Sehnsucht nach kultureller Geborgenheit / Longing for a Sheltered Culture

Über das kurdische Volkslied Lo Şivano (Der Hirte) / About the Kurdish Folk Song Lo Şivano (The Shepherd)

Das kurdische Volkslied Lo Şivano (Der Hirte) ist ein poetischer Ausdruck für den Wunsch des kurdischen Volkes nach kultureller Selbstbestimmung. Eine besonders schöne Fassung stammt von Mehmet Atlı und dem Streichquartett Anadolu.

The Kurdish folk song Lo Şivano (The Shepherd) is a poetic expression of the Kurdish people’s desire for cultural self-determination. A particularly beautiful version is by Mehmet Atlı and the string quartet Anadolu.

Der Hirte

Hirte, o Hirte,
meine Verehrung gilt dir, du Hüter des Lebendigen!
Sind auch die Schafe verstreut über die Berge –
mit dir müssen sie keine Wölfe fürchten.

Hirte, o Hirte,
spiel deine Flöte von ganzem Herzen!
Selbstvergessen grasen die Schafe –
begleite sie mit deinem Spiel!

Hirte, o Hirte,
Wind kommt auf, Regen setzt ein.
Mögen dein Blick und dein Flötenzauber
immer die Herde umsorgen!

Lo Şivano: Liedtext mit türkischer Übersetzung

Mehmet Atlı mit dem Anadolu Quartet am Konservatorium von Diyarbakır: Lo Şivano / Mehmet Atlı with the Anadolu Quartet at the Diyarbakır Conservatory: Lo Şivano:

Kleines Lied, große Bedeutung

Lo Şivano – hier von Mehmet Atlı und dem Anadolu Quartet in einer Version für Streichquartett vorgetragen – ist ein traditionelles kurdisches Volkslied. So unscheinbar es auf den ersten Blick anmutet, eröffnet es bei näherem Hinsehen doch einen komplexen Bedeutungshorizont.

Zunächst einmal lässt sich das Lied natürlich ganz konkret auf die Hirtenjungen beziehen, die in den Bergen das Vieh beaufsichtigen. Angesichts der Tatsache, dass die Produkte aus der Viehzucht für die Menschen im kargen Hochland lange Zeit überlebenswichtig waren und es in abgelegenen Regionen auch heute noch sind, ist diese Aufgabe mit einer großen Verantwortung verbunden. Jedes verlorene Schaf kann die Lebensgrundlage der Familien schwächen.

Der gute Hirte und das kurdische Volk

Darüber hinaus erinnert die Verehrung des Hirten aber natürlich auch an die biblische Geschichte vom guten Hirten. Dass kein Schaf verloren gehen darf, verweist aus dieser Perspektive auf die Bedeutung jedes einzelnen Menschenlebens – darauf, dass vor Gott jeder Mensch gleich bedeutsam und schützenswert ist.

Dieser Gedanke hat gerade im kurdischen Kontext etwas ausgesprochen Tröstliches. Denn dem kurdischen Volk wird schon sehr lange das vorenthalten, was für andere Völker selbstverständlich ist: die eigene Sprache und Kultur pflegen zu können und selbst über seine Geschicke entscheiden zu dürfen. In der Türkei geht dies mit einer über die Jahre mal stärker, mal schwächer ausgeprägten Unterdrückung alles Kurdischen einher.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich schließlich noch eine dritte Deutungsperspektive für den Hirten des Liedes: Er kann auch als Hüter der Gemeinschaft angesehen werden – als derjenige, der darüber wacht, dass das Volk seine Identität bewahrt und sich in seinem Eigen-Sinn gegen den Assimilierungsdruck der Mehrheitsgesellschaft behauptet. Eben hierauf verweist auch die Tatsache, dass „Şivan“ auch als männlicher Vorname gebräuchlich ist.

Utopisches Flötenspiel

Der utopische Charakter, der sich aus diesem Bild des Hirten ergibt, wird in dem Lied zusätzlich durch den Bezug zum griechischen Hirtengott Pan betont. Diese Assoziation ergibt sich insbesondere durch den Verweis auf das Flötenspiel des Hirtenjungen. Denn eben für dieses ist Pan mit der nach ihm benannten „Panflöte“ ja berühmt.

Wie Pan mit den parallel zueinander angeordneten Schilfgrasröhren die Nymphen verzaubert, beschwört der Flöte spielende Hirtenjunge als Hüter der Gemeinschaft die Utopie einer behüteten Freiheit – verstanden als Leben in einer Gemeinschaft, in der geistige Entfaltung nicht das Privileg einer Minderheit ist, sondern als schützenswertes Gut aller gilt.

Über Mehmet Atlı

Gomada: Mehmet Atlı bei einem Festival in Istanbul, 2011 (Wikimedia commons)
Mehmet Atlı at a festival in Istanbul (Ausschnitt /Detail)

Der Musiker wurde 1975 im anatolisch-kurdischen Diyarbakır als Sohn einer Familie von Eisenbahnern geboren. Er studierte in Istanbul Architektur und arbeitete dort auch zehn Jahre lang als Architekt. 2010 zog er wieder in seine Heimatstadt Diyarbakır um und nahm dort eine Tätigkeit als Hochschuldozent für Architektur auf.

Nachdem er während seiner Studienzeit in Istanbul in verschiedenen Musikprojekten mitgewirkt hatte, startete Atlı nach seinem Studium, parallel zu seiner Arbeit als Architekt, eine Solokarriere. Seine beiden ersten Alben erschienen 2003 und 2008.

Mit seinem dritten, 2014 herausgebrachten Album Birîn vollzog Atlı in mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit seinen bisherigen musikalischen Projekten. Zum einen wandte er sich hier dezidiert der kurdischen Volksmusik und Dichtung zu. Zum anderen sang er aber gerade auf diesem Album auch das erste Mal auf Türkisch. Offenbar war die intensivere Bemühung um die eigene kurdische Identität für ihn die Voraussetzung dafür, sich auch in seiner Musik der Mehrheitssprache zu bedienen.

Für seine künstlerische Reserviertheit gegenüber dem Türkischen liefert Atlı selbst eine aufschlussreiche Begründung:

„Ich habe keine (…) Probleme mit der türkischen Sprache. Eigentlich liebe ich das Türkische (…). Aber Ich bin ganz und gar gegen die dem Türkischen zugewiesene Rolle, mich meine kurdische Identität vergessen zu lassen. Aus diesem Grund habe ich zwanzig Jahre lang ein Repertoire ausschließlich in Kurmandschi und Zazaki [in den kurdischen Siedlungsgebieten gesprochenen Sprachen] geschaffen und aufgeführt, als ob ich überhaupt kein Türkisch kennen würde. Denn hier ging es um Widerstandskraft, um Leben und Tod. Tausende von Menschen starben, Zehntausende wurden inhaftiert und verbannt, weil sie diese Sprache verteidigten. Es wäre gut für die Türken und das Türkische, wenn das Türkische von dieser unseligen Funktion befreit würde.“

Zitat entnommen aus: Ana Sayfa: Mehmet Atlı: Ben asimile olmaktayken anadilime tutundum („Ich habe an meiner Muttersprache auch dann festgehalten, als ich assimiliert wurde“; Interview mit Mehmet Atlı, türkisch); Ilke Haber, 17. August 2014.

Weiteres kurdisches Lied im Rahmen eines Beitrags zum Kurdenkonflikt“ auf rotherbaron:

Erdoğan Emir: To Şiya (Du bist fortgegangen)

Ausführlichere Informationen zu kurdischer Kultur und Geschichte:

Wagner, Hans: Die Kurden – Geschichte, Kultur und Hintergründe. Eurasisches Magazin, 2. Mai 2020.

ferner die Website The Kurdish Project

speziell zum Dersim-Massaker: Kieser, Hans-Lukas: The Dersim Massacre, 1937-38; Juli 2011, sciencespo.fr.

English Version

Longing for a Sheltered Culture

Emrahgul62: Das Munzur-Gebirge (Munzur Dağları) in der Provinz Dersim / The Munzur Mountains (Munzur Dağları) in Dersim Province , 2019 (Wikimedia commons)

The Shepherd

Shepherd, oh shepherd,
I adore you, guardian of the living!
Even if the sheep are scattered over the mountains –
with you on their side, they do not have to fear any wolves.

Shepherd, oh shepherd,
play your flute with all your heart!
Oblivious, the sheep are grazing –
accompany them with your tunes!

Shepherd, oh shepherd,
wind is rising, rain is falling.
May your gaze and your magic flute
always embrace the flock!

Lo Şivano: Lyrics with Turkish translation

Little Song, Big Meaning

Lo Şivano – performed here by Mehmet Atlı and the Anadolu Quartet in a version for string quartet – is a traditional Kurdish folk song. As inconspicuous as it may seem at first glance, on closer inspection it opens up a complex horizon of meaning.

First of all, the song can, of course, be related to the shepherd boys who the flocks in the mountains. Given the fact that the products of livestock farming have long been essential for the survival of people in the barren highlands, and still are today in remote regions, this task entails a great responsibility. Every lost sheep can weaken the livelihood of families.

The Good Shepherd and the Kurdish People

Beyond that, the veneration of the shepherd also recalls the biblical story of the good shepherd. From this perspective, the fact that no sheep should be lost points to the importance of every single human life – to the fact that before God, every human being is equally significant and worth protecting.

This thought is particularly consoling in the Kurdish context. For a very long time, the Kurdish people have been denied what other peoples take for granted: the right to cultivate their own language and culture and to determine their fate themselves. In Turkey, this goes hand in hand with a more or less strong suppression of the Kurdish culture and language.

Against this background, there is a third perspective of interpretation for the shepherd in the song: he can also be seen as the guardian of the community – as the one who watches over the people preserving their identity and asserting themselves in their cultural identity against the assimilation pressure of the majority society. This is also indicated by the fact that „Şivan“ is used as a male first name.

Utopian Flute Playing

The utopian character resulting from this image of the shepherd is additionally emphasised in the song by the allusion to the Greek shepherd god Pan. This association arises in particular from the reference to the shepherd boy’s flute playing. For it is precisely for this instrument that Pan, with the „pan flute“ named after him, is famous.

Just as Pan enchants the nymphs with his pan pipe, the shepherd boy playing the flute as the guardian of the community evokes the utopia of protected freedom – understood as life in a community in which spiritual development is not the privilege of a minority, but a right to which every individual is naturally entitled.

About Mehmet Atlı

The musician was born in 1975 in the Kurdish-Anatolian city of Diyarbakır to a family of railway workers. He studied architecture in Istanbul and also worked there as an architect for ten years. In 2010, he moved back to his hometown of Diyarbakır and started working there as a university lecturer in architecture.

After participating in various music projects during his studies in Istanbul, Atlı started a solo career after graduation, parallel to his work as an architect. His first two albums were released in 2003 and 2008.

With his third album Birîn, released in 2014, Atlı made a break with his previous musical projects in several respects. On the one hand, he turned explicitly to Kurdish folk music and poetry. On the other hand, it was on this very album that he sang in Turkish for the first time. Obviously, the more intensive commitment to his own Kurdish identity was the prerequisite for him to use the majority language in his music as well.

Atlı himself provides a revealing justification for his reservation towards Turkish in his music:

„I have no (…) problems with the Turkish language. Actually, I love Turkish (…). But I am totally against the role assigned to the Turkish language to make me forget my Kurdish identity. For this reason, I created and performed a repertoire exclusively in Kurmanji and Zazaki [languages spoken in the Kurdish settlement areas] for twenty years, as if I knew no Turkish at all. Because here it was a matter of resistance, of life and death. Thousands of people died, tens of thousands were imprisoned and exiled for defending this language. It would be good for Turks and for Turkish if Turkish were freed from this cursed role that has been assigned to it.“

Quotation taken from: Ana Sayfa: Mehmet Atlı: Ben asimile olmaktayken anadilime tutundum („I held on to my mother tongue even when I was assimilated“; interview with Mehmet Atlı, Turkish); Ilke Haber, August 17, 2014.

Another Kurdish song with English translation can be found as part of a post on rotherbaron: Erdoğan Emir: To Şiya (You went away).

Titelbild / Title Image: Giacomo Francesco Cipper (1664 – 1736): Hirte beim Flötenspiel, 18. Jh./Shepherd playing a flute; 18th  century; Ljubljana, Slowenische Nationalgalerie (Wikimedia commons)

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