Tagebuch eines Schattenlosen/2: Bei den Dunkelmännern/11 / Diary of a Shadowless Man/2: Among the Disciples of Darkness/11
Endlich hat das große Ereignis stattgefunden, auf das Theo so lange gewartet hatte: die Jahresmesse. Sie war in der Tat anders als alles, was er jemals erlebt hatte.
Finally, the big event Theo had been waiting for so long has taken place: the annual worship service. It was indeed unlike anything he had ever experienced.
Freitag, 29. September
Die Messe – es muss doch möglich sein, Worte für das zu finden, was da geschehen ist. Immerhin ist sie Tag und Nacht in meinem Kopf, da kann es doch nicht sein, dass ich sie gar nicht beschreiben kann! Oder habe ich nur Angst vor der Banalität der Worte?
Egal, ich muss es versuchen, sonst ersticke ich noch daran. Ich werde mich einfach bemühen, die Erinnerung wie in einem Bergwerk Stück für Stück ab-zutragen. Wenn ich nicht weiterkomme, kann ich das Ganze ja immer noch abbrechen.
1. Die Predigt
Unser großes Versammlungsgewölbe war an jenem Abend komplett mit weichen Matten ausgelegt, die mit ausgefallenen Ornamenten verziert waren. Was genau auf ihnen abgebildet war, konnte ich nicht erkennen, da die ohnehin nur mühsam zu unterscheidenden Konturen im Schein der Fackeln noch mehr ineinander verschwammen. Ich meine, es wären Pflanzen darauf zu sehen gewesen, etwas wie Äste, die sich immer weiter verzweigten.
Die Blätter an den Zweigen gingen, so scheint es mir im Rückblick, an ihren oberen Enden in echsenähnliche Wesen über, aber auch in menschliche Oberkörper, die einander wie im Tanz berührten und ihrerseits wieder in eine Mischung aus bewegter Pflanze und Tier zerflossen. Es kann aber gut sein, dass hier die Erinnerung schon von den nachfolgenden Erlebnissen gefärbt ist und es sich in Wahrheit um ganz gewöhnliche Farbmuster gehandelt hat.
Die Art der Versammlung erinnerte mich anfangs mehr an eine kollektive Entspannungsübung als an eine Messe. Alle hatten es sich auf ihre Weise bequem gemacht: Manche hatten die Arme zurückgebeugt und saßen da wie Fußballspieler zwischen zwei Trainingseinheiten, andere bevorzugten den Schneidersitz oder eine seitliche Sitzhaltung mit nach hinten abgeknickten Beinen.
Ich selbst hatte die Beine leicht angewinkelt und die Arme um die Knie gelegt. Angesichts der Ungewissheit über das, was nun geschehen würde, fühlte ich mich etwas unbehaglich und hatte das Bedürfnis, mich an etwas festzuhalten. Trotz der von einigen zur Schau gestellten Lässigkeit war die Stimmung insgesamt eher angespannt, zumal auch niemand sprach und nichts als das Knistern des herunterbrennenden Fackelholzes zu hören war. Ohnehin konnte von Gemütlichkeit keine Rede sein. Denn zu der Messe hatten wir alle diese rauen, sackartigen Gewänder anlegen müssen, die mich in unangenehmer Weise an den Empfang erinnerten, den man mir hier bereitet hatte.
Nach einigen Minuten des Wartens erklang von irgendwo¬her eine leise Sphärenmusik. Sie war zwar kaum hörbar, wirkte mit ihrer angenehm warmen Klangfärbung aber doch beruhigend. Es schien, als wäre der Raum mit dem gleichmäßigen Hin- und Zurückfluten sich am Strand brechender Wellen erfüllt.
In dieser deutlich entspannteren Atmosphäre mussten wir noch einmal eine Zeit lang warten, ehe schließlich das Öffnen und Schließen einer Tür zu hören war. Die Musik verstummte, und gleich darauf schälte sich Georges Gestalt aus der Dunkelheit des Gewölbes heraus. Begleitet von zwei Messdienerinnen, die einige sakrale Gegenstände vor ihr hertrugen, schritt sie in unsere Richtung.
Im Gegensatz zu den Messdienerinnen, die ebenso schlicht gekleidet waren wie wir, hatte George einen Ornat angelegt, der in seiner oberen Hälfte hellrot leuchtete und unten ganz schwarz war. Dabei schillerte die schwarze Farbe allerdings bei genauerem Hinsehen wie Rabenfedern, wodurch sie fast anziehender wirkte als das warme Rot der oberen Hälfte. Ihre Haare hatte George mit einer Art Piratentuch bedeckt, von dessen tiefem Blau ein Glitzern wie von einem mitternächtlichen Sternenhimmel ausging.
Als sie ungefähr in der Mitte des Raumes angelangt war, drehte George sich von der Gemeinde weg und kehrte uns den Rücken zu. Mein Blick fiel auf das umgedrehte Kreuz, dass auf der Rückseite ihres Ornats ange¬bracht war. Der senkrechte schwarze Balken, der oben in das helle Rot hineinschnitt, ging im unteren, schwarzen Teil des Umhangs wie der Querbalken in eine grellrote Färbung über.
Ich war überrascht von der Strenge, die mit einem Mal von George ausging. Sie kam mir wie verwandelt vor, so ganz anders als die kokette Georgina, als die sie sonst den Männern unter uns begegnete.
Während sich die Messdienerinnen andächtig niederknieten, hob George beschwörend die Arme und sprach mit lauter Stimme die Worte: „König der Welt, Schöpfer und Triebkraft des Lebens, du, der du in dunkler Nacht unsere Schritte lenkst, ich rufe dich an und bitte dich: Wohne unserer Versammlung bei!“
Ich hatte es den anderen gleichgetan und mich ebenfalls niedergekniet, als George die Anrufungsformel zu sprechen begann. Sobald sie damit fertig war, drehte sie sich um, senkte die Arme, spreizte sie in Höhe der Hüfte seitlich ab und sagte: „Erhebet die Herzen!“ – Worauf die Gemeinde antwortete: „Wir haben sie bei Ihm.“
Danach nahmen wir alle wieder eine bequemere Sitzhaltung ein. George begab sich derweil zu der hölzernen Kanzel, die an einer der vorderen Säulen angebracht war. Bevor sie diese betrat, drehte sie sich kurz zu den Messdienerinnen um. Diese breiteten, anscheinend einem festgelegen Ritus folgend, die mitgebrachten Utensilien auf dem Altar aus, der im Dunkel des hinteren Gewölbes nur schemenhaft zu erkennen war.
Von der Kanzel aus blickte George – wohl um sich zu sammeln und die Gedanken zu ordnen – zunächst unver¬wandt in die Tiefe des Raumes. Erst dann setzte sie zu der Predigt an. Dabei handelte es sich offenbar um Passagen aus der Bibel, die George für ihre Zwecke abgewandelt hatte. Dies verlieh der Rede etwas Altertümlich-Pathetisches, aber auch einen feierlichen Ernst.
„Meine Freunde“, begann sie, „ihr wisst, dass wir wieder einmal in einer Zeit leben, in der die Mächtigen in ihren Kommandozentralen Unheil planen und Böses ersinnen. Und sie planen es nicht nur, sondern sie führen es auch aus; denn sie haben die Macht dazu. Sie erheben Anspruch auf den Reichtum anderer und reißen ihn an sich. Sie wollen sich fremde Länder untertan machen und sie ihrem Willen unterwerfen. Sie wenden Gewalt an gegen die fremden Länder, gegen die Besitzer und ihr Eigentum. Sie fressen die fremden Völker einfach auf.“
George hatte sich rasch in einen Zustand heftiger Erregung hineingeredet. Ihre Mundwinkel zitterten, während sie ausrief: „Schande über die, die ihre geheimen Pläne verbergen, damit im Dunkel bleibt, was sie tun! Sie predigen Honig, während sie Gift anrühren. Und sie zeigen mit dem Finger auf andere, während sie ihre mordlüsternen Pläne verfolgen.“
George ließ den Widerhall ihrer Worte in dem Gewölbe verebben. Dann fuhr sie, die Stimme wieder senkend, fort: „Ich sage euch: Die Sonne wird untergehen für diese falschen Pro¬pheten, und der Tag wird schwarz werden über ihnen. Dies wird aber nur geschehen, wenn ihr euch durch niemanden und auf keine Weise täuschen lasst! Vergesst nie, dass diese Leute Lügenapostel sind! Mit großer Macht werden sie auftreten und euch paradiesische Versprechungen machen, damit sie vor euch als Diener der Gerechtigkeit erscheinen. Den Schein der Barmherzigkeit werden sie wahren, doch in ihren Herzen werden sie sie verleugnen.“
Die Hände fest um das Geländer der Kanzel gelegt, als strömte ihr von dort die Kraft für ihre Rede zu, schloss George die Augen und setzte erneut zu einem feierlichen Fluch an: „Söhne des Verderbens sind sie, Gesetzesbrecher, die sich als das Gesetz ausgeben! Das Böse lieben sie mehr als das Gute und die Lüge mehr als wahrhaftige Rede. Sie wollen euch zur Ungerechtigkeit verführen, sie wollen, dass ihr euch der Wahrheit verschließt. Wenn ihr euch ihnen aber widersetzt, werdet ihr es sein, die von ihnen als ungerecht und als Verbreiter der Unwahrheit gebrandmarkt werden. Denn sie sind Ränke¬schmiede, und ihre Zunge gleicht einem scharfen Messer.“
Erst jetzt öffnete George wieder die Augen. Als würde sie aus einem Traum erwachen, blickte sie geistesabwesend in die Runde, bis sie sich wieder gesammelt hatte. Dann beendete sie ihre Predigt mit den Worten: „Ich wünsche euch allen, dass ihr stark genug seid, um euch diesen Verführungen und Bedrohungen zu widersetzen. Verschließt eure Herzen niemals vor der Wahrheit, durch die allein wir ge¬rettet werden können! Möge der Hauch eures Mundes die Unwahrheit kenntlich machen und das Böse vernichten, das mit Hilfe dieser Unwahrheit von den habgierigen Propheten ins Werk gesetzt wird!“
Eine Zeit lang versenkten alle sich in sich selbst und ließen Georges Worte in ihrem Innern nachhallen. In meinem Kopf herrschte allerdings nichts als ein einziges großes Rauschen. Ich war einfach zu verwirrt von der ganzen Atmosphäre und der ungewohnten Zeremonie. Aber vielleicht war das ja bei denen, die schon häufiger an diesen Messen teilgenommen hatten, anders.
Georges Predigt basiert auf folgenden Bibelstellen:
• 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther (2 Kor 11,14 f.)
• 2. Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher (2 Thess 2,3-10)
• 1. Brief des Apostels Paulus an Timotheus (1 Tim 4,3-5)
• 2. Brief des Apostels Paulus an Timotheus (2 Tim 3,5)
• 2. Brief des Apostels Petrus (2 Petr 3)
• Brief des Jakobus (Jak 1,19-25)
• Buch Micha (Mi 2,1-6)
• Buch Jesaja (Jes 29,15)
• Psalm 52 (Ps 52,3-6)
English Version
A Very Special Worship Service/1
Friday, September 29
The worship service is always on my mind – but I just can’t manage to describe it. Or do I simply fear the banality of words?
Anyway, I have to try, otherwise I’ll choke on it. I’ll just mine the memory piece by piece, like in a colliery. If I don’t get anywhere, I can still stop the whole thing.
1. The Sermon
On that evening, our large meeting vault was completely covered with soft mats decorated with fancy ornaments. What exactly was depicted on them I could not make out, because the contours, which were difficult to distinguish anyway, blurred even more in the flickering light of the torches. I think there were plants on them, something like branches ramifying further and further.
In retrospect, it seems to me that the upper ends of the leaves on the branches changed into lizard-like creatures, but also into human torsos that touched each other as if in dance and then merged again into a mixture of growing plant and animal. But it may well be that the memory here is already influenced by the later experiences and in reality only unusual colour patterns were visible on the mats.
The nature of the gathering reminded me at first more of a collective relaxation exercise than of a worship service. Everyone had made themselves comfortable in their own way. Some had their arms stretched back and sat there like football players between two training sessions, others preferred to sit cross-legged or sideways with their legs bent backwards.
I myself had my legs slightly bent and my arms around my knees. Given the uncertainty of what was about to happen, I was a little uncomfortable and felt the need to hold on to something. Despite the nonchalance displayed by some participants, the atmosphere was rather tense, especially as no one was talking and nothing but the crackling of the burning torch wood could be heard. Another unpleasant thing was that we all had to put on these rough, baggy robes for the service. They reminded me painfully of my first days here, when I was locked in the dark, damp dungeon.
After a few minutes of waiting, a gentle spherical music started to play from somewhere. It was barely audible, but its pleasantly warm timbre had a calming effect. It seemed as if the room was filled with the steady back and forth flow of waves splashing on the beach.
In this much more relaxed atmosphere, we had to wait for some more time before the sound of a door opening and closing could be heard. The music died away, and immediately afterwards George’s figure emerged from the darkness of the vault. Accompanied by two altar girls carrying some sacred objects, she walked in our direction.
In contrast to the altar girls, who were dressed as plainly as we were, George had put on a solemn robe, which was bright red in its upper half and completely black at the bottom. On closer inspection, however, the black colour shimmered like raven feathers, making it almost more attractive than the warm red of the upper half. George’s hair was covered with a kind of pirate’s shawl, whose deep blue glittered like a starry sky.
When she had reached about the middle of the hall, George turned her back on us. My eyes fell on the inverted cross that was attached to the back of her robe. The vertical black bar that cut into the bright red at the top changed to a garish red in the lower black part of the cloak, like the horizontal bar.
I was surprised by the severity that suddenly emanated from George. She seemed completely transformed, quite different from the coquettish Georgina she usually appeared to the men among us.
As the altar girls knelt devoutly, George raised her arms imploringly and spoke in a loud voice the words: „King of the world, Creator and driving force of life, you who guide our steps in the dark night, I call upon you and ask you: Be present with us today!“
Like the others, I had knelt down as George began to recite the invocation. As soon as she had finished, she turned around, lowered her arms, spread them at her sides at waist level and called out: „Lift up your hearts!“ To which the congregation replied: „We have them lifted up to Him.“
After that, we all returned to a more comfortable sitting position again. George, meanwhile, went to the wooden pulpit attached to one of the front pillars. Before stepping into it, she turned briefly to the altar girls. Apparently following a fixed rite, they were spreading out the utensils they had brought with them on the altar, which was only dimly visible in the darkness of the back vault.
From the pulpit, George looked steadfastly into the depths of the vault, probably to collect herself and to gather her thoughts. Only then did she proceed to the sermon. It obviously consisted of passages from the bible that George had modified for her purposes. This gave the speech something archaic and pathetic, but also a solemn seriousness.
„My friends,“ she began, „you know that we are once again living in a time where those in power are plotting mischief and devising evil in their headquarters. And not only do they plan it – they also carry it out; for they have the power to do so. They claim the wealth of others for themselves and try to usurp it. They want to subjugate foreign countries and subject them to their will. They use violence against the foreign countries, against the owners and their property. They just devour the foreign peoples one by one.“
George had quickly talked herself into a state of excitement. Her lips trembled as she exclaimed: „Shame on those who hide their secret plans so that what they do remains in the dark! They preach honey while they prepare poison. And they point a finger at others while they pursue their murderous plans.“
George let the echo of her words die away in the vault. Then, lowering her voice again, she continued: „We all know: The sun will set on these false prophets, and the day will darken upon them. But this will only happen if you do not allow yourselves to be deceived by anyone and in any way! Never forget that these people are apostles of lies! They will make you paradisiacal promises, so that you can take them for servants of justice. They will keep up the appearance of mercy, but in their hearts, they will deny it.“
Clasping her hands tightly around the railing of the pulpit, as if the strength for her speech was flowing to her from there, George closed her eyes and uttered another solemn curse: „Sons of perdition they are, lawbreakers who pretend to be the law! They love evil more than good and lies more than truthful speech. They want to seduce you into unrighteousness, they want you to close yourselves off to the truth. But if you oppose them, it will be you who will be branded by them as unjust and as spreaders of untruth. For they are intriguers, and their tongue is like a sharp knife.“
Only now did George open her eyes again. As if waking up from a dream, she looked around absentmindedly until she had collected herself again. Then she ended her sermon with the words: „I wish you all to be strong enough to resist these temptations and threats. Never close your hearts to the truth, by which alone we can be saved! May the breath of your mouth reveal the untruth and destroy the evil spread by the greedy prophets with the help of this untruth!“
For a while, everyone remained in silent contemplation, pondering George’s words. In my head, however, there was nothing but a big rushing. I was just too confused by the whole atmosphere and the unfamiliar ceremony.
George’s sermon is based on the following Bible passages:
• 2nd Letter of Saint Paul to the Corinthians (2 Cor 11:14 f.)
• 2nd Letter of Saint Paul to the Thessalonians (2 Thess 2:3-10)
• 1st Letter of Saint Paul to Timothy (1 Tim 4:3-5)
• 2nd Letter of Saint Paul to Timothy (2 Tim 3:5)
• 2nd Letter of Saint Peter (2 Peter 3)
• Letter of Saint James (James 1:19-25)
• Book of Micah (Micah 2:1-6)
• Book of Isaiah (Isaiah 29:15)
• Psalm 52 (Ps 52:3-6)
Bilder / Images: (bearbeitet): Pexels: Arkade / Arcade (Pixabay); Julia Schwab: Klostergewölbe in Battle Abbey, East Sussex / Monastery vault in Battle Abbey, East Sussex (Pixabay)
Eva
Oh, jetzt wird es spannend!
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