Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 31 /Diary of a Shadowless Man, Part 31
Sonntag, 6. August, nachmittags
Das war vielleicht ein Schreck in der Morgenstunde! Ich sitze am Computer und bin ganz in meine Rekonstruktionsarbeit versunken, da beginnt es plötzlich aus den Lautsprechern am Monitor heraus zu dampfen. Es roch zwar nicht verbrannt – der Geruch erinnerte mich eher an Rosmarin und war mir eigentlich nicht unangenehm. Dennoch habe ich natürlich den Computer sofort ausgeschaltet.
Gerade als ich den Notdienst anrufen möchte, klingelt mein Handy. „Einen wunderschönen Sonntag wünsche ich Ihnen“, säuselt es an meinem Ohr. „Mein Name ist Sandra Schuster, ich bin von Pleasant Work und wollte nur mal nachfragen, wie Ihnen unser Motivationsduft gefallen hat. Wir haben da nämlich gerade ein wirklich attraktives Angebot für Neueinsteiger …“
Das war also der Grund für die seltsamen Computerdämpfe! So freundlich wie möglich erklärte ich der Dame, dass ich kein Interesse an ihrem Produkt hätte. Freundlichkeit provoziert in diesen Fällen allerdings immer intensives Nachhaken, so dass das Gespräch länger dauerte, als ich gehofft hatte.
Danach war mein Gedächtnisfaden erst mal durchtrennt. Ich musste in die Küche gehen und mich bei einer Tasse Tee beruhigen, ehe ich mich wieder an den Computer setzen konnte.
Wie konnte ein banales Telefonat mich derart aus dem Konzept bringen? Klar, der Anruf hatte mir mal wieder das Gefühl gegeben, dass mir jemand bei meiner Rekonstruktionsarbeit über die Schulter schaut. Aber da war noch etwas anderes, das ich mir nicht gleich eingestand: Das sonntägliche Kundengespräch erinnerte mich an mich selbst – an die Art, wie sich meine Arbeitsweise nach meinem Schattenverlust verändert hatte.
Geschichte eines Schattenverlusts: 20. Error!
Nach der Versetzung in die neue Abteilung kam es öfter vor, dass ich abends länger im Büro blieb. Ich fühlte mich dann nicht so unter Beobachtung, wodurch ich viel konzentrierter arbeiten konnte als tagsüber. Hinzu kam, dass es mir immer schwerer fiel, beim Bearbeiten der Anträge von den konkreten Menschen, um die es ging, abzusehen – ein Kardinalfehler für einen Sachbearbeiter bei einer Versicherung, weil das natürlich den Entscheidungsprozess nicht gerade vereinfacht. Manchmal rief ich abends sogar wildfremde Menschen an, von denen in den Unterlagen die Rede war, um mich mit ihnen über die in den Akten dokumentierten Vorkommnisse zu unterhalten.
Unter normalen Umständen hätte ich die Telefonate sicher nicht zur Gewohnheit werden lassen. Schließlich reagierten die Betroffenen darauf oft sehr misstrauisch – denn ich rief sie ja stets außerhalb der üblichen Bürozeiten an. Da sich jedoch meine Bekannten mittlerweile fast vollständig von mir zurückgezogen hatten, waren die Anrufe mir fast schon ein persönliches Bedürfnis.
Wenn ich dann spätabends nach Hause ging, war ich in der Regel zu müde zum Aufräumen. Deshalb mussten die Putzfrauen morgens, beim Saubermachen, um die Akten auf meinem Tisch herumwischen. Dies hatte schon einige Male zu Beschwerden geführt, zumal so ja auch Unterlagen verloren gehen oder in falsche Hände geraten konnten. Manchmal war die fehlende Ordnung auch für mich selbst lästig. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die Putzfrauen die Akten selbst übereinanderstapelten und zur Seite schoben. Dann brauchte ich immer einige Zeit, um mich selbst wieder darin zurechtzufinden.
Eines Morgens aber fand ich meinen Schreibtisch komplett verwaist vor. Nur der Computer stand noch an seinem Platz, die Akten waren entfernt worden. Hatten die Putzfrauen sie nur verlegt? Oder war das eine gezielte Maßnahme, um mich zu einem sensibleren Umgang mit den Unterlagen zu erziehen?
Ich beschloss, der Sache später nachzugehen und zunächst meine Mails zu checken. Wie gewohnt gab ich mein Passwort ein. „ERROR!“ fuhr mich der Computer an. Ein zweiter Versuch, eine erneute Abfuhr: „ERROR!“ Der Computer beharrte darauf, mich nicht zu kennen.
Vielleicht eine Systemumstellung, dachte ich. Ein vorsichtiger Blick auf die Kollegen zeigte mir jedoch, dass bei ihnen alles seinen gewohnten Gang ging. Das Problem musste also mit meinem eigenen Computer oder mit meinem Passwort zusammenhängen.
Eine Zeit lang versuchte ich noch auf verschiedenste Weise, den Computer zu überlisten. Dabei hätte ich eigentlich wissen müssen, dass er unbestechlich ist. Schließlich überwand ich meine Scheu und bat einen Kollegen um Rat.
Gelangweilt zuckte er mit den Schultern: „Bei mir ist alles wie immer. Frag doch den Controller, was los ist!“ Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Ausgerechnet an dem Morgen kam der Controller erst später ins Büro. Als ich ihn auf mein Problem ansprach, tat er zerstreut: „Ach, entschuldigen Sie! Das habe ich doch glatt vergessen. Heute ist so viel los, ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht …“
„Was genau haben Sie vergessen?“ bohrte ich nach.
„Nur eine kleine Rationalisierungsmaßnahme“, erklärte er mir. „Nichts von Bedeutung.“
Ich sah ihn bestürzt an. „Was soll das heißen: eine Rationalisierungsmaßnahme? Bin ich etwa entlassen?“
„Aber nein“, wehrte er ab, „wo denken Sie hin! Wir mussten nur Ihren Arbeitsplatz anders einplanen. Genaue Instruktionen kann ich Ihnen aber erst morgen geben – das Koordinierungsteam tagt erst heute Nachmittag. Wissen Sie was? Nehmen Sie sich doch einfach für den Rest des Tages frei: Sie haben ja sowieso noch Überstunden abzufeiern!“
Am nächsten Tag saß ein neuer Kollege, den ich bislang noch nie gesehen hatte, auf meinem Platz. Auf meine Frage, wo und wie man mich künftig einzusetzen gedenke, vertröstete mich der Controller auf den nächsten Tag. Er sei leider noch nicht dazu gekommen, sich mit meiner Angelegenheit zu befassen. Am nächsten Tag vertröstete er mich wieder auf den folgenden Tag, dann abermals auf den nächsten, den übernächsten Tag, und so ging es eine geschlagene Woche lang weiter.
Am Ende war es mir schier unerträglich, nicht nur tagtäglich umsonst ins Büro zu kommen, sondern dort auch noch die ganze Zeit untätig herumstehen zu müssen. Schließlich schickte man mich ja keineswegs nach Hause. Vielmehr war ich dazu verurteilt, mich von morgens bis abends nutzlos zwischen den Arbeitsplätzen der Kollegen herumzutreiben. Meistens stand ich in einer Ecke in der Nähe des Controllers, dem es hin und wieder einfiel, mir gönnerhaft kleinere, unbedeutende Aufgaben zu übertragen.
Auf die Dauer war dieser Zustand nicht auszuhalten. Ich ging zum Arzt, der Arzt schrieb mich krank, zunächst für eine Woche, dann für noch eine, schließlich – weil ich in der Tat unter massiven Schlafproblemen und mittlerweile auch unter Herzrhythmusstörungen litt – gleich für zwei weitere Wochen.
Auf meine dritte Krankmeldung hin rief mich Herr Eberle, der Abteilungsleiter, an: Ich sei wohl sehr krank, das tue ihm leid, übrigens, der Controller habe ihm von meiner Situation erzählt, vielleicht sei es doch das Beste, man trenne sich voneinander, im Guten natürlich, er könne mir auch noch eine Abfindung in Höhe eines vollen Monatsgehalts zusagen, das sei überhaupt kein Thema, schließlich habe ich mich ja immer mit großem Engagement meiner Arbeit gewidmet, von der Personalakte her sei nichts zu beanstanden, usw.
Er brauchte mich nicht lange zu überreden. Ich hatte mittlerweile selbst eingesehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Drei Tage später lag die Kündigung in meinem Briefkasten.
English Version
Sunday, August 6, afternoon
That was quite a shock in the morning! I’m sitting at the computer, completely absorbed in my reconstruction work, when suddenly it starts to steam out of the speakers on the monitor. It didn’t smell burnt – the scent reminded me more of rosemary and was actually not unpleasant to me. Nevertheless, I immediately switched off the computer, of course.
Just as I was about to call the emergency service, my mobile rang. „Have a wonderful Sunday,“ someone murmured in my ear. „My name is Sandra Shoemaker, I’m from Pleasant Work and I just wanted to ask you how you liked our motivational scent. By the way, we have a really attractive offer for newcomers at the moment …“
So that was the reason for the strange computer fume! As friendly as possible, I explained to the lady that I was not interested in her product. However, friendliness in these cases always provokes intensive follow-up, so the conversation lasted longer than I had hoped.
After that, my memory thread was severed for the time being. I had to go to the kitchen and calm down with a cup of tea before I could sit down at the computer again.
But how could a simple phone call throw me off my game like that? Sure, the call had once again given me the feeling that someone was looking over my shoulder during my reconstruction work. But there was something else I didn’t admit to myself right away: the client conversation on Sunday reminded me of myself – of the way my working habits had changed after the loss of my shadow.
Story of a Shadow Loss: 20. Error!
After the relocation to the new department, I often stayed in the office until late at night. That way I didn’t feel so much under observation, which allowed me to work far more concentrated than during the day. In addition, it became more and more difficult for me to ignore the actual persons involved when processing the applications – a cardinal mistake for someone working in an insurance company, because that doesn’t exactly simplify the decision-making process. Sometimes I even called up the applicants and talked to them about the incidents documented in the files.
Under normal circumstances, I would certainly not have made a habit of these phone calls. After all, the people concerned often reacted very suspiciously to them – especially since I always called them outside the usual office hours. However, since my acquaintances had almost completely withdrawn from me in the meantime, the calls were almost a personal need for me.
When I would then go home late at night, I was usually too tired to clean up. That’s why the charwomen had to wipe around the files on my table in the morning. This had already led to complaints a few times, all the more so as documents could get lost or fall into the wrong hands this way. Sometimes the lack of order was even annoying for myself – particularly when the cleaners piled the files on top of each other and pushed them aside. Then it always took me some time to find my way through them again.
One morning, however, I found my desk completely deserted. Only the computer was still in its place, the files had been removed. Had the cleaning ladies just misplaced them? Or was this a deliberate measure to make me handle the documents more sensitively?
I decided to look into the matter later and check my emails first. So I booted up the computer and entered my password. „ERROR!“ the computer snapped at me. A second attempt, another rejection: „ERROR!“ The computer kept insisting not to know me.
Maybe a system change, I thought. But a quick glance at my colleagues showed me that everything was going on as usual. So the problem had to be with my own computer or with my password.
For a while I tried to outsmart the computer in various ways. But in vain – I should have known that it was incorruptible. So I finally overcame my shyness and asked a colleague for advice.
Bored, he shrugged his shoulders: „For me, nothing has changed. Why don’t you ask the controller what’s going on?“ With that, he turned back to his work.
That morning, of all mornings, the controller came into the office much later. When I asked him about my problem, he replied absent-mindedly: „Oh, excuse me! I forgot all about that. There’s so much going on today, and I just can’t be everywhere at once …“
„What exactly did you forget?“ I followed up.
„Just a little streamlining,“ he explained to me. „Nothing of importance.“
I looked at him in dismay. „Streamlining? What do you mean by that? Am I being dismissed?“
„How do you come up with that?“ he asked back. „We just had to schedule your work differently. But I can’t give you precise instructions before tomorrow – the coordination team doesn’t meet until this afternoon. Why don’t you just take the rest of the day off: you’ve got overtime to use up anyway!“
The next day, a new colleague, whom I had never seen before, sat at my place. When I asked where and how I was to be deployed in the future, the controller told me to wait until the next day. Unfortunately, he said, a final decision on my matter had not yet been made. The next day he put me off again until the following day, then again until the next day, the day after that, and so it went on for a whole week.
In the end, I found it almost unbearable to spend the whole time in the office doing nothing. After all, I wasn’t simply sent home. On the contrary, I was condemned to drift uselessly among my colleagues‘ workplaces from morning to night. Most of the time I stood in a corner near the controller, who from time to time graciously bestowed small, insignificant tasks upon me.
In the long run, it was impossible to endure such a working day without work. I went to the doctor, and the doctor declared me ill: for one week, for another week, and finally – because I was indeed suffering from serious sleeping problems and in the meantime also from heart rhythm disorders – for two more weeks.
When I called in sick for the third time, Mr. Boar, the head of the department, phoned me. He said he regretted that I had obviously fallen quite seriously ill, wished me a speedy recovery and assured me that the company would support me in any way, if necessary. Then he casually mentioned the controller, who had told him about my situation. Maybe, he concluded, it would be best to part from each other, on good terms, of course, he could also promise me a severance pay amounting to a full month’s salary, that goes without saying, after all, I had always dedicated myself to my work with great commitment, there was nothing to complain about, etc.
He didn’t have to persuade me for long. I had long since realised myself that it couldn’t go on like this. Three days later, the notice of termination was in my letterbox.