the live recording of Csillag vagy fecske – is one of Hungary’s most popular folk bands. It was founded in 1988 by János Csík in Kecskemét.
Links
Franz Kafka: Vor dem Gesetz (1915) / Before the Law.
Samuel Beckett: Waiting for Godot (1952; premiered January 1953); performance of the San Quentin Workshop, 1988, directed by Walter D. Asmus based on the direction of Samuel Beckett for „Beckett Directs Beckett“ (1985).
Albert Camus: Le Mythe de Sisyphe (1942; PDF) / The Myth of Sisyphus (translated by Justin O’Brien, 1955).
Bilder / Images: Xavier Sager (1870 – 1930): In Erwartung eines seriösen Kunden / Waiting for a serious client (Wikimedia Commons); Gergely Csatari: Kispál és a Borz mit Frontmann András Kispál (links) beim Balaton Sound Festival, 2007 / Kispál és a Borz with frontman András Kispál (left) on Balaton Sound Festival, 2007 (Wikimedia commons)