Bei der Schattenermittlungsstelle / At the Shadow Investigation Agency

Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 32 / Diary of a Shadowless Man, Part 32

English Version

Montag, 7. August

Heute Morgen war ich bei der Schattenermittlungsstelle. Ob sich dadurch nun alles verändert hat? Ich weiß es nicht … Jedenfalls war alles noch viel schlimmer, als ich es mir vor­gestellt hatte. Vielleicht sollte ich mir doch das Angebot von Shadow Colours noch einmal genauer anschauen.

Bei der Schattenermittlungsstelle

Es dauerte eine Weile, bis ich das Gebäude fand, in dem die Schattenermittlungsstelle untergebracht ist. Dabei führte mich die auf der Vorladung angegebene Adresse geradewegs ins Zentrum der Stadt, zu Orten, an denen ich schon etliche Male vorbeigegangen war, ohne dass ich jemals von der S.E.S. Notiz genommen hatte. Aber das ist ja an sich nichts Besonderes. Schließlich gibt es Ämter mit den absonderlichs­ten Zuständigkeiten, um die man sich einfach nicht weiter kümmert, solange man nichts mit ihnen zu tun hat.
Ich fand die S.E.S. schließlich in einer Seitenstraße, die ich zuvor schon durchquert hatte, ohne die Behörde zu entdecken. Dies lag daran, dass die S.E.S. nur durch eine Toreinfahrt zu erreichen war, die auf einen dunklen Hinterhof führte. Zwar wies neben der Toreinfahrt ein Schild auf die S.E.S. hin, doch war dieses von derselben Farbe wie die Mauer, auf der es angebracht war. Deshalb hatte ich es zunächst übersehen.
Über den Hinterhof gelangte ich zu einem von außen völlig unscheinbaren Ge­bäude, an dem hier und da bereits der Putz abbröckelte. Die Fenster im Erdgeschoss und im ersten Stock waren mit Gittern versehen. Hinter den meisten Fensterscheiben waren Vorhänge vorgezogen.
Vor dem Haus befand sich ein kleiner, kastenförmiger Bau, der schon von weitem als Pförtnerhäuschen zu erkennen war. Als ich daran vorbeigehen wollte, rief mich von innen ein uni­formierter Mann an: „He! Darf man fragen, wo Sie hinwollen?“
„Entschuldigung“, antwortete ich verdutzt. „Ich wusste ja nicht, dass man sich hier anmelden muss. Ich habe für heute einen Termin bei …“
„Zeigen Sie mal die Vorladung her!“ knurrte der Mann.
Glücklicherweise hatte ich das Schreiben mitgenommen. Der Pförtner schien jeden Buchstaben einzeln zu studieren. „Erster Stock, zweite Tür rechts!“ blaffte er schließlich durch die Sprechluke. Dann verschloss er diese wieder und wandte sich seinem Kollegen zu, der hinter ihm gelangweilt in der Ecke saß.
Von innen wirkte das Gebäude wie eine ehemalige Kaserne. Die Gänge waren sehr lang und wurden von altmodischen Funzeln beleuchtet, die in regelmäßigen Abständen von der leicht gewölbten Decke herabhingen. Zwischen den Türen, die zu den Büros der Beamten führten, standen wacklige Holzbänke, auf denen ein paar müde ausse­hende Gestalten saßen. Ich begab mich zu der mir genannten Tür im ersten Stock und wollte gerade anklopfen, als mich – gerade noch rechtzeitig – ein hinter mir sitzender Mann davon abhielt.
„Sie müssen erst eine Nummer ziehen“, belehrte er mich, ohne zu mir aufzusehen.
Es war so still auf dem Gang, dass ich unwillkürlich zusammenfuhr. „Eine Nummer?“ fragte ich, indem ich mich zu ihm umdrehte.
Er hob den rechten Arm, mit dem er sich auf sein Knie gestützt hatte, und wies auf einen grauen Kasten, der sich etwa in der Mitte des Gangs befand. „Da vorne“, brummte er. Dann ließ er den Arm wieder auf sein Knie fallen.
Tatsächlich hing neben dem Kasten ein Schild von der Decke: „Bitte ziehen Sie eine Nummer und warten Sie dann, bis Ihre Nummer aufgerufen wird!“ Schuldbewusst ließ ich mir von dem Kasten einen Zettel ausspucken und ging dann zu der Tür zurück, vor der der Mann saß. Da er keinen sehr gesprächigen Eindruck machte, lehnte ich mich lieber neben ihm an die Wand. Irgendwie war er mir nicht ganz geheuer.
„Auch ohne Schatten?“ fragte er nach einer Weile.
Ich blickte zu ihm herüber. Das Licht war sehr schwach – wohl deshalb fiel mir erst jetzt auf, dass er ebenso schattenlos war wie ich. Als ich ihn genauer betrachtete, empfand ich einen tiefen Schrecken, wie jemand, der an ei­ner schweren Krankheit leidet und einen anderen Menschen trifft, bei dem dieselbe Krankheit schon ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat.
Ich beschränkte mich darauf, die Frage mit einem schwachen Nicken zu beantworten. Es sollte abweisend wir­ken, denn ich verspürte nicht die geringste Lust, mich auf ein längeres Gespräch mit dem Mann einzulassen.
Dieser aber hatte gar nicht zu mir aufgeblickt und redete ein­fach weiter, ohne auf meine Reaktion zu achten. „Ist Ihre erste Vorladung, was? Ich bin schon das fünfte Mal hier – ohne je­des Ergebnis! Schattenermittlungsstelle … Ha! Dass ich nicht lache!“
Er griff in seine Hosentasche und holte ein Kaugummipäckchen heraus. Nachlässig hielt er es mir hin: „Auch eins?“
„Nein, danke“, murmelte ich.
Umständlich holte er einen Streifen aus der Packung und befreite den Kaugummi von der Papierhülle, die er achtlos auf den Boden warf. „Sie haben wohl gar keine Vorstellung davon, was Sie hier erwartet?“ fragte er mich dann, genüsslich schmatzend.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein – ich habe ja auch nur eine kurze Mitteilung bekommen.“
„Meinst du, die hätten uns andern groß erklärt, was sie mit uns vorhaben?“ Er winkte ab. „Das ist doch gerade der Trick! Sie reden immer nur in Andeutungen, und also kannst du’s ihnen nie recht machen. Dafür müsstest du schon ihre Gedanken lesen können.“
Es störte mich, dass er mich plötzlich duzte. Das hatte etwas Komplizenhaftes an sich, und ich wollte mich auf keinen Fall mit diesem Kerl gemein machen. So entgegnete ich kühl, gegen meine eigene Überzeugung: „Vielleicht machen die Leute hier ja nur ihre Arbeit. Schließlich ist es nun einmal ihre Aufgabe, über die Einhaltung der Gesetze zu wachen!“
„Na, du wirst ja sehen“, gab er achselzuckend zurück, während er weiter seinen Kaugummi bearbeitete. Dann stützte er wieder den Kopf auf seinen Arm und starrte die Wand an.
Schweigend verharrten wir nebeneinander. Nun war nichts mehr zu hören als das Vorrücken der Zeiger auf der großen Uhr, die am Ende des Gangs an der Wand hing. Ich wunderte mich, dass aus den Zimmern kein Geräusch auf den Flur drang. Außerdem verstand ich nicht, warum wir so lange warten mussten. Die Person, die vor uns aufgerufen worden war, musste ihre Angelegenheiten doch längst geregelt haben. So lange konnten die Gespräche da drinnen doch unmöglich dauern!
Eine Dreiviertelstunde später öffnete sich die Tür zu dem Zimmer rechts neben dem Büro, vor dem ich und der Mann warteten. Heraus trat eine gebeugte Gestalt in zerlumptem Mantel, die sich rasch entfernte. Im Vorübergehen traf mich ein unruhig flackernder Blick. Betroffen sah ich der Gestalt hinterher – ob ich meinen Nebenmann vorhin auch so angesehen hatte?

English Version

Monday, August 7

This morning I went to the Shadow Investigation Agency. It was much worse than I had imagined. Now I see everything in a different light. Maybe I should take a closer look at the offer from Shadow Colours after all.

At the Shadow Investigation Agency

It took me a while to find the building where the Shadow Investigation Agency is located. The address on the summons led me straight to the center of the town, to places I had passed by many times before without ever taking any notice of the SIA. But that in itself is nothing special. After all, there are offices with the strangest responsibilities that you simply don’t care about as long as you have nothing to do with them.
I finally found the SIA in a side street that I had scoured before without success. No wonder: the SIA could only be reached through a gate that led into a dark backyard. True, a sign next to the gateway pointed to the SIA, but it was of the same colour as the wall on which it was mounted. That’s why I had overlooked it at first.
Crossing the backyard, I came to a building that was completely inconspicuous from the outside, with the plaster already crumbling away here and there. The windows on the ground floor and on the first floor had bars. Behind most of them, curtains were drawn.
In front of the house stood a small, box-shaped building that was obviously a porter’s lodge. As I was about to pass it, a uniformed man called out to me from inside: „Hey! May I ask where you’re going?“
„Excuse me,“ I replied, puzzled. „I didn’t know it was necessary to register here. I have an appointment for today with …“
„Just show me the summons!“ the man growled.
Fortunately, I had taken the letter with me. The doorman seemed to study each word individually. „First floor, second door on the right!“ he finally barked through the speaking hatch. Then he closed it again and turned to his colleague, who was sitting bored in the corner behind him.
From the inside, the building looked like a former barracks. The corridors were very long and lit by old-fashioned light bulbs hanging at regular intervals from the slightly vaulted ceiling. Between the doors leading to the offices I saw rickety wooden benches, on which a few tired-looking figures were waiting. I went to the door the porter had told me and was about to knock when – just in time – a man sitting behind me intervened.
„You have to take a number first,“ he instructed me without looking up.
It was so quiet in the corridor that I involuntarily winced. „A number?“ I asked, turning to him.
He raised his right arm, with which he had been leaning on his knee, and pointed to a grey box about halfway down the corridor. „Over there,“ he mumbled. Then he dropped his arm back to his knee.
In fact, there was a sign hanging from the ceiling next to the box: „Please draw a number and then wait until your number is called!“ Obediently, I let the box spit out a ticket for me and then went back to the door with the crumpled man sitting in front of it. As he didn’t seem very talkative, I preferred to lean against the wall next to him. Somehow I felt uneasy about him.
„Also lost your shadow?“ he asked after a while.
I glanced over at him. The light was very dim – that’s probably why I only noticed now that he was as shadowless as I was. When I took a closer look, I was deeply shocked, like someone who is suffering from a serious illness and meets another person in whom the same illness has already reached an advanced stage.
I answered the question with only a faint nod. It was meant to be dismissive, because I did not feel the slightest desire to engage in a longer conversation with the man.
The latter, however, had not looked up at me at all and simply continued talking without paying attention to my reaction. „It’s your first summons, right? For me it’s already the fifth time – without any result! Shadow Investigation Agency …“ He laughed bitterly. „The name is just a bad joke!“
He reached into his trouser pocket and took out a packet of chewing gum. Casually, he held it out to me. „Want one?“
„No, thanks,“ I muttered.
He took a strip out of the packet and freed the gum from the paper, which he carelessly threw on the floor. „I don’t suppose you have any idea what awaits you here?“ he then asked me, smacking his lips with relish.
I shook my head. „No – I only got a short message without any explanations.“
„Do you think they would have explained to others what they were going to do with them?“ He made a snide gesture with his hand. „That’s just the trick! They only ever talk in hints, so you can never please them. For that you’d have to be able to read their minds.“
It bothered me that he spoke to me so confidentially. There was something complicit about it, and I certainly didn’t want to make common cause with this guy. So I replied coolly, against my own convictions: „Maybe the people here are just doing their job. After all, it’s their duty to watch over the observance of the law!“
„Well, just wait and see,“ he returned with a shrug as he continued to work on his chewing gum. Then he leaned his head on his arm again and stared at the wall.
Silently we waited side by side. Now there was nothing to hear but the advancing of the hands on the big clock hanging on the wall at the end of the corridor. I wondered why there was no sound escaping from the rooms into the corridor. Moreover, I didn’t understand why we had to wait for so long. The person who had been called in before us must have settled everything long ago. The conversations in there couldn’t possibly last that long!
Three quarters of an hour later, the door to the room on the right of the office opened. A stooped figure in a ragged coat stepped out and quickly moved away. As the person passed, I was met by a flickering gaze. Disconcerted, I stared after the figure – had I looked at the man next to me in the same way?

Bild: Ariane Kinde. Architektur (Pixabay); Michael Gaida: Verlassener Flur (Pixabay)

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..