Octavio Paz: Entre irse y quedarse (Zwischen Bleiben und Verschwinden / Between Staying and Disappearing)

Ein Augenblick außerhalb der Zeit / A Moment out of Time

An unserem Poetry Day unternehmen wir heute eine Reise nach Mexiko, zu einem Dichter, der selbst im Unterwegssein zu Hause war. Vielleicht sehnte er sich gerade deshalb nach jenen seltenen Momenten innerer Ruhe, wie sie sie sich in dem hier vorgestellten Gedicht widerspiegeln.

Ein engagierter Dichter

Surrealistische Einflüsse und essayistische Reflexion

Diplomat, Hochschullehrer, Publizist

Zu dem hier vorgestellten Gedicht

Entre irse y quedarse mit deutscher Nachdichtung

English Version

Ein engagierter Dichter

Der mexikanische Dichter und Diplomat Octavio Paz (1914 – 1998), 1990 mit dem Literaturnobelpreis geehrt, studierte zunächst Jura und Literaturwissenschaften in Mexiko-Stadt. Im Alter von 22 Jahren unterbrach er sein Studium, um als Lehrer auf der südmexikanischen Halbinsel Yucatán zu wirken. Dabei ging es ihm insbesondere darum, den Kindern armer Landarbeiter und Bauern eine angemessene Bildung zu vermitteln.
Diese Entscheidung markiert gewissermaßen eine Nahtstelle im Leben des Autors. Sie ist zum einen von seinem familiären Hintergrund beeinflusst: Sein Vater war ein enger Vertrauter von Emiliano Zapata, einem der Anführer der mexikanischen Revolution der 1910er Jahre. Zum anderen ist jedoch auch das dichterische Werk von Octavio Paz anfangs stark von seinem sozialen Engagement beeinflusst. Hiervon zeugt etwa seine 1941 erschienene Gedichtsammlung Entre la Piedra y la Flor (Zwischen Stein und Blume).
Nicht zu unterschätzen ist wohl auch der Einfluss von Pablo Neruda auf das Werk von Octavio Paz. Nachdem er dessen frühe Schriften schon während seines Studiums kennengelernt hatte, lernte Paz den chilenischen Dichter 1937 auf dem Zweiten Internationalen Schriftstellerkongress, auf dem die Unterstützung der republikanischen Kräfte im Spanischen Bürgerkrieg im Vordergrund stand, auch persönlich kennen. Nach 1945, als Paz in Frankreich lebte und arbeitete, kam es auch zu einer literarischen Zusammenarbeit der beiden Dichter.

Surrealistische Einflüsse und essayistische Reflexion

Die Zeit in Frankreich spiegelt sich im Werk von Paz auch insofern wieder, als er dort verstärkt mit den Ideen des Surrealismus in Berührung kam. Hiervon ist u.a. sein 1957 entstandenes Langgedicht Piedra de Sol (Sonnenstein) beeinflusst.
In Paris ist auch das bedeutendste Essay von Octavio Paz entstanden, El Laberinto de la Soledad (Das Labyrinth der Einsamkeit). 1950 erschienen, 1959 überarbeitet und 1970 erweitert, bietet es eine Art Psychogramm der mexikanischen Seele. Einfühlsam beschreibt der Autor darin die schwierige mexikanische Identitätsfindung, die sich aus der gleichzeitigen Verwurzelung in der spanischen Kultur und den vorkolumbianisch-mesoamerikanischen Kulturen der Maya, der Azteken und anderer autochthoner Völker ergibt.

Diplomat, Hochschullehrer, Publizist

Auch auf seinen anderen Stationen als Botschafter hat Octavio Paz stets ein lebhaftes Interesse für die fremden Kulturen gezeigt und Elemente davon in sein literarisches Schaffen aufgenommen. So hat etwa seine Tätigkeit in Japan und in Indien eine intensive Beschäftigung mit Buddhismus und Taoismus angeregt.
Nachdem die mexikanische Regierung 1968 Proteste von Studierenden blutig niedergeschlagen hatte, schied Paz aus Protest aus dem diplomatischen Dienst aus. Fortan widmete er sich ganz seiner Publikationstätigkeit und hielt Vorträge an einigen bedeutenden Hochschulen, u.a. an der Cornell- und der Harvard-Universität in den USA sowie an der Universität Cambridge in Großbritannien.
Daneben kümmerte er sich um die von ihm herausgegebenen Literaturzeitschriften. Plural erschien bis 1975, als die Zeitschrift in Mexiko verboten wurde. Die Nachfolgepublikation hieß Vuelta und erschien bis zum Tod des Autors im Jahr 1998.

Zu dem hier vorgestellten Gedicht

Das hier vorgestellte Gedicht entstammt der letzten, 1987 erschienenen Gedichtsammlung von Octavio Paz, mit Texten aus den Jahren 1976 bis 1986. Wie der Titel des Bandes – Árbol Adentro (Der Baum im Inneren / in mir) – andeutet, steht hierbei der Blick nach innen im Vordergrund.
Dem entspricht auch der kontemplative Ton des Gedichts Entre irse y quedarse (Zwischen Bleiben und Verschwinden). Der äußeren Situation der Dämmerung, in der der Tag für einen kurzen Moment an der Schwelle zwischen Licht und Dunkelheit schwankt, korrespondiert die Reflexion über das eigene Leben, das nur als eine Atempause zwischen dem Noch-Nicht-Sein und dem Nicht-Mehr-Sein erscheint.
Gleichzeitig steht dieser Augenblick außerhalb der Zeit sinnbildlich für das geistige Wachstum, das sich in eben dieser Atempause vollzieht: Es führt zu einer Ahnung der Wahrheit, ohne diese doch je ganz erfassen zu können. Was wir sehen, ist immer nur deren Widerschein in den äußeren Abbildern der Dinge. Nur in den seltenen Atempausen, in denen die Zeit stillzustehen scheint, erhaschen wir einen Blick hinter die Dinge.

Entre irse y quedarse mit deutscher Nachdichtung

Octavio Paz:
Entre irse y quedarse

Entre irse y quedarse duda el día,
enamorado de su transparencia.

La tarde circular es ya bahía:
en su quieto vaivén se mece el mundo.

Todo es visible y todo es elusivo,
todo está cerca y todo es intocable.

Los papeles, el libro, el vaso, el lápiz
reposan a la sombra de sus nombres.

Latir del tiempo que en mi sien repite
la misma terca sílaba de sangre.

La luz hace del muro indiferente
un espectral teatro de reflejos.

En el centro de un ojo me descubro;
no me mira, me miro en su mirada.

Se disipa el instante. Sin moverme,
yo me quedo y me voy: soy una pausa.

aus: Árbol adentro (Der Baum in mir), 1987

Nachdichtung

Octavio Paz:
Zwischen Bleiben und Verschwinden

Zwischen Bleiben und Verschwinden
schwankt hin und her der Tag,
versunken in den Spiegel
durchsichtiger Dämmerung.

Schon rundet sich das Abendmeer
zu einer Bucht,
in deren stillem Wellenschlag
die Welt sich wiegt.

Alles steht dir vor Augen,
und alles entzieht sich dir.
Alles ist zum Greifen nahe
und unfassbar zugleich.

Die Papiere und das Buch,
der Stift und das Glas –
unantastbar ruhen sie
im Schatten ihrer Namen.

Unerbittlich pochend
schreibt meinen Schläfen
die Zeit ihren Puls ein
mit Silben aus Blut.

Auf den Gleichmut der Mauer
zeichnet das flüchtige Licht
ein geisterhaftes Mosaik
aus flirrenden Gedankenbildern.

In der Mitte meines Auges
entdecke ich mich selbst.
Es sieht mich nicht, aber
ich sehe mich in seinem Blick.

Der Augenblick entschwindet.
Ohne mich zu rühren,
bleibe und verschwinde ich.
Ich bin eine Atempause.

Arturo Espinosa: Porträt Octavio Paz

English Version

Octavio Paz: Entre Irse y Quedarse (Between Staying and Disappearing)

A Moment out of Time

On today’s Poetry Day, we take a journey to Mexico, to a poet who was himself at home on the move. Perhaps that is precisely why he longed for those rare moments of inner peace, as reflected in the poem presented here.

A socially engaged poet

Surrealist influences and essayistic reflection

Diplomat, lecturer, publicist

About the poem presented here

Entre Irse y Quedarse: Poem with English Adaptation

A socially engaged poet

The Mexican poet and diplomat Octavio Paz (1914 – 1998), honoured with the Nobel Prize for Literature in 1990, initially studied law and literature in Mexico City after leaving school. At the age of 22, he interrupted his studies to work as a teacher on the southern Mexican peninsula of Yucatán. His main goal in this was to impart an appropriate education to the children of poor agricultural workers and peasants.
In a sense, this decision marks a juncture in the author’s life. On the one hand, it is influenced by his family background: his father was a close confidant of Emiliano Zapata, one of the leaders of the Mexican Revolution of the 1910s. On the other hand, however, Octavio Paz’s poetic work was strongly influenced by his social commitment in the beginning. This can be seen, for example, in his collection of poems Entre la Piedra y la Flor (Between Stone and Flower), published in 1941.
The influence of Pablo Neruda on the work of Octavio Paz should not be underestimated either. Having become acquainted with his early writings during his studies, Paz met the Chilean poet personally in 1937 at the Second International Writers‘ Congress, on which the support for the republican forces in the Spanish Civil War was the main topic. After 1945, when Paz lived and worked in France, the two poets also collaborated literarily.

Surrealist influences and essayistic reflection

Paz’s time in France is also reflected in his work in that he came into closer contact with the ideas of surrealism there. Among other things, his long poem Piedra de Sol (Sun Stone), written in 1957, gives evidence of this.
In Paris, Octavio Paz also wrote his most important essay, El Laberinto de la Soledad (The Labyrinth of Solitude). Published in 1950, revised in 1959 and expanded in 1970, it offers a kind of psychogram of the Mexican soul. In the essay, the author sensitively describes the difficult Mexican search for identity, which results from the simultaneous rooting in Spanish culture and the pre-Columbian Mesoamerican cultures of the Maya, the Aztecs and other autochthonous peoples.

Diplomat, lecturer, publicist

In his other positions as ambassador, Octavio Paz has also shown a lively interest in foreign cultures and has incorporated elements of them into his literary work. His activities in Japan and India, for example, stimulated an intensive study of Buddhism and Taoism.
After the Mexican government bloodily put down student protests in 1968, Paz resigned from the diplomatic service in protest. From then on, he devoted himself entirely to his publishing activities and gave lectures at a number of important universities, including Cornell and Harvard University in the U.S. and Cambridge University in Great Britain.
In addition, he looked after the literary journals he edited. Plural appeared until 1975, when the journal was banned in Mexico. The successor publication was called Vuelta and appeared until the author’s death in 1998.

About the poem presented here

The poem presented here is included in the last collection of poems by Octavio Paz, published in 1987, with texts from the years 1976 to 1986. As the title of the volume – Árbol Adentro (The tree inside / in me) – suggests, the focus here is on looking inward.
This is also reflected in the contemplative tone of the poem Entre irse y quedarse (Between staying and disappearing). The external situation of twilight, in which the day fluctuates for a brief moment on the threshold between light and darkness, corresponds to the reflection on one’s own life, which appears as a mere breathing pause between not-yet-being and no-longer-being.
At the same time, this moment out of time is emblematic of the spiritual growth that takes place in this very breathing pause: It leads to an inkling of the truth, without us ever being able to grasp it completely. What we see is merely its reflection in the outer images of things. Only in the rare breathing pauses, in which time seems to stand still, do we catch a glimpse behind things.

Entre Irse y Quedarse with English Adaptation: Between Staying and Disappearing

Octavio Paz:
Entre irse y quedarse

Entre irse y quedarse duda el día,
enamorado de su transparencia.

La tarde circular es ya bahía:
en su quieto vaivén se mece el mundo.

Todo es visible y todo es elusivo,
todo está cerca y todo es intocable.

Los papeles, el libro, el vaso, el lápiz
reposan a la sombra de sus nombres.

Latir del tiempo que en mi sien repite
la misma terca sílaba de sangre.

La luz hace del muro indiferente
un espectral teatro de reflejos.

En el centro de un ojo me descubro;
no me mira, me miro en su mirada.

Se disipa el instante. Sin moverme,
yo me quedo y me voy: soy una pausa

English Adaptation:

Between staying and disappearing

Between staying and disappearing
the day sways back and forth,
immersed in the mirror
of transparent twilight.

The evening sea already
arches into a bay.
The world is cradled
in its quiet waves.

Everything is before your eyes,
and everything eludes you.
Everything is within your grasp
and incomprehensible at the same time.

The papers and the book,
the pen and the glass –
untouchable, they rest
in the shadow of their names.

Relentlessly throbbing,
time inscribes its pulse
into my temples
with syllables of blood.

On the equanimity of the wall
flickering images of thoughts,
ghostly mosaics,
are drawn by the fleeting light.

In the center of my eye
I discover myself.
It does not see me, though
I can see myself in its gaze.

The moment disappears.
Without moving,
I stay and disappear.
I am a breathing pause.

Titelbild / title image: William Turner: Sonnenuntergang über einem See / Sunset over a lake , 1840 (Wikimedia)

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