Über den italienischen Dichter Giosuè Carducci /About the Italian Poet Giosuè Carducci
Mit einer Nachdichtung seines Gedichts San Martino / With an English Adaptation of his Poem San Martino
Giosuè Carducci (1835 – 1907) war im Alter eine anerkannte Dichter-Ikone seines Landes. In seiner Jugend war er jedoch ausgesprochen rebellisch und feierte in einer Hymne sogar den Satan, als Gegenpol zum Establishment seiner Zeit.
San Martino / Sankt Martin
Über die wogenden Hügel
streut der Nebel seine feuchten Funken.
Schäumend bäumt sich das Meer
unter der Peitsche des Mistrals.
Lockend lacht durch das Dorf
der bittere Geruch des Weines,
rauschhaftes Vergessen säend
in den ankerlosen Seelen.
Pfeifend legt auf die Scheite
der Jäger das blutende Wild.
Knisternd funkelt das Fleisch
im Dornenbusch des Feuers.
Durch den Rosensee der Wolken
ziehen schwarze Rabenschwärme,
flüchtige Gedankenflotten
auf dem Geistermeer des Abends.
Freie Nachdichtung von Giosuè Carducci: San Martino (1883); aus: Rime nuove (1887), Gedichte aus den Jahren 1861 – 1887. In: Poesie di Giosuè Carducci, S. 535 – 776, hier S. 624 f. Bologna 1906: Zanichelli.
Leidenschaftlicher Kirchenkritiker
Kirchenkritik als Motor der italienischen Einheit
Ein Freigeist, aber kein Atheist
San Martino: ein Beispiel für die Naturlyrik des Spätwerks
Eine satanische Provokation
1869 veröffentlichte die Zeitung Il Popolo (Das Volk) Giosuè Carduccis Hymne A Satana (An Satan). Die Publikation des 1865 erstmals erschienenen Gedichts war eine gezielte Provokation. Denn zeitgleich wurde in Rom das erste Vatikanische Konzil eröffnet.
Hätten die Konzilsmitglieder sich die Hymne genauer angesehen – was sie natürlich nicht getan haben –, hätten sie allerdings feststellen können, dass es sich bei dem Autor keineswegs um einen Satanisten handelte. Carducci (1835 – 1907) knüpfte mit der Bezugnahme auf Satan vielmehr an die Aufklärung und die Gedanken der französischen Frühsozialisten an.
Als Gegenspieler Gottes stand der Satan dabei zunächst für das freie, kritische Denken, das sich nicht in das enge Korsett einer wie auch immer gearteten religiösen Weltdeutung pressen lässt. Dementsprechend wird er in Carduccis Hymne A Satana auch als „siegreiche Kraft der Vernunft“ („forza vindice de la ragione“) gefeiert (1) – was deutlich an den „Kult der Vernunft“ zu Beginn der Französischen Revolution erinnert.
Leidenschaftlicher Kirchenkritiker
Gleichzeitig enthält die Aufwertung des Satans gegenüber dem christlichen Gott jedoch auch ein sozialkritisches Element. Gemeinsam mit der göttlichen Ordnung wird dabei nämlich auch das abgelehnt, was von kirchlichem und weltlichem Adel als deren weltliches Ebenbild ausgerufen worden war: die Ständegesellschaft. Ihr wird die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen gegenübergestellt.
Dieser im Frühsozialismus etwa von Michel Proudhon herausgestellte Gedanke (2) ist ansatzweise allerdings auch immer wieder von den kirchlichen Reformbewegungen formuliert worden. So verwirft Carducci mit seiner Anrufung des Satans auch nicht den christlichen Glauben als solchen. Was er kritisiert, ist vielmehr eine Amtskirche, die die verschiedenen Ansätze zu einer „Reform an Haupt und Gliedern“ immer wieder im Keim erstickt hat.
In der Hymne An Satan entspricht dem die positive Bezugnahme auf Personen, die sich um eine Erneuerung der Kirche im Geist des Urchristentums bemüht haben, wie Jan Hus, Girolamo Savonarola oder John Wyclif. Bezogen auf das Vatikanische Konzil, ist das Gedicht demnach als Aufforderung zu verstehen, die Bemühungen um eine Kirchenreform ernst zu nehmen, anstatt das Konzil nur für eine Absicherung der Macht der Amtskirche und insbesondere der päpstlichen Kurie zu nutzen. Eben dies ist dann allerdings – insbesondere durch den Beschluss zur Unfehlbarkeit des Papstes – geschehen.
Kirchenkritik als Motor der italienischen Einheit
Die Ideen der Aufklärung waren in Italien stets eng mit der Bewegung des Risorgimento (Wiedergeburt/Wiederbelebung) verbunden. Deren zentrales Ziel war die Errichtung eines einheitlichen italienischen Nationalstaates. Der Gedanke einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen wurde hier demzufolge auch als eine Art theoretischer Überbau für den Kampf gegen die in den einzelnen Territorien herrschenden Adelsgeschlechter eingesetzt.
1861 war das Ziel eines italienischen Nationalstaats fast vollendet. Ähnlich wie in Deutschland hatte es allerdings nicht als Bewegung von unten, als demokratisches Projekt, verwirklicht werden können. Stattdessen hatte sich das Haus Savoyen die Bewegung zunutze gemacht, um seinen Machtanspruch auf ganz Italien ausdehnen zu können. An die Stelle der erhofften Republik trat deshalb eine konstitutionelle Monarchie.
Der einzige Ort der Halbinsel, der noch nicht in das neue Königreich Italien eingegliedert worden war, war der Kirchenstaat. Als glühender Verfechter der italienischen Einheit wandte sich Carducci mit seiner Hymne An Satan daher auch gegen diesen Umstand.
Tatsächlich gelang es den Truppen des Königs bereits 1870, wenige Monate nach Beginn des ersten Vatikanischen Konzils, den Kirchenstaat zu erobern. Sie nutzten dafür die Inanspruchnahme Frankreichs, das als Schutzmacht des Vatikanstaats fungiert hatte, durch den Deutsch-Französischen Krieg.
Ein Freigeist, aber kein Atheist
Carduccis Hymne An Satan traf so gleich auf zwei Ereignisse von säkularer Bedeutung: auf das erste Vatikanische Konzil, das die Unbelehrbarkeit der Amtskirche auf schmerzliche Weise untermauerte, und auf die Vollendung der italienischen Einheit.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Autor mit diesem Langgedicht zu dauerhafter Popularität in Italien gelangte. Freilich war er 1869, als die Zeitschrift Il Popolo die Hymne A Satana den Konzilsmitgliedern mahnend vor Augen hielt, längst kein unbeschriebenes Blatt mehr.
Bereits 1861 war Carducci in Bologna zum Professor für italienische Literatur ernannt worden. Auch aus seinen freigeistigen Ansichten hatte er nie ein Geheimnis gemacht. So sympathisierte er offen mit der Freimaurerei und war auch in verschiedenen Logen Mitglied.
Entsprechend den Grundüberzeugungen der Freimaurer, die zwar einen Alleinanspruch des christlichen Gottes ablehnen, sehr wohl aber an die Existenz eines höheren Wesens glauben, war auch Carducci nie ein reiner Atheist. Zu Ruhm und Ansehen gelangt und ein wichtiger Repräsentant des geistigen Lebens seines Landes, versöhnte er sich später sogar mit der christlichen Kirche und wurde 1895 wieder in sie aufgenommen – was ihm unter seinen früheren Bewunderern teils heftige Kritik einbrachte.
San Martino: ein Beispiel für die Naturlyrik des Spätwerks
Als Professor in Bologna wurde Carducci zu einem wichtigen Förderer junger Talente, u.a. des Dichters Giovanni Pascoli, der später seine Nachfolge auf dem Lehrstuhl für italienische Literatur antrat. Zugleich hat er zahlreiche literaturkritische Werke verfasst.
In seinem dichterischen Werk hat Carducci sich in seinen späteren Jahren von der pathetischen Dichtung des Frühwerks wegbewegt und einen leiseren, an der Naturpoesie orientierten Ton entwickelt. Dieser war auch der Hauptgrund für die Verleihung des Nobelpreises, den Carducci 1906, wenige Monate vor seinem Tod, als erster italienischer Autor zugesprochen bekam. Das Nobelpreiskomitee sah darin insbesondere eine Anerkennung der „kreativen Energie, der Klarheit des Stils und der lyrischen Kraft, die seine poetischen Meisterwerke auszeichnen“ (3).
Ein Beispiel für die Naturpoesie des späteren Carducci ist auch das hier vorgestellte Gedicht San Martino. Es trug ursprünglich den Titel Autonno (Herbst), was vielleicht auch besser zu der allgemeinen Beschwörung einer herbstlichen Stimmung passt. Der neue Titel des Gedichts scheint so auch vor allem auf den Spätherbst hinzudeuten – der Namenstag von Sankt Martin ist der 11. November.
Der Bezug zu dem Heiligen ergibt sich eher indirekt, insbesondere durch die Erwähnung des Weins. Als Bestandteil der Eucharistiefeier lässt er an die Stiftung einer neuen, tieferen Gemeinschaft und die damit zusammenhängende Unbedingtheit solidarischen Handelns denken. Eben dies klingt auch in Martin von Tours Teilung seines Mantels mit dem Bettler an, jener ikonischen Tat, die als zentrales Signum dieses Heiligen gilt.
Nachweise
- Carducci, Giosuè: A Satana (entstanden 1863). In: Poesie di Giosuè Carducci, S. 377 – 385 (hier S. 385). Bologna 1906: Zanichelli.
- Vgl. Proudhon, Michel: De la justice dans la révolution et dans l’église, Bd. 1, S. 408. Paris 1858: Garnier Frères.
- Zit. nach Giosuè Carducci – Premio Nobel per la Letteratura 1906; langolodeilibri.it, 2014.
English Version
Poetic Rebel
About the Italian Poet Giosuè Carducci
With an English Adaptation of his Poem San Martino
Giosuè Carducci (1835 – 1907) was a renowned poet of his country in his old age. In his youth, however, he was decidedly rebellious and even celebrated Satan in a hymn, as an antithesis to the establishment of his time.
San Martino / Saint Martin
Over the undulating hills
the mist scatters its damp sparks.
Foaming, the sea rears up
under the lash of the mistral.
The bitter smell of wine
laughs luringly through the village,
sowing inebriating oblivion
in the anchorless souls.
Whistling, the hunter tosses
the bleeding deer onto the wood fire.
Crackling, the meat sparkles
in the thorn bush of the flames.
Curling the rose pond of clouds,
black flocks of ravens drift along,
ephemeral fleets of thoughts
on the ghostly sea of the evening.
Free English adaptation from: Giosuè Carducci: San Martino (1883); in: Rime Nuove (1887), Poems from the years 1861 – 1887 (Poesie di Giosuè Carducci, p. 535 – 776, here p. 624 f. Bologna 1906: Zanichelli).
Church Criticism as a Motor of Italian Unity
A Free Spirit, but not an Atheist
San Martino: an Example of the Nature Poetry of Carducci’s Late Work
A Satanic Provocation
In 1869, the journal Il Popolo (The People) published Giosuè Carducci’s hymn A Satana (To Satan). The publication of the poem, which had first appeared in 1865, was a deliberate provocation. For at the same time, the first Vatican Council was opened in Rome.
If, however, the members of the Council had taken a closer look at the hymn – which of course they did not –, they could have realised that the author was by no means a Satanist. With his reference to Satan, Carducci was rather taking up the ideas of the Enlightenment and the thoughts of the early French socialists.
As God’s adversary, Satan here initially stood for a free, critical thinking that refused to be constrained by the narrow corset of any kind of religious interpretation of the world. Accordingly, in Carducci’s hymn A Satana, Satan is celebrated as the „victorious power of reason“ („forza vindice de la ragione“) (1) – which is clearly reminiscent of the „Cult of Reason“ at the beginning of the French Revolution.
Passionate Church Critic
At the same time, however, the revaluation of Satan in relation to the Christian God also contains a socially critical element. Together with the divine order, it also rejects what the ecclesiastical and secular nobility had proclaimed to be its worldly counterpart: the corporative society. This is contrasted with the original equality of all people.
This idea, which for example was emphasised by Michel Proudhon in Early Socialism (2), has, however, also been formulated several times by the ecclesiastical reform movements. With his invocation of Satan, Carducci therefore does not reject the Christian faith as such. What he criticises is rather the official church that has repeatedly nipped in the bud the various approaches to a fundamental reform.
In the hymn To Satan, this corresponds to the positive reference to persons who have endeavoured to renew the church in the spirit of early Christianity, such as Jan Hus, Girolamo Savonarola or John Wyclif. With regard to the Vatican Council, the poem is thus to be understood as a call to take the efforts for church reform seriously, instead of using the Council only to secure the power of the official church and especially the papal curia. However, this is precisely what happened in the end – as witnessed above all by the decision on the infallibility of the Pope.
Church Criticism as a Motor of Italian Unity
In Italy, the ideas of the Enlightenment were always closely linked to the Risorgimento (Revival) movement. Its central goal was the establishment of a unified Italian nation state. The idea of an original equality of all people was consequently used here as a kind of theoretical superstructure for the struggle against the noble families ruling in the individual territories.
In 1861, the goal of an Italian nation state was almost achieved. Similar to Germany, however, it could not be realised as a movement from below, as a democratic project. Instead, the House of Savoy had taken advantage of the movement to extend its claim to power to the whole of Italy. The desired republic therefore had to be abandoned in favour of a constitutional monarchy.
The only place on the peninsula that had not yet been incorporated into the new Kingdom of Italy was the Papal States. As a fervent advocate of Italian unity, Carducci therefore also spoke out against this circumstance with his hymn To Satan.
In fact, the king’s troops succeeded in conquering the Papal States only a few months after the beginning of the Vatican Council in 1870. To do so, they took advantage of the weakening of France, which had acted as the protecting power of the Vatican State, due the Franco-Prussian War.
A Free Spirit, but not an Atheist
Carducci’s hymn To Satan thus coincided with two events of secular significance: the first Vatican Council, which painfully underlined the incorrigibility of the mainstream church, and the completion of Italian unity.
Against this background, it is not surprising that the author achieved lasting popularity in Italy with this long poem. However, in 1869, when the journal Il Popolo presented the hymn A Satana to the members of the Council, he was no longer a newcomer to the cultural scene of his country.
As early as 1861, Carducci had been appointed professor of Italian literature in Bologna. Moreover, he had never made a secret of his free-thinking views. For example, he openly sympathised with Freemasonry and was a member of various lodges.
In accordance with the basic convictions of Freemasons, who reject the exclusive claim of the Christian God but do believe in the existence of a higher being, Carducci was never a pure atheist. Having achieved fame and reputation and having become an important representative of the cultural life of his country, he later even reconciled with the Christian Church and was readmitted to it in 1895 – which brought him some harsh criticism from his former admirers.
San Martino: an Example of the Nature Poetry of Carducci’s Late Work
As a professor in Bologna, Carducci became an important promoter of talented young writers, including the poet Giovanni Pascoli, who later succeeded him in the chair of Italian literature. At the same time, he wrote numerous works of literary criticism.
In his poetic work, Carducci moved away from the pathetic poetry of his early work in his later years and developed a calmer tone oriented towards nature poetry. This was also the main reason why he was awarded the Nobel Prize in 1906, a few months before his death, becoming the first Italian author to receive it. The Nobel Committee saw this as recognition in particular of the „creative energy, clarity of style and lyrical power that characterise his poetic masterpieces“ (3).
The poem San Martino presented here can be seen as an example of Carducci’s later nature poetry. It was originally entitled Autonno (Autumn), which perhaps even fits better with the general evocation of an autumnal mood. The new title of the poem hence seems to refer primarily to late autumn – Saint Martin’s name day is November 11.
The reference to the saint is more indirect, especially through the mention of wine. As a component of the Eucharistic celebration, it brings to mind the creation of a new, deeper community and the associated unconditionality of solidarity. This is also echoed in Martin of Tours‘ sharing of his cloak with the beggar, the iconic act that is considered a central sign of this saint.
References
- Carducci, Giosuè: A Satana (written 1863). In: Poesie di Giosuè Carducci, p. 377 – 385 (here p. 385). Bologna 1906: Zanichelli.
- Cf. Proudhon, Michel: De la justice dans la révolution et dans l’église, tome 1, p. 408. Paris 1858: Garnier Frères.
- Quoted after Giosuè Carducci – Premio Nobel per la Letteratura 1906; langolodeilibri.it, 2014.
Bild /Image: Albert Bierstadt (1830 – 1902): Autumn Landscape in the Catskill Mountains / New York (Wikimedia commons)