Unverhofftes Wiedersehen / Unexpected Reunion

Tagebuch eines Schattenlosen/2: Bei den Dunkelmännern/4 /Diary of a Shadowless Man/2: Among the Disciples of Darkness/4

Die erste Person, die Theo in seiner neuen Unterkunft traf, war Lina. Sie lieferte ihm auch erste Erklärungen für das, was mit ihm geschehen war.

The first person Theo met in his new accomodation was Lina. She also provided him with some initial explanations for what had happened to him.

ENGLISH VERSION

Dienstag, 12. September, nachmittags

Wie ist das noch gewesen, als ich mich vor nunmehr einem Monat in dieser Kammer wiederfand? Als ich plötzlich wieder das Kitzeln des Lichtes auf meinen Augen spürte?
Ich glaube, ich war zunächst verwirrt von all den Erinnerungssplittern, die wie Sternschnuppen an meinem inneren Auge vorbeiflogen. Waren das Traumbilder? Oder hatte ich all das wirklich erlebt?
Irgendwann habe ich mich dann ans Fenster gestellt, mit dem Gesicht zur Tür, um in dem ein¬fallenden Sonnenlicht zu überprüfen, ob ich meinen Schatten wirklich ein zweites Mal verloren hatte. Und tatsächlich: Die Sonnenstrahlen ignorierten mich wieder, genau wie bei meinem ersten Schattenverlust. Nicht das geringste Abbild meines Körpers war auf dem Boden zu erkennen.
Allerdings war ich dieses Mal nicht so entsetzt darüber wie da¬mals. Ich verspürte sogar eher ein Gefühl der Erleichterung – auch wenn ich dies anfangs eher auf die überstandene Dunkelhaft zurückführte.
Als ich noch so dastand und in mich hineinhörte, klopfte es plötzlich an der Tür. Unwillkürlich zuckte ich zusammen – ob ich jetzt wohl zu irgendeinem Verhör abgeholt werden sollte?
Als ich aber die Tür öffnete, stand Lina vor mir. Vor lauter Freude und Erleichterung umarmte ich sie spontan, löste mich dann aber gleich wieder von ihr. Ich schämte mich, ihre Körperdaten an Shadow Colours weiter¬geleitet zu haben.
In Linas Blick lag jedoch nicht der geringste Vorwurf. „Wir haben nicht viel Zeit“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Ich wollte dir nur noch etwas zur Stärkung vorbeibringen, bevor wir zu George gehen.“
Sie trat ins Zimmer und breitete ein Lunchpaket auf dem Tisch aus. Es war, als wären wir nie getrennt gewesen.
„Zu George?“ echote ich, ohne auf den Inhalt ihrer Worte zu achten. Ich war ganz damit beschäftigt, in ihren Augen zu lesen.
„Ach ja, natürlich, du weißt ja noch gar nicht, wo du dich befindest! Das hier ist ein ehemaliges Kloster, das von den Dunkelmännern als Meditations¬zentrum genutzt wird“, erklärte sie mir. „George ist so etwas wie unser Spiritus Rector. – Du hast doch schon von den Dunkelmännern gehört?“
Ich schüttelte den Kopf. Dass ich vom Club der Dunkelmänner früher schon einmal eine E-Mail erhalten hatte, fiel mir erst später wieder ein, als George mich darauf aufmerksam machte.
Lina wirkte überrascht. „Komisch, ich dachte, jemand wie du müsste über die Bescheid wissen. Na ja, aber du hast ja gleich einen Termin bei George – da wirst du alles über unsere Vereinigung erfahren.“
Diese Auskunft war mir nach den vergangenen Tagen dann doch etwas zu knapp. „Dass Kidnapping bei euch ganz oben auf der Tagesordnung steht, habe ich ja schon am eigenen Leib erfahren“, bemerkte ich halblaut.
Ich bereute meine Worte sogleich, als ich sah, wie liebevoll Lina den Imbiss auf dem Tisch angerichtet hatte. Sie schien mir den kleinen Gefühlsausbruch allerdings nicht übel zu nehmen. „Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich jetzt fühlst“, sagte sie, während sie den Ersatzstuhl von der Wand an den Tisch heranzog. „Mir ist es auch nicht anders gegangen, als ich hierhergekommen bin.“
Ich setzte mich zu ihr an den Tisch. „Was? Soll das heißen, dass du auch diese Dunkelhaft über dich ergehen lassen musstest?“ Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass man sie hier freundlicher behandelt hatte als mich.
Lina schnipselte ein paar Gurkenscheiben auf das Käsebrot in der geöffneten Brotdose und schob diese vor mich hin. „Ja, ich habe das auch alles mitgemacht“, bestätigte sie. „Schließlich hatte ich mich ja auch mit Shadow Colours eingelassen. Und die einzige Möglichkeit, deren Schattenattrappen wieder loszuwerden, ist nun einmal die Dispersionsmethode. Dabei wird der künstliche Schatten in einer simulier¬ten Totalfinsternis vom Körper abgetrennt und dann in der umgebenden Dunkelheit aufgelöst.“
Ich biss mit großer Lust in das Käsebrot. Nie hatte ich etwas Köstlicheres gegessen! „Und wann haben sie dich ge¬schnappt?“ fragte ich mit vollem Mund.
„So würde ich das nicht nennen“, korrigierte mich Lina. „Der Ausdruck scheint mir eher auf Shadow Colours zu passen. Bei mir war es so, dass ich gleich nach unserer Unterhaltung in dem Gartencafé … Erinnerst du dich überhaupt noch daran?“
Ich nickte – dabei hatte ich den Inhalt des Gesprächs schon fast vergessen.
„Nun, damals hatte ich auf einmal das Gefühl“, fuhr Lina fort, „als würde ein Fremder sich in mein Gehirn einloggen und es systematisch umpolen. Da habe ich mich dann an die E-Mail von den Dunkelmännern erinnert, die ich nicht lange nach meinem Schattenverlust erhalten hatte. Als die hörten, dass ich die Schattenadhäsion schon hinter mir hatte, haben sie sofort einen Termin mit mir ausgemacht, wie bei einem Notfall, und dann bin ich sofort …“
„Warte mal“, unterbrach ich sie. „Soll das heißen, dass du freiwillig in dieses Verlies gegangen bist?“
Lina lächelte mich nachsichtig an. „Es war meine einzige Chance. – Du wirst auch noch merken, dass das hier keine Verbrecherorganisation ist.“
In diesem Punkt war ich mir noch immer nicht ganz sicher – auch wenn Linas Anwesenheit hier in der Tat nicht für kriminelle Absichten sprach. „Aber … warum hat man mich dann entführt?“ fragte ich vorsichtig.
„Das hast du mir zu verdanken“, gestand sie freimütig.
Sie hielt kurz inne, um mir Zeit zu geben, meinen Schrecken zu verdauen. Dann erklärte sie: „Ich werde demnächst an einer wichtigen Mission der Dunkelmänner teilnehmen, die du durch die Meldung an Shadow Colours in Gefahr gebracht hast. In einer solchen Situation gibt es für uns zwei Möglichkeiten: Wir können den Denunzianten über unsere Kanäle in Verruf bringen, so dass seine Meldung unglaubwürdig erscheint. Als potenzieller Saboteur wird er dann von seinen eigenen Leuten überwacht und – wobei wir natürlich kräftig nachhelfen – allmählich von ihnen fallen gelassen.“
Sie sah mich ernst an. „Am Ende steht das soziale Abseits, mit dem der Betreffende umso weniger klar kommt, als er in seinem eigenen Schatten gefangen bleibt und deshalb gar nicht verstehen kann, was mit ihm passiert. Dieses Schicksal wollte ich dir ersparen. Ich habe mich deshalb bei George dafür verbürgt, dass aus dir ein zuverlässiges Mitglied unserer Gemeinschaft werden kann, wenn man dir die Chance dazu gibt.“
Eine recht gewöhnungsbedürftige Logik, dachte ich. Sollte ich mich jetzt etwa geschmeichelt fühlen, dass man mich erst verschleppt, dann tagelang wie einen Schwerverbrecher eingesperrt und schließlich auf eine halsbrecherische Reise durch ein Abwasserrohr geschickt hatte?
Ich biss noch einmal in das Käsebrot. „Also ehrlich, Lina, bei aller Liebe – ich weiß nicht, ob du da nicht zu viel von mir erwartest.“
Aber Lina ließ sich nicht beirren. „Natürlich bekommst du eine Probezeit. Danach kannst du dich frei entscheiden, ob du bei uns bleiben oder dein früheres Leben wieder aufnehmen willst.“
„Und mein Schatten?“ wollte ich wissen.
„Der ist nun allerdings aufgelöst“, erklärte Lina ungerührt. „Bei einer Rückkehr in dein altes Leben müsstest du dir von der Schattenermittlungsstelle einen Behelfsschatten ausstellen lassen.“
Bei der Erwähnung der S.E.S. stieg sofort dieses Gefühl des Ausgeliefertseins und der Erniedrigung in mir auf, das mich damals in die Arme von Shadow Colours getrieben hatte. Von dem Augenblick an wusste ich, dass es für mich kein Zurück mehr gab. Ich musste mich mit meiner Situation abfinden, ob ich wollte oder nicht.
Lina sah auf die Uhr. „Ich glaube, wir sollten uns langsam auf den Weg machen. George hat immer einen ziemlich vollen Terminkalender.“
Damit erhob sie sich und zeigte mir die Kleider, die im Schrank für mich bereitlagen. Ich sah, dass es sich um eine Auswahl meiner eigenen Kleider handelte, die offenbar mit Bedacht zusammengestellt worden war. Mein Schlafanzug war darunter, auch meine Trainingshose, zwei Pullover, zwei Hemden, zwei Hosen, Unterwäsche, Strümpfe, eine Winterjacke – nur der Anzug fehlte.
Ich er¬schrak zwar bei dem Gedanken, dass jemand in meine Wohnung eingebrochen war, war aber doch froh, endlich dieses kartoffelsackartige Gebilde ausziehen zu können, das mittlerweile schon vor Dreck starrte und nach Schweiß und fauligem Wasser stank.

English Version

Unexpected Reunion

Tuesday, September 12, in the afternoon

What was it like when I found myself in this chamber about a month ago? When I suddenly felt the tickling of the light on my eyes again?
I think I was confused at first by all the memory shards that flew past my inner eye like shooting stars. Were they dream images? Or had I really experienced all this?
At some point I went to the window and turned around, face to the door, to check in the incoming sunlight whether I had really lost my shadow a second time. And sure enough, the sun rays ignored me again, just like the first time I had lost my shadow. Not the slightest image of my body was visible on the floor.
However, this time I was not as horrified by it as I had been then. Rather, I felt a sense of relief – even if at first I attributed it more to the fact that I had survived the imprisonment in the dark dungeon.
While I was busy watching myself, there was a sudden knock at the door. I involuntarily winced – was I about to be taken away for some kind of interrogation?
But when I opened the door, Lina was standing in front of me. Out of sheer joy and relief, I spontaneously embraced her, but then immediately detached myself from her again. I was ashamed to have passed on her body data to Shadow Colours.
To my surprise, there was no trace of reproach in Lina’s gaze. „We don’t have much time,“ she said in a calm voice. „I just wanted to bring you something to eat before we go to see George.“
She stepped into the room and unfolded a packed lunch on the table. It was as if we had never been apart.
„To see George?“ I echoed, not paying attention to the content of her words. I was completely occupied with reading her eyes.
„Oh, I forgot, you don’t even know where you are yet! This is a former monastery used by the Disciples of Darkness as a meditation center,“ she explained. „George is something like our spiritus rector. – You’ve heard of the Disciples of Darkness, haven’t you?“
I shook my head. The fact that I had received an e-mail from the Disciples of Darkness some years ago did not occur to me until later, when George pointed it out to me.
Lina looked astonished. „Strange, I thought someone like you would know about them. But anyway, you’ll find out all about our association in your conversation with George.“
This information was a bit too scarce for me after the past few days. „After all, I’ve already experienced firsthand that kidnapping is at the top of your agenda,“ I remarked half aloud.
I immediately regretted my words when I saw how lovingly Lina had arranged the snack on the table. She didn’t seem to resent my little emotional outburst, though. „I can well imagine how you feel now,“ she uttered as she pulled the spare chair from the wall to the table. „I felt the same way when I first came here.“
I joined her at the table. „Are you saying that you also had to endure this confinement in the dark?“ Somehow I had assumed that they had treated her more kindly here than me.
Lina snipped a few slices of cucumber onto the cheese sandwich in the open lunch box and passed it over to me. „Yes, I went through all that too,“ she confirmed. „After all, I also had a deal with Shadow Colours. And the only way to get rid of their artificial shadows is the dispersion method. It removes the artificial shadow from the body in a simulated total eclipse, and then dissolves it into the surrounding darkness.“
I bit into the cheese sandwich with great relish. Never had I eaten anything more delicious! „And when did they catch you?“ I asked with my mouth full.
„I wouldn’t say it that way,“ Lina corrected me. „The way you put it, it rather makes me think of Shadow Colours. In my case, it was right after our conversation in the garden café that I … Do you recall that at all?“
I nodded – although I had almost forgotten the content of the conversation.
„Well, at that time I suddenly had the feeling,“ Lina continued, „as if a stranger was logging into my brain and systematically reprogramming it. That’s when I remembered the e-mail I had received from the Disciples of Darkness after I had lost my shadow. When they heard I’d already undergone the shadow adhesion, they immediately made an appointment with me, like in an emergency, and then I immediately …“
„Wait a minute,“ I interrupted her, „are you saying that you voluntarily let yourself be locked in that dungeon?“
Lina smiled at me indulgently. „It was my only chance. – You too will realise that the Disciples of Darkness are not a criminal organisation.“
I was still not quite sure about that point – even though Lina’s presence here did indeed not indicate criminal intentions. „But … why did they kidnap me then?“ I asked cautiously.
„That was my idea“, she confessed frankly.
She paused for a moment to give me time to digest my shock. Then she explained: „I will soon be taking part in an important mission of the Disciples of Darkness, which you have put in danger by reporting my personal data to Shadow Colours. In such a situation, there are two options for us: We can use our networks to discredit the informant, so that his report appears untrustworthy. As a potential saboteur, he will then be monitored by his own people and – with our assistance, of course – gradually be dropped by them.“
She looked at me seriously. „All this ends up with social exclusion, which is very hard to cope with. After all, the person concerned remains trapped in the artificial shadow and therefore cannot even understand what is happening. This is a fate I wanted to spare you. That is why I have assured George that you can become a reliable member of our community if you are given the chance.“
A logic that doesn’t immediately stand to reason, I thought. Was I supposed to feel flattered that I had first been kidnapped, then locked up for days like a felon and finally sent on a breakneck journey through a sewage pipe?
I took another bite of the cheese sandwich. „Honestly, Lina – I don’t know if you’re not expecting too much from me“.
But Lina remained unperturbed. „Of course you’ll get a trial period. After that, you’re free to decide whether you want to stay with us or resume your former life.“
„And my shadow?“ I asked.
„Well, your fake shadow is dissolved now, of course,“ Lina explained unmoved. „If you should want to return to your old life, you would have to request a makeshift shadow from the Shadow Ivestigation Agency again.“
The mention of the S. I. A. immediately stirred up that feeling of abandonment and humiliation in me that had driven me into the arms of Shadow Colours back then. From that moment on, I knew that there was no turning back for me. I had to come to terms with my situation, whether I wanted to or not.
Lina looked at her watch. „I think we’d better get going. George always has a pretty full schedule.“
With that, she stood up and showed me the clothes that were waiting for me in the wardrobe. I realised that they were a selection of my own clothes, which had obviously been put together with care. My pyjamas were among them, as well as my tracksuit bottoms, two pullovers, two shirts, two pairs of trousers, underwear, stockings, a winter jacket – only the suit was missing.
Admittedly, I shuddered at the thought that someone had broken into my apartment. Nevertheless, I was glad that I could finally take off this potato-sack, which after my time in the dungeon was all covered with filth and reeked of sweat and putrid water.

Bilder /Images: Dorothe (Darkmoon_Art): Liebespaar / Lovers (Pixabay) / Dirk Brechmann: Hot Dog (Pixabay)

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