Die Spur des Bösen / The Trail of Evil

Tagebuch eines Schattenlosen/2: Bei den Dunkelmännern/10 / Diary of a Shadowless Man/2: Among the Disciples of Darkness/10

Bei der Arbeit in den Gemüsegärten denkt Theo noch einmal zurück an das Gespräch mit Lina über das Böse.

While working in the vegetable gardens, Theo thinks back once again to the conversation with Lina about evil.

Freitag, 22. September

Arbeit in den Gemüsegärten. Der für mich alles beherrschende Eindruck: der Geruch der Erde, wenn man die Schollen wendet, dieser ganz eigentümliche Atem des Bodens, der einem dabei in die Nase steigt. Auf der Koppel vor mir die dampfenden Pferdeleiber, deren Hälse sich in das noch taunasse Gras neigen.
Das Gefühl, mit allem verbunden zu sein – freilich nur, solange sich noch keine Blasen an den Händen gebildet haben und das Kreuz nicht schmerzt. Dann tritt der äußere Eindruck zurück, und ich spüre, dass ich einem Gleichnis aufgesessen bin. Die Folge: Die Aufmerksamkeit wird auf die Details gelenkt, aus denen sich das wirkliche Leben der Natur zusammensetzt.
Eine Spinne eilt an die Stelle ihres Netzes, wo sich eine Fliege verfangen hat. Sie verarbeitet das Insekt akribisch zu einem kleinen Päckchen, dann begibt sie sich wieder in Lauerstellung. Ein Marienkäfer quetscht mit seinen Beißzangen die Blattläuse aus, die ihrerseits den Herbstanemonen schon so stark zugesetzt haben, dass manche ihre Blüten gar nicht erst ausbilden können. Der Marienkäfer wiederum wird von mehreren Ameisen angegriffen, die er mit seinem Beutezug um ihre eigene Ernte zu bringen droht.
Ich muss an das bunte Geschichtslexikon denken, in dem ich in meiner Jugend immer geblättert habe. Was mir noch heute deutlich vor Augen steht: die Reliefdarstellung des Nubiers, der von einer Löwin getötet wird. Er hockt zurück-gebeugt auf dem Waldboden, die Arme, die er hinter sich aufgestützt hat, signalisieren mit ihrer nachlassenden Spannung, dass sein Widerstand schon fast gebrochen ist. Die Löwin hat ihre rechte Pranke auf eine seiner Hände gestellt, die linke schmiegt sich fast zärtlich um seinen Hals. Ihr Maul aber umschließt fest den Hals des Opfers, das den Kopf weit nach hinten neigt, die erlöschenden Augen ins Leere gerichtet.
Derselbe Blick fesselte mich bei dem nackten, auf dem Boden kauernden Gefangenen auf einem römischen Sarkophag. Ein Soldat in voller Montur ist eben dabei, zum entscheidenden Schlag gegen den Gefangenen auszuholen. Sein rechter Arm weist geradezu blasphemisch gen Himmel, die Hand hält fest das Tod bringende Schwert umklammert. Der Blick ist in die Ferne gerichtet und spiegelt das Glitzern von Ruhm und Ehre wider, das ihm diese kaltblütige Hinrichtung einbringen wird.
Hilflos blickt der Todgeweihte seinem Henker ins Gesicht, vergebens drückt er mit der rechten Hand gegen den linken Arm des Soldaten, mit dem dieser, die Hand in den dichten Haarschopf des Niedergedrückten gekrallt, dessen Kopf nach hinten beugt und ihm so den Hals frei legt, den er mit dem nächsten Schwerthieb durchtrennen wird.
Was mich an der Sarkophagszene immer so erschüttert hat, ist, glaube ich, die Selbstverständlichkeit, mit der ein brutaler Mord hier als schmückendes Beiwerk verwendet wird. Auch die Darstellung des sterbenden Nubiers muss wohl jemand erbaulich gefunden haben, denn sie findet sich auf einem Möbelstück, als Dekoration, die einst in Mesopotamien den Palast eines der Mächtigen dieser Welt schmückte.
Ist das Ausdruck einer menschenverachtenden Haltung? Blanker Zynismus? Oder ist es einfach nur ehrlicher, sich zu der Lust am Töten zu bekennen?
Wenn aber die Lust am Töten ein Teil unserer Natur und diese wiederum nur eine spezifische Ausprägung der allgemeinen Natur ist – muss dann nicht davon ausgegangen werden, dass das Böse das Gegebene ist, dass es einfach da ist und allenfalls hier und da zurückgedrängt werden kann? Widerspricht nicht schon der bloße Augenschein Linas Annahme, dass das Böse allein durch den Menschen gezeugt und am Leben gehalten wird – und deshalb auch nur von ihm aus der Welt geschafft werden kann?
Ist es wirklich denkbar, das Böse ein für allemal zu besiegen – oder es wenigstens dauerhaft unter Kontrolle zu halten? Ist nicht sein ganzes Wesen dem entgegengesetzt?

Elfenbeintafel mit einer Löwin im Kampf mit einem Nubier; Palast von Aschschur-nasir-apli (Aššur-nâṣir-apli) II. , Nimrud/Mesopotamien, 8. Jahrhundert vor Christus; Bagdad, Irakisches Nationalmuseum; Ivory panel of a lioness attacking a Nubian; Palace of Ashurnasirpal II, Nimrud/Mesopotamia, 8th century BC; Bagdad, Iraqi Museum

English Version

The Trail of Evil

Friday, 22 September

Today I worked in the vegetable gardens in the morning. The predominant impression: the smell of the earth when I turned the clods, this unique breath of the soil that rose to my nostrils. On the meadow in front of me, the steaming horses‘ bodies, their necks bent in the dewy grass.
A feeling of being connected to everything … Of course only as long as no blisters have formed on my hands and my back doesn’t hurt. Then the outer impression recedes and I feel that I have been duped by a mirage. The result: My attention is drawn to the details that make up the real life of nature.
My gaze falls on a spider rushing to the spot in its web where a fly has become entangled. It meticulously processes the insect into a small parcel, then goes back to its lurking position. A ladybird uses its pincers to squeeze out the aphids, which in turn have so badly affected the autumn anemones that some of them cannot even form their blossoms. The ladybird, on the other hand, is attacked by several ants, which it threatens to deprive of their own harvest.
My thoughts drift back to the colourful history encyclopaedia I used to leaf through in my youth. What still stands out clearly in my mind today: the relief depiction of the Nubian being killed by a lioness. He crouches on the forest floor, his arms, propped up behind him, show with their slackening tension that his resistance has almost been broken. The lioness has placed her right paw on one of his hands, the left snuggles almost tenderly around his neck. Her mouth, however, firmly encloses the neck of her victim, who tilts his head far back, his expiring eyes staring into the void.
The same look captivated me at the picture of the naked prisoner crouching on the floor on a Roman sarcophagus. A soldier in full armour is about to strike a decisive blow against the prisoner. His right arm points almost blasphemously towards the sky, his hand tightly grips the sword that will bring death. His gaze is directed into the distance, reflecting the glitter of glory and honour that this cold-blooded execution will win him.
The doomed man looks helplessly into the face of his executioner, pressing in vain with his right hand against the soldier’s left arm, with which the latter, clawing his hand into the thick mop of hair of the man pressed to the ground, bends his head back and thus exposes his neck, which he will sever with the next stroke of his sword.
What has always shocked me about the sarcophagus scene is, I think, the matter-of-factness with which a brutal murder is used here as an ornamental accessory. The same applys to the depiction of the dying Nubian. This scene, too, someone must have found uplifting, because it is placed on a piece of furniture, as a decoration that once adorned the palace of one of this world’s mighty men in Mesopotamia.
Does this express an attitude of inhumanity? Sheer cynicism? Or is it simply more honest to admit to the desire to kill?
But if the desire to kill is part of our nature and this in turn is only a specific manifestation of nature in general – doesn’t we have to assume then that evil is inherent in our nature, that it is simply there and can at best be suppressed now and then? Doesn’t the mere appearance of things contradict Lina’s assumption that evil is created and kept alive by man alone – and therefore can only be eradicated by him?
Is it really possible to defeat evil once and for all – or at least to keep it permanently under control? Does this not contradict its entire essence?

Titelbild / title image: Albrecht Fietz: Spielende Pferde bei Sonnenaufgang / Playing horses at sunrise (Pixabay)

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