Tagebuch eines Schattenlosen/2: Bei den Dunkelmännern/5 / Diary of a Shadowless Man/2: Among the Disciples of Darkness/5
Das Treffen mit George, einer Art Spiritus rector der Dunkelmänner, hält für Theo einige Überraschungen bereit. Diese betreffen allerdings weniger sein neues Umfeld als George selbst.
The meeting with George, a kind of spiritus rector of the Disciples of Darkness, brings some surprises for Theo. These, however, have less to do with his new surroundings than with George.
Mittwoch, 13. September
Der Duft der Erwartung
Kommt es mir nur so vor, oder nimmt die Anspannung um mich her wirklich mit jedem Tag zu? Jetzt sind es nur noch zehn Tage bis zum 23. September, dem Tag, an dem eine der beiden großen Jahresmessen stattfinden soll, die George mir gleich bei unserem ersten Gespräch feierlich angekündigt hatte. Auch wenn niemand offen darüber spricht, scheint es mir doch, als wären seit einiger Zeit alle in Gedanken mit diesem Tag beschäftigt.
Ich frage mich, woher dieser Eindruck eigentlich kommt. Im Grunde ist doch alles wie immer: Morgens gemeinsame „Sammlung“, dann Frühstück, Arbeit in den Gemüsegärten oder in den Klosterwerkstätten (von der nur diejenigen befreit sind, die sich gerade auf eine dieser ominösen „Missionen“ vorbereiten), Mittagessen, Nachmittag zur freien Verfügung und schlie߬lich zweimal die Woche Abendmeditation.
An nichts von alledem hat sich etwas geändert – und doch nehme ich alles anders wahr als sonst. Die Stimmung erinnert mich ein bisschen an die Vorweihnachtszeit, wie ich sie als Kind erlebt habe. Damals hatte ja auch allein die Erwartung des kommenden Festes allen Ereignissen eine besondere Aura verliehen, als wären sie nur dazu da, den Duft des Geheimnisses auszuströmen, das die bevorstehende Feier umgab. Aber vielleicht kommt mir das ja auch nur deshalb so vor, weil mir niemand recht erklären kann (oder will), worin die Besonderheit dieser Jahresmessen eigentlich besteht.
Das war schon bei meiner ersten Begegnung mit George so. Es hieß zwar, ich sei ein Glückspilz, dass ich so kurz vor diesem großen Ereignis zu den Dunkelmännern gestoßen sei. Auf meine Frage, worum genau es sich dabei handle, erhielt ich jedoch auch damals schon keine klare Antwort.
Allerdings hatte ich zu dem Zeitpunkt auch andere Dinge im Kopf. Außerdem war ich noch nicht so tief in das Ge¬meinschaftsleben eingedrungen, dass mir eine in sechs Wochen stattfindende Messe besonders bedeutungsvoll erschienen wäre. Was mir seinerzeit viel wichtiger war, war vor allem George selbst.
Ein Kabinett voller Überraschungen
Ich hatte kaum mein Käsebrot vertilgt, als Lina mich auch schon zu Georges Kabinett brachte. Dort verabschiedete sie sich fürs Erste von mir – Begrüßungen von Neuankömmlin¬gen nehme George stets allein vor.
Nach kurzem Anklopfen trat ich ein. Mein Blick fiel auf eine Frau, die sich in einem schwarzen, hautengen Lederan¬zug auf einem altmodischen Plüschsofa räkelte.
Ich wollte gerade nach George fragen, da sprach mich die Dame an: „Du bist also der Neue? – Komm, setz dich doch!“
Sie wies auf einen Sessel neben dem Sofa. Als ich nicht gleich reagierte, fügte sie mit kokettem Augenaufschlag hinzu: „Ich beiße nicht …“
Verwirrt nahm ich Platz. Ich sah mich vorsichtig um – aber außer uns beiden war niemand zu sehen. Sollte das etwa bedeuten, dass es sich bei George um eine Frau handelte?
Natürlich, der Name konnte auch eine Kurzform von „Georgia“ oder „Georgina“ sein. Aber warum hatte Lina mich dann nicht vorgewarnt? Sie hätte sich doch denken können, dass ich bei dem Namen „George“ zunächst an einen Mann denken würde!
George lächelte, offenbar amüsiert über meine Verwirrung. „Darf ich dir etwas Rotwein anbieten? Ich trinke nachmittags immer ein Schlückchen …“
Ich lehnte nicht ab – etwas Alkohol erschien mir in der Situation als Entspannungshilfe sehr willkommen. Während George den Wein holte, hatte ich Gelegenheit, mich in der Kammer umzusehen. Sie war fast ebenso klein wie die, in der ich untergebracht war. Auf den ersten Blick wirkte sie allerdings größer, weil die Wände nicht so kahl waren und das Zimmer durch eine herausgebrochene Tür mit dem Nebenraum verbunden war, der George als kombiniertes Arbeits- und Schlafkabinett diente.
Die Kammer, in der ich gerade saß, wurde offenbar als Wohn- und Empfangsraum genutzt. Umso mehr befremdeten mich die Bilder, die hier an der Wand hingen. Es handelte sich dabei um Aquarelle, die ausnahmslos nackte Körper zeigten. Einige waren auch in unzweideutigen Posen miteinander vereint.
Als ich George aus dem Nebenraum zurückkommen hörte, wandte ich rasch den Blick von den Bildern ab, wie ein Kind, das bei einer verbotenen Handlung ertappt worden ist. Aber George hatte natürlich längst bemerkt, was meine Aufmerksamkeit fesselte. Vielleicht war sie sogar extra in den Nebenraum gegangen, um mich der Wirkung der Bilder zu überlassen.
„Gefallen dir meine Aquarelle?“ fragte sie, während sie mir Wein einschenkte. „Ich male für mein Leben gern! Gibt es eine bessere Möglichkeit, sich ganz mit seiner Umgebung im Einklang zu fühlen?“
„Ich weiß nicht – ich habe noch nie gemalt …“ Die Unbefangenheit, mit der George über die Bilder redete, verstärkte meine Verunsicherung noch. Mir war plötzlich ganz heiß, meine Gesichtshaut kribbelte – ich war doch nicht etwa er-rötet?
George lächelte vielsagend, während sie sich wieder auf dem Sofa niederließ. „Wenn du möchtest, bringe ich dir gern mal ein paar Kniffe bei“, bot sie mir an.
Sie hatte eine wohlklingende Stimme, die den Raum ganz mit ihrer Präsenz ausfüllte. In Verbindung mit den grellrot bemalten Lippen in ihrem ansonsten – bis auf die Kajalstiftstriche um die Augen – ungeschminkten Gesicht hatte das etwas ausgesprochen Betörendes. Das erleichterte es mir nicht gerade, mich auf unser Gespräch zu konzentrieren. Dass ich den Wein viel zu schnell heruntergekippt hatte, war sicherlich auch nicht hilfreich.
George lehnte sich in ihrer Sofaecke zurück und wurde etwas ernster: „Lina wird dir schon einiges über uns erzählt haben, nehme ich an?“
Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Nur, dass ihr mich entführen musstet, weil ich sonst ihre Mission gefährdet hätte. Aber was das für eine Mission sein soll, hat sie mir nicht verraten.“
„Da hat sie auch gut daran getan.“ George strich sich durch ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar, in dem ein paar rote Strähnen funkelten. Ich überlegte, wie alt sie wohl sein mochte. Ich schätzte sie auf etwa 40 Jahre, aber Lina sagte mir später, dass sie schon über 50 sein soll. An¬dere wieder beteuern, George sei nicht älter als 35.
„Trotzdem wäre ich dankbar für ein paar Erklärungen“, beharrte ich. „Immerhin habt ihr mich gegen meinen Willen hierher ver¬schleppt, mich tagelang in einem stockdunklen Loch schmoren lassen und dann wie Abfall durch ein Kanalrohr gejagt. Da wüsste ich doch recht gern, woher ihr das Recht nehmt, euch so in mein Leben einzumischen!“
George setzte wieder ihr entwaffnendes Lächeln auf. Ich spürte, dass der Wein meine Zunge wohl zu sehr gelöst hatte, und errötete erneut. Dabei war mir das schon seit Jahren nicht mehr passiert!
George sah mich belustigt an – ein bisschen wie eine Grundschullehrerin, die einer Beschwerde des Klassensprechers über die angeblich viel zu zeitaufwändigen Hausarbeiten zuhört. „Wie sagt man doch so schön? – Reisende soll man nicht aufhalten: Wenn du nicht bei uns bleiben möchtest, kannst du jederzeit wieder gehen“, versicherte sie mir.
Sie schenkte mir noch etwas Wein ein. Höflichkeitshalber wehrte ich ab, aber George goss mir das Glas trotzdem bis zum Rand voll. Ich nahm einen Schluck, dann fragte ich: „Und wie soll das möglich sein ohne Schatten?“
George erhob sich, stellte sich vor mich hin und vollführte eine Art von tänzerischer Drehung. Unwillkürlich blickte ich auf die Wand, auf der Suche nach dem Schattenspiel, in das die hereinfallenden Sonnenstrahlen ihre Bewegungen hätten übersetzen müssen – wenn sie einen Schatten gehabt hätte. Aber an der Wand war nichts zu sehen außer einem Aquarell mit ineinander verschwimmenden Leibern, die bei näherem Hinsehen als zwei männliche Körper zu erkennen waren.
„Wir können hier alle recht gut ohne Schatten leben“, bemerkte George, nachdem sie ihre kleine Demonstration beendet hatte. „Vielleicht versuchst du es einfach auch mal eine Zeit lang, und dann sehen wir weiter.“
Dies war schon kein Vorschlag mehr, sondern eher eine Art Befehl. Ich begriff, dass es mir zwar freigestellt war, ob ich mich hier als Gefangener oder als Gast fühlen wollte. So oder so wäre ich aber wohl auf unbestimmte Zeit an diesen Ort gebunden. Umso gespannter war ich auf die Erläuterungen, die George mir geben würde.
Zu meiner Enttäuschung beschränkte George sich bei ihrem kleinen Begrüßungsvortrag allerdings auf allgemeine Dinge: Tagesablauf, Gemeinschaftsleben, etc. Vieles – darunter die Art der Messe, die in zehn Tagen stattfinden soll – blieb offen, und manches verstand ich auch nicht. George meinte jedoch dass dies auch nicht nötig sei. Das meiste müsse ich ohnehin selbst erleben, um es zu begreifen.
Damit war meine Audienz bei der Hohepriesterin dieser obskuren Vereinigung auch schon wieder beendet. Benebelt vom Wein und verwirrt von der seltsamen Begegnung wankte ich zurück in meine Kammer.
English Version
First Encounter with George
Wednesday, September 13
The Scent of Expectation
Is it just my personal impression, or does the tension around me really increase with each passing day? Now there are only ten days left until September 23, the day on which one of the two great annual worship services is to take place, which George solemnly announced to me right at our first conversation. Even though no one is talking about it openly, it seems to me that everyone has been preoccupied with this day in their thoughts for quite some time.
I wonder where this impression actually comes from. Basically, everything is as usual: in the morning, common contemplation, then breakfast, work in the vegetable gardens or in the monastery workshops (from which only those who are preparing for one of these ominous „missions“ are exempt), lunch, afternoon at leisure, and finally evening meditation twice a week.
None of this has changed – and yet I perceive everything differently. The atmosphere reminds me a bit of the pre-Christmas season as I experienced it as a child. In those days, the anticipation of the coming festivities alone had given all events a special aura, as if they were only there to exude the scent of the mystery that surrounded the upcoming celebration. But perhaps it only seems that way to me because no one can (or wants to) explain to me what the special nature of these annual ceremonies actually is.
That was already the case when I first met George. Although I was told that I was lucky to have joined the Disciples of Darkness so shortly before this great event, I did not get a clear answer to my question what exactly it was about.
However, I had other things on my mind at that time. Furthermore, I had not yet penetrated so deeply into the community life that a ceremony taking place in six weeks would have seemed particularly significant to me. What was much more important to me back then was the nature of the person I was getting acquainted with.
A Chamber Full of Surprises
I had hardly finished my cheese sandwich when Lina took me to George’s rooms. There she said goodbye to me for the time being – George would always welcome newcomers alone.
After knocking briefly, I entered. My eyes fell on a woman lolling on an old-fashioned plush sofa in a black, skin-tight leather suit.
I was about to ask for George when the lady addressed me. „So you’re the new guy? – Come in, sit down!“
She pointed to an armchair next to the sofa. As I didn’t respond right away, she added with a flirtatious gleam in her eyes: „I don’t bite …“
Confused, I took a seat. I looked around cautiously – but there was no one to be seen except for the two of us. Did that mean that George was a woman?
Of course, the name could also be a short form of „Georgia“ or „Georgina“. But then why hadn’t Lina prepared me for this? She could have guessed that the name „George“ would automatically make me think of a man!
George smiled, obviously amused by my confusion. „May I offer you some red wine? I always have a sip in the afternoon …“
I did not refuse – a drop of alcohol seemed very welcome to help me relax in the situation. While George fetched the wine, I had a chance to look around the chamber. It was almost as small as the one in which I was accommodated. At first glance, however, it seemed larger because the walls were not so bare and the room was connected by a broken-out door to the next room, which served George as a combined work and sleeping room.
The chamber I was in at the time was apparently used as a living and reception room. All the more I was puzzled by the pictures hanging on the wall. They were watercolours, which showed without exception naked bodies. Some were also united in unambiguous poses.
When I heard George coming back from the neighbouring room, I quickly averted my eyes from the pictures, like a child caught in a forbidden act. But George had, of course, long since noticed what was capturing my attention. Perhaps she had even gone into the next room on purpose to leave me to the effect of the paintings.
„Do you like my watercolours?“ she asked as she poured me some wine. „I love painting for my life! What better way is there to feel completely in harmony with your surroundings?“
„I don’t know – I’m not a passionate painter …“ The ingenuousness with which George talked about the paintings increased my insecurity. I suddenly felt hot, the skin of my face tingled – was I possibly blushing?
George smiled meaningfully as she sat back down on the sofa. „If you want, I’d be happy to teach you a few tricks,“ she offered.
She had a melodious voice that filled the room entirely with her presence. In combination with the bright red painted lips in her otherwise – except for the kohl pencil lines around her eyes – make-up-free face, there was something decidedly beguiling about her appearance. It didn’t exactly make it easier for me to concentrate on our conversation. The fact that I had gulped down the wine far too quickly certainly didn’t help either.
George leaned back in the corner of her sofa and became a little more serious: „Lina has probably already told you a lot about us, I suppose?“
I shook my head. „Actually, no. Only that you had to kidnap me because otherwise I would have endangered her mission. But what that mission is about, she didn’t disclose to me.“
„She did well to do so.“ George stroked her black, short-cropped hair, in which a few red strands sparkled. I wondered how old she might be. I estimated her to be about 40 years old, but Lina later told me that she was said to be over 50. Others claim that George is no older than 35.
„Nevertheless, I would be grateful for some explanations,“ I insisted. „After all, you dragged me to this place against my will, locked me up in a pitch-black hole for days and then chased me like rubbish through a sewer pipe. I’d really like to know who gives you the right to interfere in my life like that.“
George put on her disarming smile again. I felt that the wine had loosened my tongue too much and blushed again – something that hadn’t happened to me for years!
George looked at me with amusement – a bit like a primary school teacher listening to a complaint from the class president about the allegedly far too time-consuming homework. „As the saying goes, don’t stop a traveller: If you don’t want to stay with us, you can leave at any time,“ she assured me.
She poured me some more wine. To be polite, I refused, but George filled my glass to the brim anyway. I took a sip, then asked: „And how do you expect me to live out there again – without a shadow?“
George rose, stood in front of me and performed a kind of dancelike turn. Involuntarily, I looked at the wall, searching for the play of shadows into which the sun’s incoming rays should have translated her movements. But there was nothing on the wall except a watercolour of bodies blurring into each other, which on closer inspection were recognisable as two male bodies.
„We can all live quite well without shadows here,“ George remarked after she had finished her little demonstration. „Maybe you just try it for a while too, and then we’ll see.“
This was no longer a suggestion, but rather a kind of order. I understood that it was up to me whether I wanted to feel like a prisoner or a guest here. Either way, however, I would probably be tied to this place for an indefinite period of time. So I was all the more eager to hear the clarifications that George would offer me.
To my disappointment, George limited our little welcome talk to general things: the daily schedule, community life, etc. Much remained unclear – including the nature of the worship service that is to take place in ten days –, and some things I didn’t understand. But according to George, that was of no consequence. I would have to experience most of it myself anyway to comprehend it.
That was the end of my audience with the high priestess of this obscure association. Dazed by the wine and confused by the strange encounter, I staggered back to my chamber.

Bilder /Images: Enrique Meseguer (Darksouls1): Dualität / Duality (Pixabay); Dorothe (Darkmoon_Art): Phantasie-Tor / Fantasy gate (Pixabay)