Ein Brief von der Schattenermittlungsstelle / A letter from the Shadow Investigation Agency

Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 28 / Diary of a Shadowless Man, Part 28

English Version

Donnerstag, 3. August

Post von der Schattenermittlungsstelle – abends um sechs von einem speziellen Boten zugestellt! Die können’s wohl gar nicht erwarten, den Strafknüttel zu schwingen. Es handelt sich um eine regelrechte Vorladung:

Hiermit werden Sie aufgefordert, sich am Montag, dem 7. August, in der Zeit von 8 bis 12 Uhr in der Schattenermittlungsstelle, Abt. 2, Buchstabe C bis E, einzufinden. Zuwiderhandlungen gegen diesen Bescheid können nach § 3 Abs. 2 SVG mit einem Bußgeld in Höhe von 10 % der aufgelaufenen Bußgeldgesamtsumme geahndet werden. Absagen bedürfen der Schriftform. Sie sind mit einem ärztlichen Attest zu be­gründen und bis spätestens 7.50 Uhr des betreffenden Tages beim Dienst habenden Wachmann der S.E.S. abzugeben.

                                                                            gez. Brunsbüttel

                                                                          (Sachbearbeiterin)

Rechtsbehelfsbelehrung: Gegen diesen Bescheid kann innerhalb einer Frist von zwei Wochen – gerechnet vom Datum der Zustellung vorliegenden Schreibens an – Widerspruch einge­legt werden. Ein Widerspruch hat je­doch keine aufschiebende Wirkung. Etwaige Kosten, die aus der durch den Widerspruch be­wirkten Ausdehnung des Verfahrens resultieren, gehen zu Lasten des Beklag­ten, sofern dieser nicht gewichtige Gründe für seinen Widerspruch geltend machen kann.

Na prima! Der S.E.S.-Vermittler hat also Wort gehalten. Ich frage mich, ob dieser speckige Spinnerich jetzt wohl auch in seinem Netz sitzt und meine Signa­le abfängt – schließlich könnte ich ja untertauchen, flüchten, emigrieren, und mit mir würde sich dann auch seine fette Provision in Luft auflösen.
Noch immer schaudert es mich bei dem Gedanken, dass ich meine vermeintli­chen Selbstgespräche als Vorträge auf einer virtuellen Bühne gehalten habe, be­gafft von halbamtlichen Voyeuren wie diesem S.E-S.-Vermittler, die von ihren sicheren Logenplätzen aus das Unglück anderer verfolgen, um daraus Kapital zu schlagen. Ich frage mich, wie man auf die Idee kommen kann, dass ein Opfer solcher Machenschaften anderen das antun könnte, was es selbst erleiden musste.
Genau das war es nämlich, was dieser Schattengeldjäger von mir verlangt hat. Nachdem er die Folgen des ungesetzlichen Verschweigens meiner Schattenlosigkeit in den düstersten Farben ausgemalt hatte, fühlte ich mich wie ein Aussätziger auf dem Weg zum Schafott. Deshalb war ich zunächst drauf und dran, die von ihm angebotene Fürsprache bei der Schattenermittlungsstelle in Anspruch zu nehmen. So dubios er mir auch vorkam – er schien trotz allem meine einzige Hoffnung zu sein.
„Und was muss ich tun, damit Sie sich bei der Schattermittlungsstelle für mich verwenden?“ fragte ich ihn daher.
Auf einmal kam Leben in dieses Aktenzeichen auf zwei Beinen. „Als staatlich beauftragter S.E.S.-Vermittler verfüge ich natürlich über gewisse Annehmlichkeiten, wie sie der Staatsdienst auch heute noch mit sich bringt“, erklärte er mir. „Allerdings verrate ich Ihnen kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass man als Staatsdiener ohne feste Anstellung heutzutage finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet ist. Wir S.E.S.-Vermittler leben größtenteils von der Provision, die uns die Suche nach säumigen SLPs – das ist unser interner Jargon für ’schattenlose Personen‘ – einbringt: Je größer die Überschreitung der Meldefrist, desto höher ist unser Verdienst.“
Er beugte sich zu seiner Aktentasche herunter und hob ächzend einen Stoß Formulare auf den Tisch. „Wir haben jedoch“, fuhr er dann fort, „die Möglichkeit, von uns aufgespürte SLPs vorübergehend als Hilfskräfte zu beschäftigen, die uns bei der Ermitt­lung weiterer SLPs zur Hand gehen.
Mit der stoischen Ruhe des Bürokraten kramte er in den Formularen, bis er gefunden hatte, was er suchte. „Wenn sich die von einem S.E.S.-Vermittler aufgespürte SLP bereit erklärt, alle durch ihre eigene Ermittlungstätigkeit zu erzie­lenden Provisionen an den staatlich vereidigten Beauftragten der S.E.S. abzutre­ten, muss sie nur hier unterschreiben, und schon ist sie aller Sorgen ledig. Der S.E.S.-Vermittler leitet dann das Formular an die S.E.S. weiter, die daraufhin der betroffenen SLP einen so genannten Petentenbewährungsschein ausstellt. Dieser erlaubt es der SLP, ein Jahr lang in Diensten des zuständigen S.E.S.-Vermittlers ihre Besserung unter Beweis zu stellen.“
Er schob das Formular vor mich hin und fingerte einen Stift aus seiner Brusttasche. „Wie Sie sehen, liegt es ganz bei Ihnen, welches Schicksal Sie wählen.“ Siegesgewiss hielt er mir den Stift hin.
Ich starrte ihn sprachlos an. Es dauerte eine Weile, bis ich vollends begriff, was er von mir wollte. „Sie verlangen also von mir“, brach es dann aus mir heraus, „dass ich wie Sie im Internet herumspioniere und arme Teufel, die gerade einen schmerzlichen Verlust erlitten habe, ans Messer liefere? Da können Sie aber lange warten!“
Zugegeben – das muss man dem seltsamen Vogel lassen: Er hat sich durch meine Entrüstung nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen lassen. „Wie Sie wünschen“, kommentierte er meine Ablehnung, „es ist Ihre ganz persönliche Entscheidung.“
Damit steckte er den Stift wieder in seine Brusttasche zurück und legte das Formular auf den Stapel der übrigen Papiere. „Sie werden allerdings verstehen“, fügte er, sich vom Stuhl erhebend, hinzu, „dass ich Ihren Fall nun schnellstmöglich zur Anzeige bringen muss. Ich mache mich sonst ja selbst strafbar! Und dann kann ich natürlich für nichts mehr garantieren …“
Stehend ordnete er seine Papiere. Dabei ging er betont langsam vor und behandelte die einzelnen Blätter mit größter Sorgfalt, wie ein Pfarrer, der nach der Messe die geweihten Hostien wieder im Tabernakel verstaut. Offenbar glaubte er, mich so zum Umdenken bewegen zu können. Als er sah, dass dem nicht so war, verstaute er schließlich die Papiere in seiner Aktentasche und wandte sich zum Gehen.
Auf halbem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal um und kramte eine Visitenkarte aus seiner Tasche. Mit einer Geste gekränkter Großmut hielt er sie mir hin: „Hier – falls Sie es sich doch noch anders überlegen sollten. Heute ist es für die Meldung sowieso schon zu spät. Ich kann Ihnen also noch bis morgen früh Bedenkzeit geben.“
„Wie großzügig von Ihnen!“ entgegnete ich spöttisch, griff aber doch nach der Visitenkarte. Dann war ich ihn endlich los.

English Version

Thursday, August 3

Mail from the Shadow Investigation Agency – delivered at six in the evening by a special messenger! Apparently, they just can’t wait to start swinging the whip. It is a formal summons:

You are hereby ordered to appear at the Shadow Investigation Agency, Dept. 2, Letters C through E, at 8 a.m. on Monday, August 7. Violations of this notice may be subject to a fine of 10% of the total accumulated fine pursuant to Section 3(2) of the Shadow Loss Act. Cancellations must be made in writing. They are to be justified with a medical certificate and handed in to the SIA security guard on duty by 7:50 a.m. of the day in question at the latest.

Brown Beadle
(Administrative Assistant)

Notice of appeal: An appeal against this decision may be lodged within a period of two weeks from the date of service of this letter. However, an objection does not have any suspensive effect. Any costs resulting from the extension of the proceedings caused by the objection shall be borne by the defendant, unless the latter can provide substantial reasons for his appeal.

Well great! The SIA agent has kept his word. I wonder if this spineless spider-man is now sitting in his web and intercepting my signals. After all, I could go underground, flee, emigrate, and his fat commission would vanish into thin air along with me.

Hunting for Shadow Money

I still shudder at the thought that I held my supposed soliloquies as lectures on a virtual stage, gawked at by semi-official voyeurs like this SIA agent who, from their safe box seats, follow the misfortunes of others in order to make profit from them. I wonder how anyone can get the idea that a victim of such machinations could do to others what he himself had to suffer.
In fact, that was exactly what this shadow money hunter demanded of me. After he had painted the consequences of the illegal concealment of my shadowlessness in the darkest colours, I felt like a leper on the way to the scaffold. That is why I was initially on the verge of making use of his offered intercession at the Shadow Investigation Office. As dubious as he appeared to me – he seemed to be my only hope.
„And what do I have to do to get you to intercede for me at the Shadow Investigation Agency?“ I therefore asked him.
Suddenly, life came into this file number on two legs. „As an SIA agent commissioned by the state, I naturally enjoy certain amenities that are still part of the civil service today,“ he explained to me. „However, I’m not telling you a secret when I state that being a civil servant without a permanent job is not exactly a financially secure position these days. We SIA agents live largely on the commission we earn from finding defaulting SLPs – that’s our internal jargon for ’shadowless persons‘: the greater the overrun of the reporting deadline, the higher our earnings.“
He bent down to his briefcase and lifted a stack of forms onto the table. „However,“ he continued, „we have the possibility of temporarily employing SLPs we have tracked down as auxiliaries to help us identify other SLPs.“
With the stoic calm of a bureaucrat, he rummaged through the forms until he found what he was looking for. „If the SLPs detected by an SIA agent agree to relinquish all commissions to be earned through their own investigative work to the SIA agent, all they have to do is sign here. Then they are free of all worries. The SIA agent will subsequently forward the form to the SIA, which will thereupon issue the respective SLP with a so-called petitioner’s probation certificate. This allows the SLP to prove good conduct for one year as an aide to the relevant SIA agent.“
He thrust the form in front of me and fumbled a pen from his breast pocket. „As you can see, it is entirely up to you which fate you choose.“ He held the pen out to me, confident of victory.
I stared at him speechless. It took me a while to fully understand what he wanted from me. „So you’re asking me,“ I finally burst out, „to spy on the internet like you do, and to deliver poor devils who have just suffered a painful loss to the executioner? No way – just forget it!“
The web spy was not in the least perturbed by my indignation. „Anything you say,“ he commented on my refusal, „it’s your own personal decision.“
With that he put the pen back in his breast pocket and placed the form on top of the pile of the other papers. „You will understand, however,“ he added, rising from his chair, „that I must now report your case to the authorities as soon as possible. Otherwise I will make myself liable to prosecution! And what happens then is out of my hands.“
He stood up and sorted his papers, proceeding deliberately slowly and handling each sheet with the utmost care, like a priest who stows the consecrated hosts back in the tabernacle after Mass. Apparently he thought I would promptly regret my refusal. When he realised that this was not the case, he finally put the papers in his briefcase and turned to leave.
Halfway to the door, he paused and took a business card out of his pocket. With a gesture of offended magnanimity he held it out to me: „Here – in case you should change your mind. Today it’s too late for the report anyway. So I can give you time to think it over until tomorrow morning.“
„How generous!“ I replied mockingly, but nonetheless reached for the business card. Then I was finally rid of him.

Bilder: Hans Braxmeier: Spanische Fenster (Pixabay); Public Domain Pictures: Füße in Ketten (Pixabay)

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