Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 29 / Diary of a Shadowless man, Part 29
Samstag, 5. August
Ach, Lina: Willst du wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben? Oder war alles nur Theater? Hast du dich aus gekränktem Stolz gezwungen, die Eisprinzessin zu geben, gegen dein eigenes Empfinden, als ich mich bei dir entschuldigen wollte? Hattest du schlicht Angst, ich könnte dich noch einmal so vor den Kopf stoßen wie am Abend zuvor? Oder gab es noch andere Gründe für dein Verhalten?
Wie gerne würde ich mich mit Lina aussöhnen! Aber sie hat mich zuletzt ja fast schon gemieden wie einen Untoten, der andere mit seinem bösen Blick zu Stein erstarren lassen kann. Dabei hätte mir ein Gespräch mit ihr unendlich viel bedeutet. Nicht nur, um die Kluft zu überwinden, die uns seit dem missglückten Rendezvous voneinander trennt. Vielmehr hätte ich so auch manche Situationen im Betrieb besser einschätzen und anders darauf reagieren können.
Geschichte eines Schattenverlusts: 18. Verdächtiges Lob
Nicht lange nach meinem peinlichen Auftritt in der Teambesprechung bekam ich einen Anruf von Frau Heinrich, der Sekretärin von Frau Zimmermann: Die Produktmanagerin bitte mich zu einem Gespräch zu sich herauf.
Ich merkte, wie meine Hände zu schwitzen begannen, als ich den Hörer auflegte. Es war mit Sicherheit ein Fehler gewesen, dass ich mich nicht von mir aus bei der Chefin gemeldet hatte. Jetzt sah es so aus, als wollte ich über meinen Blackout in der Teambesprechung einfach schweigend hinweggehen, anstatt mich um eine angemessene Erklärung zu bemühen. Freilich – eben das war es ja gerade, was mir Schwierigkeiten bereitete.
Zu meiner Überraschung berührte Frau Zimmermann mein Missgeschick jedoch mit keinem Wort. Sie war auch keineswegs – wie ich es erwartet hatte – abweisend mir gegenüber. Stattdessen lächelte sie mich aufmunternd an, als ich eintrat.
„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten“, begrüßte sie mich. „Auch ein verregnetes Wochenende gehabt? Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten?“
Ich erinnere mich noch, wie ich innerlich aufatmete, als sie so entgegenkommend mit mir sprach. Auch den Kaffee nahm ich gerne an, schon weil ich so die Möglichkeit hatte, mich zwanglos an etwas festzuhalten.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass Frau Zimmermann das Gespräch damals sehr professionell eingeleitet hat – Leute wie sie werden ja wohl eigens in Gesprächsführung geschult. Sie begann mit ein paar Smalltalk-Partikeln, die dazu geeignet waren, eine emotionale Nähe zu ihrem Gegenüber herzustellen: „Es ist ja wirklich ein richtiges Schmuddel-Wetter zur Zeit. Da hockt man die ganze Zeit über in der Wohnung und frisst sich Winterspeck an, den man gar nicht braucht. Geht es Ihnen nicht auch so?“
Sie lachte kurz auf. Ich bemühte mich, in ihr Lachen einzustimmen, obwohl ich dazu eigentlich viel zu verkrampft war. Außerdem gefiel mir ihr forschender Blick nicht – auch wenn sie ihn scheinbar absichtslos hinter einer unverfänglichen Bemerkung versteckte: „Na, Sie können sich die paar Zusatzpfunde ja wenigstens leisten!“
In Wahrheit hatte auch Frau Zimmermann durchaus noch etwas zuzusetzen. Ihr durchtrainierter Körper verriet die Disziplin, mit der sie – wie jeder im Hause wusste – jeden Morgen vor dem Frühstück ihre Joggingrunden durch den Park drehte. Ihre Gesichtszüge waren für meinen Geschmack etwas zu hager, was durch ihre modische Kurzhaarfrisur noch zusätzlich betont wurde. Sie strahlte durch und durch die Bereitschaft zur Hingabe an ihre Aufgabe aus. Auch ihre eisgrauen Haare, zu denen sie sich als knapp 50-Jährige nicht unbedingt hätte bekennen müssen, unterstrichen das Selbstbewusstsein einer Frau, die sich in der immer noch männlich dominierten Raubtierwelt der Vorstandsetagen behauptet hatte.
Geschickt leitete sie zu meiner Arbeit über. „Also, Herr C., ich wollte Ihnen zunächst einmal sagen, wie zufrieden wir mit Ihrer Arbeit sind. Einen Mitarbeiter, der gleichzeitig so gewissenhaft und so kompetent ist, findet man selten!“
Natürlich hätte es mich misstrauisch machen müssen, dass sie ihre Ausführungen mit einem so überschwänglichen Lob meiner Arbeitshaltung begann. Damals aber habe ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht. Es war mir einfach nur angenehm, dass das Gespräch in einer ganz anderen Atmosphäre ablief, als ich befürchtet hatte. Außerdem ist es schließlich niemandem unangenehm, gelobt zu werden.
„Nun, Herr C.“, fuhr Frau Zimmermann fort, „Sie wissen ja selbst, dass unsere Firma sich zur Zeit in einer nicht ganz einfachen Situation befindet. Die gesamtwirtschaftliche Lage, die ungünstige Zinspolitik … Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären!“
„Ja“, stimmte ich ihr zu, „für eine Versicherung sind das wirklich keine rosigen Zeiten.“
Die Managerin lächelte zufrieden. „Sehen Sie – ich wusste ja, dass wir uns verstehen!“
Meisterhaft verstand es Frau Zimmermann, mich in ihren Gedankengang einzubeziehen. Fast hatte ich das Gefühl, die Firmenstrategie selbst mit zu entwickeln, von der sie mir nun berichtete.
Meine Vorgesetzte drückte den Rücken durch. Für einen Augenblick schien sie fast mit ihrem Bürostuhl zu verwachsen. „Als Konzern, der sich seiner Verantwortung für Mitarbeiter und Kunden bewusst ist, können wir es uns natürlich nicht leisten, die Dinge einfach laufen zu lassen“, erklärte sie mir. „Proaktiv handeln – das war schon immer unser Motto!“
Ich nickte zustimmend.
Die Managerin sah mich fest an. „Und hier, mein lieber Herr C., kommen nun Sie ins Spiel. Wir denken, dass wir den neuen Anforderungen nur mit einer umfangreichen Umstrukturierung begegnen können. Dafür brauchen wir engagierte Mitarbeiter, die über die nötige Sachkompetenz, aber auch über die Flexibilität verfügen, die man für eine solche Neuausrichtung benötigt.“
Mein Herz begann schneller zu schlagen: Stand hier etwa eine Beförderung an? War der Grund für das Gespräch tatsächlich ein ganz anderer, als ich angenommen hatte?
„Also, wenn es an mir liegen soll“, versicherte ich, „ich bin zu allem bereit.“
Sie lächelte mich zufrieden, zugleich aber auch ein wenig selbstgefällig an. Auch zeigte sie – wie mir heute scheint – eine Spur zu deutlich ihre Erleichterung über den Verlauf des Gesprächs. „Ich wusste doch, dass ich mich auf Sie verlassen kann! Dann darf ich also mit Ihrer Mitarbeit in der neuen Abteilung rechnen, die wir demnächst aufmachen werden?“
Ich stutzte – das ging mir dann doch ein wenig zu schnell. „Grundsätzlich gerne. Aber wie genau wird denn meine neue Arbeit aussehen?“
An diesem Punkt legte Frau Zimmermann die Maske des Jovialen ab und schaltete wieder auf ihren nüchternen Geschäftston um. „Momentan sind wir noch im Planungsstadium. Es gibt aber eine Koordinierungsgruppe, die Ihnen alle weiteren Fragen beantworten wird. Am besten wenden Sie sich an Herrn Eberle, den Gruppenleiter.“
Darauf erhob sie sich leicht von ihrem Stuhl und gab mir so das Zeichen zum Aufbruch. Das Ziel des Gesprächs war erreicht, es gab keinen Grund, weitere Zeit zu vergeuden. Als ich mich zur Tür wandte, spürte ich deutlich ihren Blick in meinem Rücken – diesen mir nur allzu bekannten Blick, der nach etwas suchte, das nicht zu finden war.
English Version
Saturday, August 5
Dearest Lina: Do you really want to burn all bridges between us? Or was it all just an act? Did you force yourself out of wounded pride to play the ice princess, against your own feelings, when I wanted to apologise to you? Were you simply afraid that I might offend you again as I did the night before? Or were there other reasons for your behaviour?
How I would love to reconcile with Lina! But in the end she has almost avoided me like an undead who can turn others to stone with his malicious gaze. Yet a conversation with her would have meant so much to me – not only to overcome the gap that has opened up between us since the failed rendezvous. It would also have enabled me to better assess some situations in the company and to react differently.
Story of a Shadow Loss: 18. Suspicious Praise
Not long after my embarrassing performance in the team meeting, I got a call from Ms. Henry, Ms. Zimmerman’s secretary: the product manager would like me to come up for a talk.
I noticed how my hands began to sweat when I put down the phone. It had certainly been a mistake not to contact Ms. Zimmerman on my own initiative. Now it looked as if I simply wanted to pass over my blackout in the team meeting in silence instead of making an effort to give a proper explanation – even if I myself do not know what this explanation should have looked like.
To my surprise, however, Ms. Zimmerman did not touch my mishap with a single word – nor was she, as I had expected, dismissive towards me in any way. Instead, she smiled encouragingly at me as I entered.
„I’m glad you could come so quickly,“ she greeted me. „Had a rainy weekend, too? May I offer you a coffee?“
I still remember how relieved I felt when she spoke to me so obligingly. The coffee was also something I gladly accepted, if only because it gave me the opportunity to casually hold on to something.
In retrospect, I have to say that Ms. Zimmerman initiated the conversation very professionally – people like her probably receive special training in conversational skills. She started with a few small talk particles that created an emotional closeness to her counterpart: „It’s a real dirty weather at the moment, don’t you think so? You spend the whole time sitting in your flat putting on winter fat that you don’t need at all. Don’t you feel the same way?“
She laughed briefly. I tried to join in her laughter, although I was actually much too tense to do so. Furthermore, I was unsettled by her inquiring look – even though she tried to justify it with an innocuous remark: „Well, at least you can afford a few extra pounds!“
In truth, the same could have been said of Ms. Zimmerman. Her well-toned body testified to the discipline with which – as everyone in the company knew – she went jogging in the park every morning before breakfast. Her facial features were decidedly gaunt, which was further emphasised by her fashionable short hairstyle. She exuded a willingness to devote herself entirely to her job. Even her ice-grey hair, which other women around 50 would probably have dyed, underlined the self-confidence of a woman who had asserted herself in the still male-dominated predatory world of the boardrooms.
Skilfully she led over to my work. „Well, Mr C., first of all I wanted to tell you how satisfied we are with your work. It is rare to find an employee who is so conscientious and so competent as you are!“
Of course, it should have made me suspicious that she began her remarks with such effusive praise of my work attitude. At that time, however, I did not give it a second thought. I was just pleased that the conversation took place in a completely different atmosphere than I had expected. Besides, no one is uncomfortable with being praised.
„Well, Mr. C.“, Ms. Zimmerman continued, „you know yourself that our company is not in a very easy situation at the moment. The overall economic situation, the unfavourable interest rate policy … „
„Yes,“ I agreed with her, „as an insurance company we do live in stormy times.“
The product manager smiled contentedly. „You see – I knew we’d understand each other!“
She brilliantly succeeded in involving me in her train of thought. I almost had the feeling that I myself was developing the company strategy she was now telling me about.
Ms. Zimmerman straightened her back. For a moment she almost seemed to fuse with her office chair. „As a company that is aware of its responsibility for employees and customers, we obviously cannot afford to just let things go,“ she pointed out. „Being proactive – that has always been our guiding principle!“
I nodded in agreement.
My superior looked at me firmly. „And here, my dear Mr. C., we come to the heart of the matter. We think that we can only meet the new requirements with extensive restructuring. For this we need committed employees who have the necessary expertise, but also the flexibility needed for such a reorientation.“
My heart began to beat faster: was Ms Zimmerman alluding to a promotion? Was the reason for the conversation actually quite different from what I had assumed?
„Well, if it’s up to me,“ I affirmed, „I’m ready for anything.“
She smiled at me approvingly, but at the same time a little smugly. Moreover, she showed – as it seems to me today – a bit too clearly her relief about the course of the conversation. „I knew I could rely on you! So I can count on your cooperation in the new department we will be opening soon?“ she asked me.
I hesitated – this was all happening a little too fast for me. „In principle, I’d be happy to join the new department,“ I confirmed. „But what exactly will I have to do there?“
At this point, the mask of joviality disappeared from Ms. Zimmermann’s face and gave way to a sober business tone. „At the moment we are still in the planning stage. But there is a coordination group that will answer any further questions you may have. The best person for you to contact is Mr. Boar, the head of the group.“
Thereupon she rose slightly from her chair and thus gave me the sign to leave. The aim of the conversation had been achieved; there was no need to waste any more time. As I turned towards the door, I clearly felt her gaze at my back – that look all too familiar to me, searching for something that was not to be found.